Am 22. April jährt sich der Geburtstag Immanuel Kants zum 300. Mal. Anlass genug für eine Reihe von geisteswissenschaftlich orientierten Fachzeitschriften sowie Feuilletonredaktionen, den großen Gelehrten aus Königsberg angemessen zu würdigen. Und so ganz ohne Querverweis darf das Datum auch bei uns nicht vorübergehen.

Die Rezeption des philosophischen Werkes Kants verbindet sich vor allem mit dem Stichwort der Vernunft: Kant hat in umfangreichen Abhandlungen skizziert, wozu die menschliche Vernunft bestimmt und wozu sie in der Lage ist (bzw. auch nicht in der Lage). Dass dieser bedeutende Philosoph damit zugleich denkerisch auf den Punkt brachte, was eine ganze Geistesepoche prägte, die den Namen „Aufklärung“ erhielt, steht nicht in Frage. Welche Rolle die Vernunft jedoch im Geistesleben des Menschen, ja weiter noch: in seinem Existenzvollzug spielt, sollte die Nachfahren Kants nachhaltig beschäftigen.

Wie hoch sollen wir sie schätzen, diese „Geistesgabe“ der Vernunft? In der auf Kant folgenden Organisation des Wissens – zumal im naturwissenschaftlichen Bereich – schien die von Kant erhellte theoretische Vernunft ihre königliche Rolle voll auszuspielen. Freilich wissen wir heute, dass auch die vernunftbasierte Wissenschaft nicht mehr uneingeschränkten Anspruch auf Durchsetzung des von ihr geführten Wahrheitserweises erheben kann. Dieser wird vielmehr durch das leitende Interesse gelenkt, gebremst, gefiltert. Wahrscheinlich würden Kant angesichts der Deformierbarkeit von vernunftorientierter Wahrheit in Zeiten medialer Manipulierung die Haare aus der Perücke fallen.

Dass die Vernunft zugleich ihre praktische Dimension zur vollen Entfaltung bringen könne, war aller­dings von Anfang an durch größere Hemmnisse gefährdet. Die Entwicklung einer evidenzbasierten Ethik, die auf der Unwiderlegbarkeit des kategorischen Imperativs ruht, blieb im Formalen ­stecken. Sobald es an die Inhalte ging, spielten auch Werte, Absichten, Konventionen und emotive Zustände mit.

Es gibt eben doch einen garstigen Graben zwischen Einsehen, Wollen und Vollbringen – wenn nicht sogar zwei garstige Gräben. Zwischen das Handlungskonzept aus (vernünftiger) Einsicht und dem Vollzug konkreten Handelns tritt ein ganzes Bündel von menschlich, allzumenschlichen Motivlagen, die den glatten Siegeszug der Vernunft korrumpieren.

Ob vernünftige Einsicht in menschlichem Handeln zum Zuge kommt, ist eine Frage der Entscheidung – und des „guten Willens“. Freilich, das wusste auch schon Kant, der die antike Devise „sapere aude“ eines Horaz mit der Aufforderung „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen“ übersetzte und zum Wahlspruch der Aufklärung machte. Vernunft mag eine Gabe an das Humanum sein, doch vom Himmel fällt sie nicht, jedenfalls nicht im Sinne vernünftiger Zustände. Die müssen auch gewollt, ja erstritten sein – und das braucht Mut und Selbstüberwindung. Ohne Courage ist alle Vernunft nur die halbe Miete.

Dass Kant bei seinem Rekurs auf den „eigenen (!) Verstand“ nicht den bedrohlichen Zerfall politischer Systeme durch radikalen Individualismus fürchten musste, hängt wiederum mit seinem Verständnis von Vernunft zusammen, denn der „eigene Verstand“ tickt ja nicht anders als der des Nächsten – es kommt lediglich darauf an, davon auch Gebrauch zu machen, anstatt die Handlungsoptionen vollends der Angst, der Tradition, der Willkür oder einer Lobby zu überlassen.

Herzlich grüßt Sie Ihr

Peter Haigis.

 

Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 4/2024

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