Angenommen, Sie würden diese Seite leer finden, also kein Editorial an dieser Stelle von mir lesen, sondern einfach gar nichts; es würde einfach nichts hier stehen, nichts zu lesen geben –, dann würden Sie möglicherweise einen redaktionellen Irrtum oder ein technisches Versehen vermuten. Sie würden vielleicht denken: die Druckmaschine hat nicht korrekt funktioniert; doch das ist unwahrscheinlich, wenn es nur diese eine Seite betrifft (wir drucken acht Seiten auf einem Bogen). Oder sagen wir, Sie würden auf dieser Seite nur mein Bild und meine Unterschrift sehen, aber keinen Text und keine Überschrift, dann würden Sie vielleicht vermuten, dass mein Text versehentlich nicht gesetzt wurde oder aber – im schlimmsten Fall – dass mir in diesem Monat schlicht und ergreifend nichts eingefallen ist, worüber ich hätte schreiben können. Aber, so würden Sie vielleicht weiter denken, dann hätte der Haigis doch wenigstens ein kluges Zitat bringen können oder ein schönes Gedicht oder den Inhalt des Heftes kommentieren – aber so gar nichts?
Es ist eine amüsante Vorstellung, dass wir ein Versehen, einen Fehler, einen Irrtum annehmen, wenn wir irgendwo über nichts stolpern, wo eigentlich etwas sein sollte (und es sollte ja im Grunde immer und überall etwas zu erwarten sein; nichts gibt es nicht!). „Die Stille darf nicht zu lange sein“, erinnere ich den Kommentar eines Hörfunkredakteurs, als ich bei einer meiner ersten Rundfunkandachten (über das Schweigen) in den 1990er Jahren einen Moment des schweigenden Innehaltens vorgesehen hatte. „Sonst denken die Leute, es sei Sendepause oder ihr Empfangsgerät sei kaputt.“
Wir leben in Zeiten medialer Dauerberieselung. Man spricht bisweilen auch vom Informations- und Unterhaltungsinfarkt. Da sind Stille und Schweigen nicht nur schwer auszuhalten, sondern zunächst einmal Fehlanzeigen, eine Art Webfehler oder mehr noch: ein Loch im Klangteppich, ein blinder Fleck im Bilderrauschen: horror vacui. – Schwer auszuhalten!
Es gibt jedoch Zeiten, in denen „nichts“ oder wenigstens „fast nichts“ regelrecht gut tut. Zeiten, wo man diese Enthaltung nicht nur als etwas Befreiendes oder Erlösendes erlebt, sondern sie geradezu sucht. Die Fastenzeit ist eine solche Zeit der Enthaltsamkeit, des Loslassens, des Sich-Lösens, auch eine Zeit innerlicher Befreiung. Und manchmal kommt es dabei zu einer „heiligen Leere“ (Paul Tillich).
Die Lehrer der Mystik empfehlen immer wieder Methoden, die weniger auf ein bestimmtes Tun als vielmehr auf ein allgemeines Nicht-Tun zielen. Auch für die Erfahrung des Geistes Gottes in unserer Wirklichkeit werden wir unter Umständen empfänglicher, wenn es uns gelingt, die Dinge des alltäglichen Lebens für eine begrenzte Zeit loszulassen, die üblichen „Besorgungen“ zu unterlassen. So sind viele spirituelle Übungen Methoden des Loslassens, der Ent-Spannung, des Schweigens (also Nicht-Redens), des Fastens (also Nicht-Essens), des Meditierens (also Nicht-Denkens). Derlei Enthaltsamkeit schafft heilsame Unterbrechung, sie gibt Freiheit für Seele, Geist und Sinne und sie eröffnet neue Wahrnehmungen, also Raum für neue Fülle.
…
Aber jetzt habe ich schon wieder viel zu viel geschrieben und wollte doch eigentlich nichts schreiben, fast nichts jedenfalls. Ich wünsche Ihnen eine gesegnete Fastenzeit.
Ihr
Peter Haigis.
Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 3/2023