Ich verliere mich dabei nicht in medizinische Details. Auch wage ich nicht, die Frage endgültig zu entscheiden, ob es überhaupt möglich ist, theologische oder geisteswissenschaftliche Erkenntnisse von neurologischen Erkenntnissen abzuleiten. Mir geht es einfach darum auszuprobieren, ob sich Theologie durch neurologische Erkenntnisse bereichern lässt.2 Da ich Gemeindepfarrer bin, spielt für mich der Praxisbezug immer eine große Rolle. Deswegen nenne ich mein Werk auch nicht »Neurotheologie«, sondern »Neuronale Theologie«, also nicht eine Theologie, die von neurologischen Erkenntnissen abgeleitet wird, sondern an sie angelehnt ist.3
Neurologische Unbestimmtheit des Gottesgedankens
Man kann die bisherigen Versuche der Neurotheologen so zusammenfassen: Es ist nicht leicht, Gott im Gehirn zu finden. Es gibt kein Gottesareal in unserem Gehirn. Wir stoßen in einer Vielzahl von neurologischen Funktionen auf Prozesse, die wir als religiös bezeichnen können, wobei die Neurologie selbst nur schwer definieren kann, was religiös ist oder nicht. Hier ist die Naturwissenschaft immer auf Erklärungen aus einem theologischen Deutungssystem angewiesen.4 Man könnte sagen, der Gottesgedanke ist neurologisch flüchtig, weil er dem Zweifel unterworfen ist. Um an einen Baum zu denken, brauche ich nur in die Natur zu gehen und ihn sehen oder fühlen. Bei Gott ist dies nicht so einfach möglich. Deshalb sind wir auf verfasste religiöse Deutungssysteme, wie sie die Kirche oder die Weltreligionen anbieten, angewiesen, die in uns den Glauben wecken und stärken.
In meinem Essay gehe ich drei unterschiedlichen Wegen nach, wie unser Gehirn den Gottesgedanken erfasst.
Gott als Begriff
Wie sich Begriffsbildung neurologisch vollzieht, ist allgemein bekannt.5 Über empirische Erfahrungen lernt unser Gehirn selbständig ein neuronales semantisches Netzwerk von Begriffen aufzubauen. Jeder Begriff hat dabei seine empirische Basis, also die empirischen Wahrnehmungen, auf denen er beruht. Er hat innerhalb des semantischen Netzwerkes einen akustischen oder visuellen Marker, das gesprochene Wort des Begriffes oder ein graphisches Symbol, das den Begriff repräsentiert. Und der Begriff kann durch Assoziation auf andere Begriffe verweisen; z.B. verweist der Begriff Baum auf Blatt, Ast, Vogel, Baum, Nest, grün, braun usw.
Wenn Gott ein Begriff ist, dann ist er ein Teil unseres neuronalen semantischen Netzwerkes, das heißt, andere Begriffe können auf ihn verweisen, ebenso können mit ihm Gefühle oder Wahrnehmungen verbunden sein. Doch wie entsteht in unserem Gehirn der Gottesbegriff?
Gott als empirischer Begriff
Eine erste Möglichkeit ist es, Gott direkt von einer empirischen Wahrnehmung her abzuleiten. Wir haben z.B. beim Anblick eines schönen Sonnenunterganges oder eines hohen Berges ein religiöses Empfinden. Wir spüren einen tieferen inneren Frieden in uns. Wir dürfen jedoch niemals diese Wahrnehmungen mit Gott gleichsetzen. Gott ist ja nicht der Sonnenuntergang oder der hohe Berg und auch nicht der tiefe innere Friede in uns. Diese empirischen Erfahrungen verweisen nur auf Gott.
In der Religionsgeschichte ist diese Unsicherheit dadurch überbrückt worden, dass diese Naturphänomene selbst als Naturgottheiten identifiziert worden sind.
Gott als virtueller Begriff
Es gibt empirische Begriffe, die auf Gott verweisen (signa), der jedoch selbst niemals ganz durch diese empirischen Begriffe erschlossen werden kann. So verweist die Schönheit dieser Welt auf den Schöpfer, der sie erschaffen hat. Somit verbleibt Gott als Begriff eine Hypothese,6 ein virtueller Begriff. Im Unterschied zu dem Begriff eines Baumes, den wir unmittelbar aus der Erfahrung ableiten können, muss ein virtueller Begriff erst aus einer Reihe von empirischen Begriffen abgeleitet werden. So ist auch der Begriff »Staat« kein unmittelbar empirischer Begriff, sondern er fasst verschiedene empirische Einzelphänomene zusammen wie z.B. Regierung, Polizei, Gesetzgebung, Bevölkerung.
Ein virtueller Begriff hat eine hohe Erklärungskraft, weil er viele empirische Begriffe zusammenfasst, er ist eine Art Superbegriff mit vielen Verweisungen im semantischen Netzwerk. So kann auch Gott als virtueller Begriff vieles erklären. Als Schöpfer der Welt fasst er sogar alle empirischen Erfahrungen zusammen.
Das Ungenügen einer begriffsorientierten Theologie
So sehr wir virtuelle Begriffe brauchen, um die Welt zu erklären, so ist ihre Erklärungskraft doch begrenzt. Es gibt immer wieder Risse und Sprünge in unserem semantischen Netzwerk, weil Deutungen nicht zueinander passen und sich widersprechen. Eine an Begriffen orientierte Theologie führt in unauflösliche Aporien wie die Frage nach Gottes Gerechtigkeit. Wie kann Gott als der gute Schöpfer all das tatsächlich vorhandene menschliche Leid zulassen und gewollt haben? Zwar kennt eine begriffsorientierte Theologie verschiedene Abwehrmaßnahmen wie z.B. die Lehre vom verborgenen Gott, eine neuronale Theologie entlarvt diese Konstrukte jedoch als das, was sie wirklich sind: Abwehrmaßnahmen unseres Verstandes, die den berechtigten Zweifel eindämmen wollen. So müssen wir ehrlicherweise feststellen, dass der Glaube vieles nicht erklärt, was wir gerne erklärt hätten, und dass viele Fragen offen bleiben.
Gott als Person
Der zweite Zugang unseres Gehirns benützt dieselben neurologischen Schaltkreise, durch die wir andere Menschen wahrnehmen. So gibt es z.B. wissenschaftliche Erkenntnis darüber, wie unser Gehirn Gesichter erkennt.7 Innerhalb unseres semantischen Netzwerkes haben andere Personen eine besondere Eigenschaft: Sie werden als Individuum mit einem Eigennamen bezeichnet. Unser soziales Netzwerk wird in unserem Gehirn als Beziehungsnetzwerk repräsentiert.
Gott als Person ist ein Teil unseres Beziehungsnetzwerkes. Als Person wird er als ein Gegenüber zu uns Menschen verstanden. Damit spiegelt sich sein Sein auch notwendigerweise in unserem Selbstbild wider. Mit diesem Ansatz wird Gott aus der Sachebene der Begriffe gerissen und wird zu einer Person. Was für andere Personen und für mich selber gilt, gilt auch für Gott. Personen sind nicht voll durchschaubar und begreifbar. Damit ist ein wesentliches Problem der begriffsorientierten Theologie gelöst. Dafür ergeben sich jedoch andere Probleme. Auch Gott als Person bleibt neuronal unbestimmt.
Wie kann ich Gott als virtuelle Person erfahren?
Jede andere Person in meinem Leben kann ich fassen, fühlen, greifen. Virtuelle Personen kommen in unserem alltäglichen Leben nur etwa als juristische Personen vor. Ich brauche andere empirische Erfahrungen, um mir Gott als virtuelle Person zu erschließen. Dazu zählen etwa das Narrativ der Bibel oder die Sakramente.
Akzeptiert man zunächst einmal, dass eine Person für uns nicht durchschaubar und begreifbar ist, so bleibt dennoch die Frage, wie sich diese Person zu mir verhält? Ist sie Freund oder Feind, an mir interessiert oder nicht? Gott bedeutet für mich als sterblichen Menschen immer eine Bedrohung. Unser Gehirn entscheidet blitzschnell, ob wir unser Herz für eine Person aufschließen oder ob wir ihn als potenziellen Feind sehen? Letztlich läuft das alles auf die Frage hinaus: Liebt mich Gott wirklich? Diese Frage machen wir Menschen immer sehr stark davon abhängig, ob eine Person unsere Bedürfnisse erfüllt. Diese entscheidende Frage hat Gott selbst am Kreuz beantwortet.
Gott als Zustand
Der dritte neurologische Weg hat in der Forschung noch weitgehend wenig Beachtung gefunden. So reden wir z.B. von unterschiedlichen Bewusstseinszuständen, sind wach oder schlafen. Oder wir reden von kranken oder gesunden Zuständen eines menschlichen Organismus. Neurologisch gesehen kann sich unser Gehirn in unterschiedlichen Zuständen befinden je nach dem, welche Neuronen gerade aktiviert sind.8
Zustände als konkrete Erfahrungen
Auch Gott als Zustand ist ein virtueller Begriff. Gott als Begriff hat eine breite empirische Basis, im Normalfall die Welt als Ganzes. Er ist damit oft abstrakt und schwer fassbar. Gott als Person ist mir empirisch nicht unmittelbar zugänglich, ich brauche ein Narrativ oder die Sakramente als übermittelnde Medien. Gott als Zustand beruht dagegen auf einer sehr konkreten Erfahrung. Es ist Körpererfahrung, Erfahrung des eigenen Körpers oder eines sozialen Körpers, in dem ich mich gerade befinde. Es sind dabei gerade die Zustände der Einheit oder die integrierten Zustände, die Gotteserfahrungen ermöglichen. Sie können als spirituelle Erlebnisse gedeutet werden.
Das darf natürlich nicht darüber hinweg täuschen, dass auch Zustandserfahrungen, wie eingangs erwähnt, neurologisch unbestimmt sind. Sie bedürfen einer Deutung. Diese Deutungen beziehen die Zustandserfahrung aus einem religiösen Referenzsystem, in dem auch Gott als Begriff und als Person eingebunden sind.
Präferenz der Zustandserfahrungen
Begriffe bilden sich immer von konkreten Erfahrungen her. Die Vorstellung von Gott als Schöpfer der Welt oder als liebender Vater beruht nicht auf unmittelbarer Erfahrung, sondern ist das Ergebnis eines längeren Reflexionsprozesses. Die Erfahrung eines integrierten körperlichen oder sozialen Zustandes ist eine unmittelbare und konkrete und kann zu einem Ausgangspunkt für weitere theologische Reflexion werden. Es ist deshalb neurologisch vertretbar, dass solche Zustandserfahrungen den Ursprung der religiösen Entwicklung des Menschen bilden.
Diese neurologische Präferenz hat immer wieder auch in der Theologie Eingang gefunden, so etwa bei D.F. Schleiermacher oder R. Otto.9 Allerdings sind die Versuche dazu eher zaghaft. Noch herrscht eine sehr starke Orientierung am begrifflichen Denken vor. K. Barth, der Vertreter der Wort-Gottes-Theologie10, hat an seinem Lebensende gesehen, dass er sein Werk noch einmal neu hätte schreiben können und dabei der Heilige Geist eine größere Rolle hätte spielen müssen.11
Die Überwindung der neurologischen Unbestimmtheit des Gottesbegriffes
Aus dem bisher Gesagten wird deutlich, dass eine einseitige Erfassung Gottes auf nur einem der beschriebenen Wege neurologisch instabil ist. Sie bricht in sich zusammen, kann für sich alleine nicht bestehen. Erst die Kombination aller drei Wege führt dazu, dass sich die neurologischen Wege gegenseitig stützen und stabilisieren. Dies entspricht auch grundsätzlich dem Konzept des Glaubens als eines geschützten neurologischen Bereiches. Erst durch die Vereinigung aller drei Zugänge des menschlichen Gehirns entsteht ein stabiler Glaube.
Folgen einer neuronalen Gotteslehre
Die Folgen der hier dargestellten drei Zugänge des menschlichen Gehirns zu Gott für das Alltagsgeschäft Theologie in Theorie und Praxis sind weitreichend. Diese können abschließend nur angedeutet werden.
Neuronale Exegese: Natürlich finden sich alle drei Zugänge auch in der Bibel wieder. Hier gilt es zu zeigen, ob ein brauchbarer exegetischer Schlüssel vorliegt; denn die Bibel kann ja als das Buch verstanden werden, das die Geschichte erzählt, wie Gott Menschen begegnet ist und wie sie ihn folglich mit ihren menschlichen Gehirnen erfassen konnten.
Neuronale Trinitätslehre (?): Per se beziehen sich natürlich die drei Zugänge Begriff, Beziehung und Zustand auf die drei Personen Gott Vater, Sohn und Heiliger Geist. So kann Gott als Begriff Gott Vater als Schöpfer der Welt zugeordnet werden, Gott als leibhaftige Person dem Sohn und Gott als Zustand dem Heiligen Geist. Allerdings stellen sie im engeren Sinn noch keine Trinitätslehre dar. Die Trinitätslehre könnte aber als ein begriffliches Konzept verstanden werden, diese drei unterschiedlichen Zugänge zu vereinen.
Praktische Theologie: Die größten Auswirkungen dürfte es auf dem Gebiet der Praktischen Theologie geben. Es wird ja allgemein beklagt, dass Predigt und Unterricht so wenig Auswirkung zeigen. Verkündigung des Glaubens kann eben nicht an unserem Gehirn vorbei geschehen, sondern nur mit diesem und durch es hindurch. Hier scheint der Hinweis, dass die Wurzel des Glaubens die spirituelle Wahrnehmung des eigenen Körpers oder die positive Auswirkung religiöser Gemeinschaft ist, schon an vielen Stellen vor allem in der Religionspädagogik aufgenommen worden zu sein. Er ist aber noch lange nicht in aller Konsequenz zu Ende gedacht worden.
▸ Martin Burkhardt
Anmerkungen:
1 Burkhardt, Martin (2018): Neuronale Theologie – Wie unser Gehirn Gott erfasst, Erfurt. Ich beschränke mich in diesem Artikel nur auf die notwendigsten Literaturangaben. Ausführlichere Hinweise befinden sich in diesem Essay.
2 Vgl. dazu z.B. Mühling, Markus (2016): Resonanzen: Neurobiologie, Evolution und Theologie. Evolutionäre Nischenkonstruktion, das ökologische Gehirn und narrativ-relationale Theologie (Religion, Theologie und Naturwissenschaft/Religion, Theology and Natural Science – RThN), Bd. 030, Göttingen.
3 »Neuronal« – ein Neuron betreffend, davon ausgehend, s. https://www.duden.de/rechtschreibung/neuronal. Zuletzt aufgerufen am 10.3.2019.
4 Vgl. Burkhardt, a.a.O., 79.
5 Vgl. z.B. Edelmann, Walter (2000), Lernpsychologie (6. vollst. überarb. Aufl.), Weinheim.
6 So auch schon Pannenberg, Wolfgang (1987), Wissenschaftstheorie und Theologie, Frankfurt/M.
7 Vgl. Carter, Rita (2010), Das Gehirn: Anatomie, Sinneswahrnehmung, Gedächtnis, Bewusstsein, Störungen, London – New York – Melbourne – München – Delhi, 82. Für die visuelle Wahrnehmung gibt es ein eigenes Gesichtserkennungsareal. Diese visuellen Verarbeitungsmethoden werden bereits für die Gesichtserkennung in Computerprogrammen eingesetzt. Vgl. ausführlich Munk, H.J. und Niklas K. Logothetis (2012), »Neuronale Implementierung der Objekt- und Gesichtserkennung«, in: Karnath, Hans-Otto und Peter Thier (2012), Kognitive Neurowissenschaften, Berlin – Heidelberg, 150-160.
8 Vgl. dazu meine umfangreiche Vorstudie »Neuronale Zustände«, zu beziehen über www.denken-glauben-leben-handeln.de.
9 Schleiermacher, Friedrich D.E. (1960), Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhang dargestellt (2 Bde., 7. Aufl. = kritische Ausgabe der 2. Aufl. von 1830), Berlin, und Otto, Rudolph (1932), Das Heilige – Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen (21. u. 22. Aufl.), München.
10 Barth, Karl (1932ff), Die kirchliche Dogmatik, München, beginnt sein Werk mit dem ersten Band »Die Lehre vom Wort Gottes«.
11 Barth, Karl, Nachwort zur Schleiermacherauswahl, hg. von H. Bolli, 1968, 311: »Alles, was von Gott dem Vater und Gott dem Sohn im Verständnis des 1. und 2. Artikels zu glauben, zu bedenken und zu sagen ist, wäre in seiner Grundlegung durch Gott den Heiligen Geist, das vinculum pacis inter Patrem et Filium, aufzuzeigen und zu beleuchten«.
Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 8/2019