Es sollte ein gigantisches Alpenpanorama werden, das der italienische Maler Giovanni Segantini (1858-1899) für die Weltausstellung in Paris im Jahr 1900 entwarf. Da das Projekt zu teuer wurde und sich namhafte Sponsoren wieder zurückzogen, blieb es unverwirklicht. Was Segantini in seinen letzten Lebensjahren dann realisierte, war ein Triptychon der Engadiner Bergwelt, bestehend aus drei großformatigen Gemälden – das größte, mittlere misst 235 x 403 cm (https://img.engadin.stmoritz.ch/object/6556749/original.jpg).

Gemalt in dem für seine späten Schaffensjahre typischen Stil des Divisionismus, eine Spielart der französischen pointillistischen Malerei, zeigen die Bilder drei Bergszenen in flirrend-schillernder indirekter Beleuchtung; die Abendsonne steht unter dem Horizont und taucht Berggrate und -gipfel in ein mystisch-geheimnisvolles Licht und lässt die Täler, Almen und Dörfer im hereinbrechenden Schatten verschwinden.

Das Triptychon ist gleichermaßen eine Hommage an die unverrückbar und – so scheint es – in ewiger Majestät dastehenden Bergmassive, während vor ihrer Kulisse das Leben der Menschen, eingebettet in die Rhythmen von Tag und Nacht sowie Frühling, Sommer, Herbst und Winter, vorüberzieht. Segantini hat den Bildern die Titel „Das Leben“, „Die Natur“, „Der Tod“ oder auch „Werden“, „Sein“, „Vergehen“ zugeordnet. Heute hängen die Gemälde des Triptychons in einem Kuppelsaal des 1908 zu Ehren des oberitalienischen Meisters erbauten Gedenkmuseums vor den Toren von St. Moritz.

Das linke Bild zeigt eine alpine Hochalmlandschaft mit Kühen vor einer Wiese an einem kleinen Bergtümpel. Auffällig ist die links in einem nicht näher definierten Licht sitzende Frau mit einem kleinen Kind, das sie vor ihrer Brust birgt. Die Assoziation einer Madonnendarstellung drängt sich auf. Im Mittelgrund sehen wir einen Bauern, der ein Kalb mit Stockschlägen auf dem Weg vorantreibt, rechts auf dem Weg zwei heimkehrende Frauen, die ihre Kinder in Körben auf dem Rücken tragen.

Im Mittelstück des Triptychons ziehen ein Bauer und eine Bäuerin mit ihrem Milchvieh auf einer Hochebene am Betrachter vorbei, gebeugt, die Köpfe unterhalb des gezackten Bergmassivs im Hintergrund, hinter dem die Abendsonne untergegangen ist und ihre Strahlen über einen nahezu wolkenlosen Himmel schickt, der fast zwei Drittel des Bildes ausfüllt.

Das rechte Bild zeigt eine Winterlandschaft in den Bergen. Am rechten Bildrand wird ein in weißes Laken eingehüllter Leichnam aus einem Haus getragen. Eine Gruppe trauernder Frauen säumt den Weg, der zu einem von einem Pferd gezogenen Schlitten führt. Über dem Bergmassiv, das bereits ins Abendlicht getaucht ist, thront ein mächtiges, gelb angestrahltes Wolkengebilde.

Werden, Sein, Vergehen – menschliches Leben in der Einfachheit und Kargheit bäuerlichen Lebens im Hochgebirge, aber auch in stiller und bescheidener Eintracht mit der Natur und ihren Vorgaben: das ist das Thema dieses letzten großen Werks von Giovanni Segantini. Ich bin lange vor diesen drei Bildern gesessen, habe das Leben, von dem der italienischen Maler erzählt, an mir vorüberziehen lassen, die Vergänglichkeit dieses und auch des eigenen Daseins, gleichsam von einer Empore aus, erspürt.

Und dann hat mich in jenem Kuppelsaal des Segantini-Museums etwas fasziniert, das nicht in Segantinis Triptychon enthalten ist, aber im Grunde dazugehört, vor allem im Blick auf die Lichtwolke im Todesbild: Das Licht, das den Kuppelsaal mit seinen Bildern erhellt, strömt aus einem Fensterfries über der Galerie – gerade so, als wolle uns die Architektur dieses Raums daran erinnern, dass das entscheidende Licht unseres Daseins eben nicht aus der Natur, der Schöpfung und dem in ihr sich entfaltenden wie vergehenden Leben stammt, sondern aus einer anderen Wirklichkeit, einer diese Bilder und ihre Welt transzendierenden Dimension; so wie auch das Licht von Ostern und der Auferstehung Jesu das erzählte Leben von ihm und seinen Jüngerinnen und Jüngern überstrahlt …

Es grüßt Sie Ihr

Peter Haigis.

 

Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 3/2024

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