Der sog. Missionsauftrag Jesu, vor allem in der Fassung von Mt. 28, ist ein Schlüsseltext für die Frage nach der missionarischen Tätigkeit christlicher Kirchen bzw. Gemeinden. Doch wie kann und soll dem missionarischen Auftrag der Kirche nachgegangen werden? Andreas-Christian Heidel will die Frage nach der Bedeutung einer missionarischen Existenz der Kirche von jenem Schlüsseltext her beleuchten und dabei in grundlegender Weise aufzeigen, inwiefern der missionarische Auftrag der Kirche in ein unumgänglich mehrdimensionales Denken und Handeln führt.

 

1. Der Missionsauftrag als apostolische Existenz der Kirche

Der Missionsauftrag Jesu an seine Jünger beschließt das Matthäusevangelium, das seinen narrativen Abschluss in der Schilderung des Endes der irdischen Präsenz des Sohnes Gottes findet (Mt. 28,16-20): „Die elf Jünger aber gingen nach Galiläa, an den Berg, wohin Jesus sie bestellt hatte. Und als sie ihn sahen, warfen sie sich vor ihm nieder; einige aber zweifelten. Und Jesus trat hinzu und redete mit ihnen und sprach: Mir ist alle Macht gegeben im Himmel und auf Erden. Geht nun hin und macht alle Nationen zu Jüngern, indem ihr diese tauft auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes und sie lehrt alles zu bewahren, was ich euch geboten habe!“

Dabei kommt dieser Szenerie eine heilsgeschichtliche Schlüsselfunktion zu: Der Auftrag des Sohnes ist in seiner irdischen Gestalt erfüllt, sodass er nun – bis zu seiner Wiederkunft – zurück in die Wirklichkeit des Vaters kehrt, um dort, nach einheitlichem ntl. Bekenntnis, zur Rechten Gottes seinen Herrschaftsplatz einzunehmen.1 Doch das Ende seines irdischen Wirkens ist nicht das Ende dieser Geschichte. Vielmehr setzten alle drei Synoptiker hier einen Doppelpunkt: Die rettende Wirklichkeit des Evangeliums soll überall vernommen werden: „in Jerusalem als auch in ganz Judäa und Samaria und bis an das Ende der Erde“ (Apg. 1,8).

Mit diesem Auftrag Jesu geht zugleich eine Bevollmächtigung seiner Jünger einher. Sie, die Apostel, sind es, auf deren Zeugnis, Bekenntnis und Lehre er die Schar seiner Nachfolger bauen wird2 – die sich versammelnde Gemeinschaft () derer, die in dieser Welt zu ihm, dem Herrn, gehören (). Damit geschieht ein Doppeltes: Jesus hinterlässt der Welt seine Apostel und auf dem Fundament ihrer Autorität seine Kirche. Und zugleich hinterlässt er seine Apostel und auf dem Fundament ihrer Autorität seine Kirche in der Welt.

Die Kirche in der Welt befindet sich in einem „Ist“- und „Soll“-Zustand zugleich. Sie findet sich als Teil einer Wirklichkeit in ebendieser Wirklichkeit wieder, der sie nicht entfliehen kann, obwohl sie sich eigentlich als Teil einer anderen Wirklichkeit zugehörig weiß, denn sie weiß ihr wahres Bürgerrecht im Himmel (Phil. 3,20; Eph. 2,19; Hebr. 13,14; 1. Petr. 1,4; ferner 2. Kor. 5,9). Darin besteht unweigerlich ihr „Ist“-Zustand.

Zugleich soll sich die Kirche als Gabe Gottes an die Welt aus deren Wirklichkeit auch gar nicht zurückziehen. Die Kirche ist nicht nur in der Welt, sie soll sich auch der Welt bewusst zuwenden. Sie hat eine im wahrsten Sinne des Wortes apostolische Existenz als Gesandte zu allen Völkern. Diese Sendung ist ihr „Soll“-Zustand. Und dieser „Soll“-Zustand, diese apostolische Existenz ist der Auftrag, den Jesus zum Beginn dieser Zwischenzeit, der Zeit zwischen seinem ersten und zweiten Kommen, an seine Jünger und an die aus deren Autorisierung erwachsende Kirche erteilt: – „Macht [alle Nationen] zu Jüngern!“

 

2. Das Ziel der apostolischen Existenz der Kirche

Mit  ist das Ziel des Auftrages Jesu eindeutig bestimmt: Es geht darum, Menschen zu seinen Nachfolgern zu „machen“. Dabei geht die Nachfolge, in die Jesus ruft, über die frühjüdisch bekannte Bedeutung dieses Begriffs weit hinaus. Man konnte sich einem Toralehrer als Jünger (; hebr. )mit durchaus verbindlichem Ausmaß anschließen.3 Doch Jesus ruft nicht „nur“ in ein geistiges Vertrauensverhältnis, sondern in die lebensübergebende, lebensentscheidende, lebensumfassende, ja sogar lebensaufgebende Nachfolge,4 die sich in dieser Radikalität aus seinem Selbstanspruch – „Mir ist alle Macht gegeben im Himmel und auf Erden.“ (Mt. 28,18) – ableitet.5 So, wie sich die entstehende Kirche auf die Autorisierung der Jünger bzw. der Apostel gründet, so gründet sich damit schließlich jede Existenz eines Nachfolgers Jesu im selben Nachfolgeruf, den auch die ersten Jünger vernahmen (Mk. 1,16-18 par.), sodass jeder, der zur Gemeinschaft der Jesusnachfolger gehört und in einem Treueverhältnis zu ihm steht, selbst  ist (vgl. u.a. Apg. 6,1; 9,10; 14,22; 18,23).6

Darin besteht der Auftrag der Kirche, gegründet auf die Autorisierung der Apostel, in der Welt, in der sie sich unweigerlich befindet und in die sie unmissverständlich gesandt ist: Menschen in eine solche Nachfolge Jesu zu führen und darin zu begleiten. Doch so eindeutig dieser Auftrag formuliert ist, so mehrschichtig ist seine unmittelbare Ausformung. Denn die apostolische Existenz der Kirche vollzieht sich nach dem Missionsauftrag in Mt. 28 dreidimensional.

 

3. Die Dreidimensionalität der apostolischen Existenz der Kirche

Der Auftrag Jesu an seine Jünger ist eingebettet in eine dreifache Partizipialkonstruktion, die dem Imperativ  seine konkrete Gestalt gibt. Die apostolische Existenz der Kirche vollzieht sich „gehend“ (), „taufend“ () sowie „lehrend“ (). Keine der drei Bestimmungen sollte ohne weiteres für die Umsetzung des Missionsauftrages der Kirche über- oder unterbetont werden. Vielmehr bilden sie einen dynamischen Prozess, wobei sie miteinander eng verwoben sind und zudem einander bedingen.

Ich möchte im Folgenden diese drei Bestimmungen des Missionsauftrages näher betrachten. Dabei rückt die exegetische Betrachtung jedoch in den Hintergrund, denn hierzu braucht und kann an dieser Stelle wohl nicht (mehr) allzu viel Neues gehoben werden. Vielmehr führen die Beobachtungen am biblischen Text zu einem stärker praktisch-theologischen Nachdenken über Grundlinien der apostolischen bzw. missionarischen Existenz der Kirche. Dazu bediene ich mich hier auch – in freierer Weise – der sozialwissenschaftlichen Zuordnung der Kirche als „Bewegung“, „Institution“ und „Organisation“, wie sie Eberhard Hauschildt in seinem prägenden Vortrag vor der 10. EKD-Synode 2007 in Dresden vorgenommen hat.7 Denn in dieser dreifachen Bestimmung zeigt sich eine bemerkenswerte Analogie zum Missionsbefehl in Mt. 28, mit welcher sich die hier vorgetragenen exegetischen Beobachtungen zugleich in einem kirchentheoretischen Denkhorizont beschreiben lassen. Im Blick auf eben Gesagtes zeigt sich gerade auch hieran, dass die Kirche immer nur mehrdimensional und nicht einseitig alternierend gedacht werden sollte.8

3.1 „Geht!“ – Die Kirche als wachstumsbereite Bewegung

Bereits die Entdeckung des leeren Grabes und die Begegnung mit dem Auferstandenen veranlasste Frauen wie Männer in der Nachfolge Jesu zum Zeugnis dessen, was ihnen in der Konfrontation mit der Realität der Auferstehung widerfahren war (vgl. z.B. Mk. 16,9; Lk. 24,33-35; Joh. 20,18). Doch spätestens mit dem Pfingstereignis gehört die aktive Bezeugung des Evangeliums zur Kern-DNA der entstehenden christlichen Kirche (vgl. Apg. 2,14-16)9 Auch hier zeigt sich ihr doppelter Zustand: Als Teil der Welt kann sie gar nicht anders als das Evangelium in Wort und Tat durch ihre bloße Existenz zu verkünden (vgl. Apg. 2,46f). Denn jede Lebensweise, die sich an irgendeiner Stelle von ihrem Kontext abhebt, wird diesem ihrem Kontext immer auch das bezeugen, woran sie sich orientiert (vgl. 1. Tim. 6,1; Tit. 2,9f; 1. Petr. 3,1f).10 Zugleich sucht die Kirche ihrem Auftrag gemäß aber immer auch die missionarische Gelegenheit (vgl. Kol. 4,5f; 1. Tim. 3,7; 1. Petr. 3,15) und unterstützt diejenigen, welche sie aktiv fördern (vgl. Röm. 16,1f; Phil. 2,25; 4,14-18; 2. Kor. 11,9; Did. 11-13; indirekt auch 1. Kor. 9,4-12).

Die Kirche muss aber auch von ihrem Auftrag her permanent in Bewegung bleiben. Gerade hinsichtlich ihrer Form (nicht ihres apostolischen Zeugnisses), darf und muss sie das suchen, was zum Gewinn der Menschen in deren jeweiligem Kontext notwendig ist. Entsprechend fordert Paulus die korinthischen Christen in 1. Kor. 14 auf, sich im Gebrauch der Zungenrede im Gottesdienst solche Regeln aufzuerlegen, damit jeder erbaut werden könne, oder sogar ganz darauf zu verzichten, sollte ein Nichtchrist im Gottesdienst anwesend sein und ohne Erklärung davon verwirrt werden (1. Kor. 14,24f). Erstarrt die Kirche in ihrer Suchbewegung derer, die (noch) nicht in der Nachfolge Jesu stehen, und gibt die aktive Verbreitung des Evangeliums auf (ganz oder einseitig zugunsten einer rein passiven Koexistenz), gibt sie nicht nur ihre zentrale Beauftragung durch Jesus auf, sondern verliert zudem eine wesentliche Lebensgrundlage. Denn jeder andauernde Schrumpfungsprozess findet früher oder später unweigerlich ein natürliches Ende. Deshalb gilt umso mehr: Die Kirche muss in die Welt gehen.

3.2 „Tauft!“ – Die Kirche als identitätsstiftende Institution

Die Kirche soll in ihrer Beauftragung durch Jesus Christus aber nicht allein in die Welt gehen. Sie soll dort auch sein. Darauf verweist das zweite Partizip in Mt. 28,19. Christen vollziehen ihre apostolische Existenz in der Welt, in die sie gesandt sind, als „“, als Taufende. Ungeachtet zahlreicher Fragen der christlichen Tauflehre, darf für die Taufe wohl übereinstimmend festgehalten werden: Sie ist das wesentliche identitätsstiftende (Übergangs-)Geschehen, durch das sich die Teilhabe eines Menschen an der Gemeinschaft der Nachfolger Jesu ausdrückt.11 Damit ist das Taufen von Menschen aber immer auch eine Institutionalisierung des Leibes Christi in der Welt, denn hier manifestiert sich und wird nach außen hin sichtbar, was für Christen (individuell und gemeinschaftlich) geistliche Realität ist: ihre Zugehörigkeit zur Kirche als dem Leib Christi (vgl. 1. Kor. 12,13). Der Missionsauftrag Jesu wird in der Gemeinschaft der Getauften sichtbar. Hinsichtlich der Identität eines Menschen (bzw. eines Christen) gibt es ein „vor“ und ein „nach der Taufe“.12

Freilich sind Getauft-Sein und Jüngerschaft nicht per se deckungsgleich. Aber das wird in Mt. 28 auch nicht ausgesagt. Vielmehr stellt die Taufe eine wesentliche Dimension des „Menschen-zu-Jüngern-Machens“ dar. Denn diese Institutionalisierung i.S. einer identitätsstiftenden und identitätsbestätigenden Funktion ist schon allein für das menschlich-existentielle Bedürfnis nach Orientierung zwingend notwendig, von einer objektiven geistlichen Realität der Taufe (vgl. u.a. Röm. 6,3f; 2. Kor. 5,17; Kol. 2,12) einmal (hier) ganz zu schweigen.

Will Kirche nicht nur in die Welt gehen, sondern auch in ihr (sichtbar) sein – und das soll sie ihrem Auftrag gemäß – wird sie Menschen, die in die Nachfolge Jesu treten, taufen und dies auch in dem Bewusstsein (und Wunsch), damit eine verbindliche und identitätsstiftende Institution zu sein, deren Struktur Orientierung und Stabilität für ihre Glieder als auch für sich als ganze bietet. ­Oscar Cullmann wandte sich in seinem Bemühen um die christliche Ökumene quasi warnend gerade an Protestanten, die „a priori strukturfeindlich eingestellt sind und einer rein spirituellen Gemeinschaft in Christus das Wort reden“13. Er sah in einer zu starken Unterbetonung der Notwendigkeit der Kirche als Institution zurecht die Gefahr, „daß eine nicht strukturierte Gemeinschaft nicht genügend gegen Auflösung geschützt ist[.] Ist eine ‚Gemeinschaft‘, die diesen Namen verdient, überhaupt möglich ohne ein Minimum an Struktur?“14

So wie die Welt die Kirche und damit die Nachfolger Jesu als Gabe Gottes baucht, brauchen die Nachfolger Jesu in der Welt eine sie tragende Identität. Am fundamentalsten vollzieht sich diese Identitätsstiftung im „Getauft-Sein“ auf den Namen dessen, der Grund ihrer Sendung ist. Doch dieses „Sein-in-Christus“ gibt es aus ntl. Überzeugung nicht ohne „Sein-in-der-[sichtbaren]Kirche“. Joseph Ratzinger/Benedikt XVI. legt im ersten Band seiner Jesusbücher die Rede von der „Wiedergeburt durch Geist und Wasser“ in Joh. 3,5 entsprechend ekklesiologisch aus: „Zur Wiedergeburt gehört […] die schöpferische Macht von Gottes Geist, aber es gehört auch mit dem Sakrament der Mutterschoß der aufnehmenden und annehmenden Kirche dazu.“15 Die Kirche muss in die Welt gehen. Aber die Kirche muss auch in der Welt sein.

3.3 „Lehrt!“ – Die Kirche als nachhaltigkeitsorientierte Organisation

Als Institution ist (auch) die Kirche nie gegen Erstarrung und bloße Oberflächlichkeit immun. Die Taufhandlung, oder etwas zugespitzter formuliert, die Tauf­urkunde allein ist kein Garant für eine lebendige und gesunde christliche Gemeinschaft (vgl. 1. Kor. 10,1-13). Neben der immer wieder notwendigen Dynamisierung durch die erste Dimension des Missionsauftrags, der Bewegung, braucht es immer auch noch die dritte Dimension: Christen vollziehen ihre apostolische Existenz in der Welt, in die sie gesandt sind, als „“, als Lehrende.

Diese dritte Dimension ist Nach- und Vorsorge zugleich. Eine Kirche, die tauft und somit Menschen in ihre Gemeinschaft als Leib Christi aufnimmt, muss auch dafür Sorge tragen, dass diese Menschen durch die „gesunde Lehre“ (Tit. 1,9) in ihrer Identität in Christus wachsen und – um im Bild zu bleiben – gedeihen können (Kol. 2,7). Die Gemeinschaft der Nachfolger Jesu soll ein Ort sein, indem Menschen gerade auch durch gegenseitige Unterweisung erbaut werden (vgl. 1. Kor. 14,26; Eph. 4,11f; Kol. 3,16), sodass sie gemeinsam „in allem hinwachsen zu ihm, der das Haupt ist, Christus“ (Eph. 4,15).

Die missionarische Existenz der Kirche besteht also niemals allein hinsichtlich des Anfangs des Glaubensweges eines Menschen, sondern ist Wegbegleitung (vgl. Kol. 1,23; 2. Petr. 1,10). Die Lehre ist dabei so etwas wie ein Reisebüro: Sie organisiert und ordnet all das, was auf der Glaubensreise vor einem liegt. Sie schafft Orientierung in bislang unbekanntem Terrain.

Dieses Fest-Werden im Glauben durch die Lehre steht dem Wunsch vieler heutiger Christen nach (spontanen) Erfahrungen mit dem Wirken des Heiligen Geistes nach ntl. Überzeugung in keiner Weise im Wege. In den Abschiedsreden Jesu an seine Jünger im Johannesevangelium ist es ja gerade der Heilige Geist selbst, dem in seiner wesentlichen Funktion die Lehre zukommt: „Der Beistand aber, der Heilige Geist, den der Vater senden wird in meinem Namen, der wird euch alles lehren und euch an alles erinnern, was ich euch gesagt habe.“ (Joh. 14,26; vgl. Joh. 15,26; 16,13). Dabei ist im ntl. Zeugnis keineswegs an eine rein unvermittelte Lehrfunktion des Heiligen Geistes gedacht, denn die Lehre ist zwar „Geistesgabe“, d. h. Geschenk (; Röm. 12,6f) an Christen, aber ebenso auch besondere Beauftragung einiger Christen (Eph. 4,11) zugleich. Die Lehre bindet die gegenwärtige subjektive Erfahrung des einzelnen Jesusnachfolgers zurück an den Grund seines Seins und stellt zugleich einen Rahmen dar, in dem die subjektive Erfahrung ihren geordneten Platz findet.

Doch die Kirche lehrt in ihrer apostolischen Existenz nicht allein zur Nachsorge, sondern auch zur Vorsorge. Sie kann nur dann nachhaltig in die Welt gehen und in der Welt sein, wenn sie auch dafür Sorge trägt, in der Welt bleiben zu können. Deshalb wird sie immer auch im Blick auf ihre Zukunft darauf achten (müssen), dass eine Kontinuität in der Lehre besteht. Am eindrücklichsten ist dies im NT in 2. Tim. 2,2 formuliert: „Und was du von mir in Gegenwart vieler Zeugen gehört hast, das vertraue treuen Menschen an, die tüchtig sein werden, auch andere zu lehren.“ Der Sinn der (organisierten) Lehre ist niemals in einem Selbstzweck zu suchen, vielmehr besteht er in der generationsübergreifenden, zukunftsorientierten Weitergabe mit dem Ziel, Christen zur mündigen Weitergabe zu ermutigen, zu befähigen und zu senden.16 Die Kirche ist in die Welt gesandt, um in der Welt zu sein und nachhaltig in der Welt zu ­bleiben.

 

4. Fazit: Gehen, Sein und Bleiben

Die drei Partizipien im Missionsbefehl Jesu in Mt. 28 – Gehen, Taufen, Lehren – bilden ein unauflösliches Geflecht zur Realisierung ein und desselben Auftrags: „Macht alle Nationen zu Jüngern!“ In ihnen zeigt sich die Dreidimensionalität der apostolischen, weil gesandten Existenz der Kirche als von Jesus hinterlassene Gabe an die Welt und zugleich von ihm hinterlassene Gemeinschaft in der Welt. Alle drei Dimensionen bedingen, festigen und beleben sich gegenseitig. Eine sich rein bewegende Kirche wird keine Orientierung und Identität stiften noch der Gefahr der Auflösung viel entgegensetzen können. Eine rein institutionalisierte Kirche wird nicht wachsen, sondern erstarren und ihre Glieder verkümmern lassen. Eine rein organisierte Kirche wird wie gelähmt vor immer wieder notwendigen Aufbrüchen und Veränderungen stehen und den Anschluss an die Menschen verlieren, für die sie Sorge ­tragen soll.

Allerdings sind diese von mir hier aufgezeigten Dimensionen (ntl.) Grundlinien für das Nachdenken über und Gestalten von christlicher Gemeinschaft hinsichtlich ihres missionarischen Auftrages. In ihrer jeweiligen Realisierung ist die konkrete Gestaltung freilich durch und durch kontextgebunden. Es kann unter den jeweiligen Umständen sehr wohl notwendig und geboten sein, die eine Bestimmung stärker als gegenwärtig herausfordernd in den Vordergrund zu rücken. Doch auch hier, meine ich, bleiben alle drei Dimensionen stets in ­Geltung.

Es soll aber auch keinesfalls der Eindruck erweckt werden, mit diesen Beobachtungen bereits reell bestehende kirchliche Formen lediglich zu legitimieren und gegenüber Ansätzen, die gerade aus einer missionarischen Triebfeder heraus Neues suchen und wagen, einseitig zu verteidigen. Dies widerspräche gerade jener Dreidimensionalität. Zugleich darf dieser Beitrag aber auch als Appell vernommen werden, sich bei der Frage nach (notwendigen!) missionarischen „Aufbrüchen“ nicht in einem einseitigen und überzogenen Aktionismus zu verlieren.

Die Kirche hat einen Auftrag: „Macht zu Jüngern alle Nationen!“ Um dieses Auftrages willen wird sie gut daran tun, danach zu streben, dass sie in ihrer apostolischen Existenz dreidimensional geht, ist und bleibt und dabei niemals vergisst, wer sie gesandt hat.

 

Anmerkungen

1 Vgl. u.a. Mk. 16,19; Apg. 2,33; Röm. 8,34; Eph. 1,20; Kol. 3,1; 1. Petr. 3,22; Hebr. 1,3; Offb. 3,21.

2 Vgl. Mt. 10,1-11 par.; 18,16-18; 28,18-20; Joh. 20,21-23; Apg. 1,8.

3 Vgl. C. Auffahrt: Art. Jünger, in: HRWG 3 (1993), 326-329, 328; K.H. Rengstorf: Art. , in: ThWNT 4 (1942), 417-465, bes. 434-443.

4 Vgl. H.D. Betz: Nachfolge und Nachahmung Jesu Christi im Neuen Testament, BHT 37, Tübingen 1967, 42f.

5 Vgl. K.H. Rengstorf, Art. , 448-454 (s. Anm. 3).; Hierzu auch sehr erhellend: Neussner, Ein Rabbi mit Jesus.

6 Vgl. P. Nepper-Christensen: Art. , in: EWNT (32011), 915-921, 921.

7 Vgl. E. Hauschildt: Organisation der Freiheit. Evangelisch Kirche sein verändert sich, Referat zum Schwerpunktthema „evangelisch Kirche sein“ der 6. Tagung der 10. Synode der EKD in Dresden vom 4.-7. November 2007.

8 Hauschildt ging es freilich vorranging um die Verhältnisbestimmung von „Institution“ und „Organisation“, weshalb er später präzisierend von einem „Hybrid“ sprach (vgl. E. Hauschildt: Hybrid evangelische Großkirche vor einem Schub an Organisationswerdung, in: PTh 96 [2007], 56-66).

9 Vgl. E.J. Schnabel: Urchristliche Mission, Wuppertal 2002, der hier treffend von den „effektiven Ursprünge[n]“ (a.a.O., 383) frühchristlicher Missionstätigkeit spricht.

10 Auf diesem Hintergrund dürfte wohl auch die Anweisung des Paulus in 1. Kor. 7,14-16 an (vermutlich) Konvertiten zu verstehen sein, sich nicht aus eigenem Antrieb von ihren (nichtchristlichen) Ehepartnern zu lösen, weil gerade auch in der christlichen Lebensführung eine enorme Überzeugungskraft liegen kann.

11 So trifft Paulus eine seiner wesentlichsten Aussagen über die Taufe in Röm. 6,3 in Erinnerung an den Herrschaftswechsel, der sich in der Nachfolge Jesu vollzieht (vgl. Röm. 5,12-21).

12 Vgl. C. Stettler: Die Taufe im Neuen Testament – und heute, in: ThBtr 46/1 (2015), 24-41, 24-34.

13 O. Cullmann: Einheit durch Vielfalt. Grundlegung und Beitrag zur Diskussion über die Möglichkeiten ihrer Verwirklichungen, Tübingen 1986, 69.

14 Cullmann, Einheit, 69f (Hervorhebung von mir; s. Anm. 13).

15 J. Ratzinger/Benedikt XVI: Jesus von Nazareth, Bd. 1: Von der Taufe im Jordan bis zur Verklärung, Freiburg i.Br. 2007, 282f.

16 Diese Glaubensvermittlung ist freilich immer auch auf dem Hintergrund ihrer Notwendigkeit angesichts der Gefährdung der Kirche durch falsche Lehre zu verstehen (vgl. A. Weiser: Der zweite Brief an Timotheus, EKK XVI/1, Zürich u.a. 2003, 159). Insofern schwingt beim Streben nach einer nachhaltigen Kontinuität durch Lehre immer auch der Aspekt des „Bewahrens“ – nicht nur aktiv bezogen auf die Inhalte, sondern auch passiv i. S. von „Bewahrt-Werden“ – mit, und zwar vor innerer Zersetzung.

 

Über die Autorin / den Autor:

Pfarrer Andreas-Christian Heidel, Pfarrer der Württ. Landeskirche, Studienassistent im Albrecht-Bengel-Haus Tübingen, Promotion an der Universität Zürich im Fachbereich Neues Testament, seit September 2020 Vertretungsprofessor für ntl. Wissenschaft an der Internationalen Hochschule Liebenzell.

Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 1/2021

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