Im Vorfeld der Vollversammlung des ÖRK in Karlsruhe greift Manuel Goldmann das Thema „Kirche und Judentum bzw. Israel“ auf. Seiner Ansicht nach wurzelt die europäische Theologie nach der Shoah in einer Erkenntnis, für die zwar das Erschrecken über die Shoah eine große Rolle spielt, die aber inhaltlich weit darüber hinausgeht, enthält sie doch gute Gründe, dass es sich hier um eine die ganze Ökumene angehende Umkehrbewegung handelt. Manuel Goldmann entfaltet diese Erkenntnis in 70 Diskussionsthesen.

 

Zum Thema „Israel – Palästina“ haben unlängst fünf evangelische Landeskirchen an Rhein und Ruhr einen „Gesprächsimpuls“ veröffentlicht.1 Er greift eine Grundfrage auf, die absehbar bei der bevorstehenden Vollversammlung des ÖRK in Karlsruhe eine große Rolle spielen wird, und macht dazu ein ökumenisches Gesprächsangebot, indem er eine Positionierung aus europäischer Perspektive versucht. Nun steht die europäische Theologie in Teilen der Ökumene im Ruf, aus einem Schuldkomplex im Blick auf die Schoah heraus eine positive Voreingenommenheit gegenüber dem Judentum überhaupt und dem jüdischen Staat im Besonderen zu praktizieren, die weder theologisch angemessen sei, noch den politischen Verhältnissen in Nahost gerecht werde. Gegenüber diesem Verdacht ist geltend zu machen: Die europäische Post-Shoah-Theologie wurzelt in einer Erkenntnis, für die zwar das Erschrecken über die Shoah eine große Rolle spielt, die aber inhaltlich weit darüber hinausreicht; sie beinhaltet gute Gründe dafür, dass es sich hier um eine die ganze Ökumene angehende Umkehrbewegung handelt. Die folgenden Diskussionsthesen benennen Elemente dieser Erkenntnis. Dass sie umstritten ist, ist wahr; dass der Streit um sie geführt werden muss, gerade auch ökumenisch, ist ebenso wahr – nicht zuletzt als Bewährungsprobe für den Anspruch, den das Motto der Weltversammlung geltend macht.

 1. „Ist jemand in Christus, so ist er ein neues Geschöpf. Das Alte ist vergangen, siehe, Neues ist geworden!“ (2. Kor. 5,17) So fasst Paulus das die Welt verwandelnde Versöhnungshandeln Gottes in Christus zusammen. Eine Kirche, die sich ernstlich hierzu bekennt, muss sich fragen lassen, wo dieses „Neue“ bei ihr selbst auch im zwischenmenschlichen Miteinander Gestalt gewinnt.

 2. Mit dieser Frage wurde die Kirche in der Geschichte besonders durch die jüdische Gemeinschaft konfrontiert, die im Dasein und Wirken der Christen keine messianische Erfüllung erkennen konnte – über weite Strecken vielmehr gerade das Gegenteil.

 3. Das kirchliche Dogma, Jesus sei der Messias, ist ganz überwiegend geltend gemacht und entfaltet worden, ohne die jüdische Gegenfrage nach Spuren der messianischen Welt ernstzunehmen.

 4. Stattdessen dominierte die Lehre, das jüdische Volk sei als Gottes Volk („Israel“) durch die Kirche (angeblich das „neue Israel“) ersetzt worden.

 

Bund und Erwählung

 5. Diese Lehre erleichtert es zwar, unbequeme jüdische Gegenfragen zum Messias-Dogma zu ignorieren. Sie verzerrt aber das, was die Heiligen Schriften von Gottes Bund und Erwählung und seiner Treue zu seinem Wort sagen, und entzieht damit letztlich auch der kirchlichen Verkündigung ihr Fundament.

 6. Der Bund Gottes mit den leiblichen Nachkommen Abrahams, Isaaks und Jakobs, Sarahs, Rebekkas, Leahs und Rahels ist entweder unverändert in Kraft, oder wir Christusgläubigen aus den Völkern haben keinerlei Basis, für uns selber auf Gottes Treue zu hoffen, die größer ist als alle menschliche Schuld.

 7. Zum Bund Gottes mit Israel gehört von vornherein die Polarität von partikularem und universalem Geschehen. Der Gott Israels ist der Schöpfer der Welt. Und die Hoffnung auf Erlösung dieser Welt ist untrennbar mit Gottes Verheißungen für das Volk Israel verbunden.

 8. Die Rede von der Erwählung ist der Prüfstein jeder biblisch basierten Theologie. Hier zeigt sich, ob sie mit der Souveränität Gottes rechnet oder Gott nur nach ihren Wünschen definiert.

 

Entfremdungsgeschichte

 9. Dennoch waren bereits in den ersten Jahrhunderten der Kirchengeschichte Stimmen zu vernehmen, die die Enterbung und Ersetzung Israels durch die Kirche behaupteten. Diese Stimmen wurden schnell dominant und prägten die Lehrentwicklung von früher Zeit an.

10. Der Anteil und Einfluss jüdischer Christusgläubiger ging in der Alten Kirche rapide zurück; dafür dominierten immer mehr die Stimmen der Gläubigen aus den Völkern. Viele jüdische Gruppen wurden aus der Kirche herausdefiniert.

11. Jüdinnen und Juden, die sich taufen ließen, lebten dann zu den Konditionen, die die heidenchristlich dominierte Kirche als Norm ausgab. Die hier liegende Entfremdung von der messianischen Ekklesia aus Juden und Gojim, wie sie etwa Paulus vor Augen hatte, ist in ihrer Tragweite kaum zu überschätzen.

12. Das Bewusstsein, als Kirche an die Stelle Israels getreten zu sein, äußert sich bis heute nicht nur in Form expliziter Polemik. Ebenso und noch viel verbreiteter zeigt es sich in der Israelvergessenheit einer kirchlichen Theologie, die in Exegese und Dogmatik, Ethik und Praktischer Theologie ohne konstitutiven Bezug auf jüdische Wirklichkeit meint auskommen zu können.

13. In diesem Sinn ist die christlich-theologische Judenfeindschaft von ihren Wurzeln her ein Problem der weltweiten Ökumene – auch, wenn sie im Bereich der europäischen Kirchen besonders extreme praktische Folgen hatte, bis hin zur Beteiligung an der Shoah.

 

Shoah

14. Das Erschrecken über die versuchte Ausrottung des jüdischen Volkes in der Nazi-Zeit und über die kirchliche Mitverantwortung dafür hat allmählich ein theologisches Umdenken ausgelöst, das mehrere Ebenen umfasst:

 a) die Einsicht in die fundamentale Verleugnung des Evangeliums durch systematisches „Teaching of Contempt“ (Jules Isaac)

 b) die Sensibilisierung für jüdische Wirklichkeit, die zu den überlieferten, antijüdischen Klischees oft in extremem Gegensatz steht

 c) die Erkenntnis, dass das Reden über Juden ohne ein Gespräch mit ihnen diese Entfremdung erst ermöglicht hat; Umkehr muss darum hier ansetzen.

15. Wo das Gespräch mit jüdischen Menschen eingeübt wurde, haben sich neue Horizonte erschlossen, die für unser theologisches Lernen, gerade auch in der Exegese, kostbar und von großer Tragweite sind.

 

Bibel

16. Die Heilige Schrift ist nach evangelischer Überzeugung norma normans aller Theologie. Sie bleibt die Quelle, aus der immer neu geschöpft werden muss. Alle spätere Lehrbildung – auch die der Ökumenischen Konzile – ist darum immer wieder von exegetischen Einsichten her zu überprüfen und in ihrem Licht weiterzuentwickeln.

17. Fast alle unsere theologischen Grundbegriffe haben, soweit sie biblisch sind, ein israelitisch-jüdisches Profil. Wir verlieren nicht, sondern wir gewinnen, wenn wir dieses Profil in unsere Bemühung um die Schrift einbeziehen.

18. Die unhintergehbare Vielstimmigkeit und Multiperspektivität der Heiligen Schrift trifft in der jüdischen Tradition auf eine Auslegungskultur, die diese Vielfalt in herausragender Weise wertschätzt, ernstnimmt und fruchtbar macht.

19. Die Freude an der Schrift, die der Midrasch atmet, kann auch ein christliches Hören auf die Schrift – AT wie NT – neu beflügeln.

20. Umgekehrt verstellen wir uns wesentliche Zugänge auch zum NT, wenn wir uns weigern, jüdische Umgangsweisen mit der Heiligen Schrift wahrzunehmen und von ihnen zu lernen.

 

Christologie

21. Das dem Volk Israel offenbarte Wort Gottes wurde nach kirchlichem Bekenntnis in Christus „Fleisch“: leibhaft präsent in diesem einen Menschen.

22. Für die ntl. Zeugen ist dabei selbstverständlich, was in der späteren Dogmenentwicklung tendenziell aus dem Blick geriet: Das Wort Gottes wurde jüdisches Fleisch.

23. Dies ist kein austauschbares, zufälliges Prädikat, sondern theologisch wesentlich. Im jüdischen Volk kommt Gottes Wort zur Welt; und der konkrete jüdische Mensch, Jeschua Sohn der Mirjam, verkörpert es in für uns einzigartiger Weise.

24. In der Christologie verdichtet sich somit die Spannung von partikular und universal, die schon in der Erwählung Israels wirksam ist: Nicht nur mit einem Volk verbindet sich Gott, um es zum Segen für alle Völker zu machen; sondern innerhalb des erwählten Volkes bindet er sich an diesen einen, seinen besonderen Knecht, um ihn zum Licht der Völker zu machen: „dass mein Heil reiche bis an die Enden der Erde.“ (Jes. 49)

 

Rechtfertigung

25. Das Evangelium von der „Gerechtigkeit Gottes“, das Paulus verkündigt, verbindet die Gläubigen aus den Völkern mit dem jüdischen Volk, weil es sie zu dem Gott in Beziehung stellt, der zuerst und bleibend der „Gott Israels“ ist.

26. Für Paulus ist die Rechtfertigungsbotschaft die Antwort auf die brennende Frage: Wie kann es im Einklang mit der Torah sein, dass auch Nichtjuden zum Gott Israels finden?

27. Die Antwort findet er in der Erzählung der Torah vom Vertrauen Abrahams (Röm. 4). Wer sich, wie Abraham, in solchem Vertrauen Gott überlässt, der wird ihm gerecht – unabhängig von der nur für das jüdische Volk geltenden Verpflichtung auf spezifische Einzelgebote.

28. So wird der Glaube (der in biblischer Sprache „Vertrauen“ wie „Treue“ umfasst) zu der entscheidenden Größe, die das jüdische Volk und Menschen aus der Völkerwelt vor Gott verbindet und ihre Gemeinschaft ermöglicht.

29. Indem die Glaubenden aus den Völkern zum Gott Abrahams, Isaaks und Israels finden, werden sie zugleich mit seinem Volk verbunden. Sie können nicht einerseits seine Treue und sein Erbarmen für sich in Anspruch nehmen, es andererseits aber denen absprechen, die vor ihnen schon sein Volk waren und in seinen Bund gestellt sind (Röm. 9,4-5). Die Kirche würde sich darum von ihrer eigenen Wurzel abschneiden, wenn sie etwa antijüdisch würde (Röm. 11,17-21).

30. Der Widerspruch der jüdischen Mehrheit zur messianischen Begeisterung der Jesus-Gemeinschaft, so schmerzlich er sein mag, muss in Demut und Liebe ausgehalten werden – um der Treue Gottes willen (Röm. 9,1f; 11,29-32).

31. Dieser Widerspruch fordert die Christen nicht etwa zur „Judenmission“ heraus, sondern dazu, ihr Bekenntnis von der angebrochenen messianischen Zeit so überzeugend zu leben, dass jüdische Menschen aufhorchen und in der christlichen Praxis etwas von ihren eigenen Hoffnungen wiedererkennen (Röm 11,11).

 

Mission

32. Die großen Worte kirchlicher Lehre waren in der Geschichte so oft mit einer abstoßenden Praxis (Diffamierung, Diskriminierung, Verfolgung und Ermordung) gerade auch gegenüber Jüdinnen und ­Juden verbunden, dass sie schon darum ihre Kraft und Glaubwürdigkeit vorläufig weithin verloren ­haben.

33. Der Gedanke einer christlichen Missionsarbeit unter jüdischen Menschen impliziert außerdem, dass diese – analog allen anderen Adressat*innen christlicher Mission – mit dem wahren Gott erst bekannt gemacht werden müssten: Eine Anmaßung, die nicht nur der christlichen Mission die Türen verschließt, sondern die vor allem die Ausgangssituation grundlegend verkennt.

34. Die Mission der Kirche gerade in Beziehung zum jüdischen Volk muss darum vorrangig in Einem bestehen: in ihrer messianischen Praxis, die etwas aufscheinen lässt von dem „Neuen“, das in Christus wirklich geworden ist (Röm. 11,11; 2. Kor. 5,17-20).

 

Land und Staat Israel

35. Laut der Heiligen Schrift gehört zu Gottes Gabe und Aufgabe an sein Volk die Gestaltung des Lebens in dem Land, das er ihm zugesprochen hat.

36. Im Landbezug stößt jede rein universalistische Theologie an eine harte Grenze: Gott erwählt nicht nur ein bestimmtes Volk zu seinem Volk, sondern weist diesem Volk auch noch ein konkretes Land zu, damit Israel darin seiner Berufung zum Segen und Licht der Völkerwelt entsprechend lebt.

37. Indem Gott sich so in eine besondere Beziehung zu einem Volk und einem Land begibt, kommt die tiefe Ambivalenz menschlichen Daseins überhaupt ans Licht – und zwar ans Licht der Offenbarung. Zur Berufung Israels gehört es, mit dieser Ambivalenz im Licht der Offenbarung umzugehen (Michael Wyschogrod).

38. Die Landgabe ist in der Bibel elementar verbunden mit der Forderung nach Gerechtigkeit gegenüber allen im Land Lebenden. Die rabbinische Auslegung bringt diesen Zusammenhang vielerorts besonders zur Geltung.

39. Die jüdische Wirklichkeit ernstzunehmen, bedeutet auch, uns dem zu stellen, dass „Eretz Jisrael“ in der jüdischen Tradition durch alle Jahrhunderte ein wesentlicher Bezugspunkt war und ist.

40. Die zionistische Bewegung mit ihrem emanzipatorischen Ursprungsimpuls ist nicht ohne diesen Bezugspunkt zu verstehen.

41. Zugleich bricht hier das Konfliktpotenzial, das mit der Landverheißung gegeben ist, in extremer Weise auf, gerade im ökumenischen Gespräch. Die Frage steht bedrängend im Raum: Wie sieht eine Hermeneutik der Landverheißung aus, die das biblische Erbe einerseits und die Grundsätze des Menschen- und Völkerrechts andererseits zukunftsweisend miteinander verbindet?

42. Diese Frage drängt umso mehr, als viele Fakten, die von der israelischen Politik seit Jahrzehnten geschaffen werden, die Lebensmöglichkeiten der Palästinenserinnen und Palästinenser, die geschichtlich und theologisch ebenfalls existenziell mit dem Land verbunden sind, systematisch und völkerrechtswidrig unterminiert und in Frage stellt.

43. Für das Ringen mit diesem Konfliktthema ist elementar, dass Kritik an politischen Weichenstellungen des Staates Israel – wie auch denen der Palästinensischen Autonomiebehörde – grundsätzlich eine legitime, wichtige und vielfach sehr nötige Option ist.

44. Eine religiöse Überhöhung des Staates Israel und seiner Politik ist dagegen in dieser Auseinandersetzung ebenso verfehlt und verhängnisvoll wie seine Dämonisierung durch bestimmte Kritiker.

45. Gerade weil an der Hoffnung auf ein friedliches Miteinander beider im Land lebenden Völker festzuhalten ist, muss denjenigen fundamentalistischen Strömungen auch im Christentum scharf widersprochen werden, die den zionistischen Grundgedanken in den Dienst einer triumphalistisch-einseitigen, gewalthaltigen Theologie stellen.

46. Wie schon die falschen Propheten in biblischer Zeit rufen sie „Schalom, Schalom!“, aber in Wahrheit verhindern sie Versöhnung und Frieden. Denn sie lenken von der Notwendigkeit zur Umkehr ab, ohne die der Schalom nur verfehlt werden kann.

47. Die innerisraelischen Debatten etwa um die Bestimmung Israels als „jüdischer Staat“ machen deutlich, dass solch ein Umkehr-Impuls als Störfaktor dort lebendig ist – auch und gerade angesichts einer immer stärkeren Radikalisierung der von der Mehrheit getragenen Politik.

 

Versöhnung und Kontextualität

48. Jede Verständigung über den Nahostkonflikt in der Ökumene ist davon geprägt, dass aus tief verschiedenen, ja gegensätzlichen Kontexten heraus gedacht und argumentiert wird. Diese bewusst zu machen, ist grundlegend für eine Auseinandersetzung, die über einen die Gräben nur vertiefenden Schlagabtausch hinausführen soll.

49. Im europäischen Kontext ist die Aufklärung (auch als Konsequenz aus den Konfessionskriegen) ein bestimmender Faktor: Historische Kritik schärfte den Blick für die Geschichtlichkeit unserer Tradition, auch und gerade der kirchlichen Tradition.

50. Die Einsicht in die geschichtliche Bedingtheit der Überlieferung weckte grundsätzlich die kritische Frage nach begründeten Alternativen – zumal, wenn sich aufweisen lässt, dass ethisch so problematische Grundmotive wie die Verachtung jüdischer Menschen in Wort und Tat jahrhundertelang fester Bestandteil dieser Tradition waren.

51. Die europäische Perspektive ist sodann in besonderer Weise geprägt von dem Erschrecken über die Verwicklung der abendländischen Kultur in die lange Geschichte des Antijudaismus, die der Shoah den Boden bereitet hat.

52. Als europäisches Erbe ist in diesem Zusammenhang schließlich auch die Entstehung des Antisemitismus im 19. Jh. zu nennen, der die in Kirche und Gesellschaft seit langem verbreitete Judenfeindschaft aufnahm und sie durch Anwendung biologistischer Kategorien zur (letztlich säkularen) Ideologie transformierte.

53. Die Überforderung durch die Komplexität der neuzeitlichen Welt fand und findet in der antisemitischen Ideologie ein Ventil, indem hinter allen Problemen „der Jude“ am Werk gesehen wird. Mit seiner Irrationalität entzieht sich der Antisemitismus jeder Überprüfung oder Kritik; mit seiner dualen Weltsicht bedient er zugleich ein elementares psychisches Bedürfnis.

54. Wo antisemitische Muster im Denken, Reden und Handeln Raum gewinnen, wird ein Weg beschritten, der schon einmal in den Zivilisationsbruch des Holo­caust geführt hat.

55. Wenn darum auch im ökumenischen Gespräch zum Thema Palästina-Israel Argumentationsmuster gebraucht werden, in denen (bewusst oder unbewusst) antisemitische Stereotype nachwirken, wird dadurch im europäischen Kontext das weitere Gespräch für diejenigen extrem erschwert, die nach Umkehr aus den Abwegen der abendländischen Judenfeindschaft suchen.

56. Hingegen steht für die Kirchen, die im nahöstlichen Kontext leben, eine ganz andere, katastrophale Erfahrung dominant im Raum: die mit der Gründung des Staates Israel einhergehende Einschränkung oder Bestreitung des Rechtes von Palästinenser*innen, in ihrer Heimat selbstbestimmt zu leben.

57. Die kriegerische Gewalt im Zusammenhang mit der Staatsgründung, ausgelöst durch einen Angriffskrieg der arabischen Nachbarstaaten auf den neu proklamierten jüdischen Staat, führte vielfach zur Vertreibung der muslimischen und christlichen Bevölkerung. Die von der späteren israelischen Besatzungs- und Siedlungspolitik geschaffenen Fakten erleben die von ihr Betroffenen vielfach als eine Fortsetzung dieser Gewalt. Daher wird aus palästinensischer Sicht die Gründung des Staates Israel militärisch, kulturell und sozial als „die Katastrophe“ („Al Naqba“) empfunden und bezeichnet.

58. Vor diesem Hintergrund stehen die Begriffe „Israel“ oder auch „Jude“ für palästinensische Ohren tief im Schatten der Al Naqba-Erfahrung. Eine unbefangene oder gar positive Verwendung dieser Begriffe ist allenfalls gegen große psychologische Widerstände möglich.

59. Das wirkt sich auch auf die Bemühungen seitens der kleinen christlich-palästinensischen Minderheit aus, die Situation vor Ort theologisch zu reflektieren.

60. Jede affirmative Bezugnahme auf Israel oder Judentum, wie sie zum einen in der Bibel, zum anderen in den Kreisen des christlich-jüdischen Dialoges, aber eben auch bei manchen evangelikalen Strömungen eines „christlichen Zionismus“ und anderen (christlichen wie jüdischen) Fundamentalisten verbreitet ist, erschwert für christliche Geschwister aus dem palästinensischen und nahöstlichen Kontext das Gespräch extrem.

61. Solche Kontextualität bestimmt maßgeblich unsere theologischen Perspektiven. Schon die beim Thema „Israel und Palästina“ aufbrechenden Spannungen und Konflikte lassen ahnen, wie kühn die These im Motto der ökumenischen Weltversammlung von der Liebe Christi, die die Welt zu Versöhnung und Einheit bewegt, in Wahrheit ist.

62. Umso mehr nimmt sie die beteiligten Kirchen in die Pflicht, sich selber dieser Versöhnung auszusetzen: auch und gerade indem sie über die Grenzen ihrer unterschiedlichen Kontexte hinweg beharrlich aufeinander hören, teilen und ggf. auch streiten.

63. In der noch nicht erlösten Welt, in der auch die Kirchen der Ökumene unterwegs sind, schließt die Botschaft von der Versöhnung auch fordernde und mühsame Lernprozesse ein: auch in der Weise, dass wir gegensätzliche Kontexte achten und sie in einer Weise aufnehmen, die auf die Absolutsetzung nur einer Perspektive verzichtet.

64. Menschliche Versöhnung als Folge von Gottes Versöhnungshandeln setzt also nicht voraus, dass Gegensätze bereits überwunden sind, sondern sie gewinnt gerade da Gestalt, wo mit Gegensätzen in einer Weise umgegangen wird, die ihnen nicht das letzte Wort lässt, sondern im anderen trotz allem Gottes Ebenbild achtet und sucht.

 

Ökumene und das jüdische Volk

65. Jahrhundertelang wurde dagegen kirchlicherseits der jüdische Weg als Inbegriff des Gegensatzes zur eigenen Glaubenswahrheit betrachtet – und bekämpft.

66. Zweifellos bedeutet die Tatsache, dass jüdische Menschen in der kirchlichen Verkündigung ihre eigene, prägende Hoffnung so wenig wiedererkennen konnten und können, eine tiefe Anfrage an die Kirche.

67. Aber nur, wo diese Anfrage nicht bekämpft oder übergangen, sondern wo ihr standgehalten wird, kann auch die Umkehr erfolgen, die der Botschaft von der Versöhnung eines Tages – so Gott will – neue Glaubwürdigkeit verleihen wird.

68. Was Gottes Versöhnung bedeutet, und wer der versöhnende Gott selber ist, erkennen wir an den Menschen, mit denen er sich nach biblischem Zeugnis verbindet; damit kommt, in der Mitte der Völkerwelt und zugleich unterschieden von ihr, zuerst und bleibend das Volk Israel in den Blick.

69. Denn der Gott, der in Christus die Menschenwelt mit sich versöhnt, ist laut Paulus ja kein anderer als der Gott Israels.

70. Am Verhältnis zum Judentum entscheidet sich darum elementar, ob die weltweite Kirche die Versöhnung, die sie ausruft, in ihrem Ernst und in ihrer Tragweite begriffen hat und sich zumindest selber von ihr „bewegen“ lässt.

 

Anmerkung

1 Israel – Palästina. Leitgedanken und erläuternde Thesen. Ein Gesprächsimpuls aus den fünf Landeskirchen Baden, Hessen und Nassau, Pfalz, Rheinland sowie Westfalen, 3.11.2021.

Über die Autorin / den Autor:

Pfarrer Dr. Manuel Goldmann, Jahrgang 1961, Studium der Evang. Theologie und der Judaistik in Göttingen, Heidelberg und Jerusalem, Promotion über hermeneutische Grundfragen im christlich-jüdischen Verhältnis ("?Die große ökumenische Frage ?? - Zur Strukturverschiedenheit christlicher und jüdischer Tradition und ihrer Relevanz für die Begegnung der Kirche mit Israel", ­Neukirchen 1997), aktuell Gemeindepfarrer bei Hanau, zugleich Beauftragter der Evang. Kirche von Kurhessen-Waldeck für christlich-jüdische Begegnung.

Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 8/2022

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