Im Streit um ein sachgemäßes Schriftverständnis werden zwei Lutherworte immer wieder neu in Anschlag gebracht: zum einen die Formel »Was Christum treibet«, zum anderen die These: »Wenn nun die Gegner die Schrift gegen Christus treiben, dann treiben wir Christus gegen die Schrift.« Clemens Hägele geht der Frage nach, ob sich die gängigen Deutungen beider Worte mit Recht auf Luther berufen können, wobei er zeigt, dass die Kontexte der jeweiligen Luther-Schriften andere Deutungen nahe legen.1


I. »Was Christum treibet«

Die gängige Auslegung

Die nach der Vorrede zum Jakobusbrief (1522/1546) frei zitierte Formel »Was Christum treibet«2 wird ungewöhnlich häufig angeführt. Theologinnen und Theologen zitieren sie in Fach-3 und Populärliteratur4, in Vorträgen, kirchlichen Verlautbarungen, Predigten und Interviews.5 Wie wird sie überwiegend verstanden?

Wer diese Formel deutet, muss auf vier Fragen Antwort geben: a) Für was steht das »Was«?, b) Was tut das »Was«, wenn es »Christum treibet«?, c) Wie ist die Formel, die ja nur ein Satzteil ist, zu vervollständigen? Also: »Was Christum treibet, das ist …«, d) Hat die Formel eine hermeneutische Funktion? Wenn ja, welche?

Das vorherrschende Verständnis dieser Formel ist – soweit ich sehe – das folgende (als Beleg soll jeweils ein pointiertes Zitat in den Anmerkungen genügen; sie ließen sich jedoch leicht vermehren):

a) Das »Was« steht für Einzelaussagen oder Intentionen biblischer Textpassagen.6

b) Das »Christum treibet« steht dafür, dass biblische Einzelaussagen oder Intentionen dasjenige inhaltlich befördern, was Christus »dient«7. Der Deutungsspielraum ist groß. Gemeint sind vielfach solche Schriftaussagen, die deutlich rechtfertigungstheologisch geprägt sind.8

c) Die Formel ist zu vervollständigen durch den Hinweis auf die Übereinstimmung der Einzelaussage mit der Mitte der Schrift. Das (und nur das), »was Christum treibet«, steht in Übereinstimmung mit Christus als der Mitte der Schrift.9

d) Die so gedeutete und vervollständigte Formel wird als Kriterium rechter Schriftauslegung und, mehr noch, rechter Schriftkritik verstanden. Sie dient zur Unterscheidung von Kern und Schale, von Gotteswort und Menschwort. Eine biblische Aussage, die Christum treibt, ist dogmatisch und ethisch maßgeblich; treibt sie Christum nicht, ist ­ihre Bedeutung begrenzt, womöglich hin­fällig.10

Nach dieser gängigen Deutung wendet sich die Formel Luthers also gegebenenfalls mit Christus gegen die Apostel.11 Manfred Kock hat in einer Reformationspredigt aus dem Jahr 2000 resümiert: »Das Prinzip, die Schrift nach dem zu beurteilen, was Christum treibt, wird bei Luther im Blick auf die Apostel durchgehalten.«12

Wilfried Härle vertritt diese gängige Deutung ebenfalls in ihren Grundzügen: »Weil die Schriftautorität aus der Christusoffenbarung abgeleitet ist [c) Christus als Mitte der Schrift], darum ist das, was Christus treibt, zugleich der kritische Maßstab [d) Kriterium der Schriftkritik], an dem sich die einzelnen Aussagen [a) Einzelaussagen] der Schrift und die einzelnen biblischen Schriften auf ihre Christusgemäßheit hin messen lassen müssen.«13

Die Bestimmung des »Was« [b)] geht nach Härle bei Luther in zwei Richtungen. Das »Was« sei einmal weit gefasst und unbestimmt, ein andermal konkret auf die Rechtfertigungslehre oder das johanneische Christuszeugnis bezogen.14

Wie ist Härles Deutung zu werten? Dass nach Luther Christus Mitte der Schrift ist, und sie von dieser Mitte her ausgelegt werden muss, ist eindeutig und sollte nicht bezweifelt werden. Aus einer Fülle von Aussagen Luthers mag ein sprechendes Zitat aus seinen Predigten zu Joh. 3 und 4 als Beleg genügen:15 »Den er ist das mittel punctlein im Circkel, und alle Historien in der heiligen schriefft, so sie recht angesehen werden, gehen auff Christum.«16

Die drei weiteren Aussagen Härles verstehen sich jedoch nicht von selbst und müssen kritisch befragt werden: 1. das Verständnis des »Was« u.a. als einer biblischen Einzelaussage, 2. die vermeintlich schon bei Luther etwas unbestimmte inhaltliche Füllung des »Was« und 3. die Behauptung einer schriftkritischen Funktion dieser Formel für die biblischen Bücher und deren Einzelaussagen.


Der Text

Der Text, dem sich die Formel »Was Christum treibet« verdankt, stammt aus Luthers Vorreden zum Neuen Testament, dort aus der Vorrede zum Jakobusbrief. Der entscheidende Passus lautet in der 1546 veröffentlichten und gegenüber 1522 nicht wesentlich veränderten Fassung:

»Vnd darinne stimmen alle rechtschaffene Buecher vber eins, das sie alle sampt Christum predigen vnd treiben. Auch ist das der rechte Pruefestein alle Buecher zu taddeln, wenn man sihet, ob sie Christum treiben oder nicht, Sintemal alle schrifft Christum zeiget, Rom. iij. Vnd S. Paulus nichts denn Christum wissen wil, j. Cor. ij. Was Christum nicht leret, das ist noch nicht Apostolisch, wens gleich S. Petrus oder Paulus leret. Widerumb, was Christum prediget, das were Apostolisch, wens gleich Judas, Hannas, ­Pilatus, vnd Herodes thet.«17


Eine Verlegenheit

In der Vorrede zum Jakobusbrief kommt die Formel »Was Christum treibet« in dieser Formulierung nicht vor, weder in der Fassung von 1522, noch in der von 1546.18 Sie ist auch sonst in Luthers Werken nicht zu finden. Luther setzt die Worte anders, so nämlich, dass er einmal davon spricht, »das[s]« alle rechtschaffenen Bücher »Christum treiben« und ein andermal, dass man alle Bücher danach »taddeln« soll, »ob« sie »Christum treiben«.

Das ist keine nebensächliche Beobachtung. Bei Luther sind die »rechtschaffenen Bücher« Subjekt des Verbums »treiben«, kein noch zu deutendes »Was«. Das ist wichtig für die Gesamtdeutung der Formel (s.u.).

Der (frei zitierten) Formel ähneln lediglich folgende (aus WA DB VII, 385, 28-31 wörtlich zitierten) Wendungen aus der Jakobus-Vorrede: »sintemal alle schrifft Christum zeiget«, »was Christum leret« und »was Christum prediget«. Diese Formeln sind nicht annährend so populär wie das (frei zitierte) »was Christum treibet«. Könnte es daran liegen, dass das »was Christum treibet«, das für unsere Ohren ungewohnt und reizvoll klingt, im hermeneutischen Gespräch mehr Deutungsspielraum verspricht als die deutlicheren Formeln »was Christum zeiget«, »was Christum lehret« und »was Christum prediget«?


Der Zusammenhang: Luthers Frage nach der Apostolizität einer Schrift

Mit der Vorrede zum Hebräerbrief setzt Luther innerhalb der Vorreden neu an (»BJs her ...«): Er hebt die nun folgenden vier Schriften (Hebr., Jak., Jud. und Offb.) von den vorangegangenen Schriften deutlich ab. Jene vier hätten »vor zeiten ein ander ansehen gehabt«, diese dagegen, die vorangegangenen, zählt Luther zu den »rechten, gewissen Heuptbuecher[n]«19.

Luther spielt auf die Geschichte der Kanonwerdung an, in der sich Hebr., Jak., Jud. und Offb. der Alten Kirche mühsamer imponierten als die übrigen Schriften des heutigen NT.20 Der Einschnitt in den Vorreden zeigt, dass Luther die altkirchlichen Zweifel an der Apostolizität dieser Schriften teilt. Allen vieren spricht er eine apostolische Verfasserschaft aufgrund inhaltlicher Mängel ab: Im Hebr. stelle sich der Autor selbst nicht als Apostel vor, außerdem verneine er die Möglichkeit einer zweiten Buße.21 Jak. lehre die Rechtfertigung aus Werken und treibe nicht Christum, daher könne der Brief von keinem Apostel herrühren (s.u.). Jud. wäre vom 2. Petr. abhängig und zitiere aus nichtbiblischen Schriften.22 Die Offb. schließlich befasse sich mit Visionen, anstatt mit »klaren und durren wortten«23 von Christus und seinem Tun zu predigen, wie es sich für einen Apostel ziemt. Aus allen diesen Gründen vermag Luther sie nicht den »rechten Heuptbuecher[n]24« gleichberechtigt an die Seite zu stellen.

Diese Zwei- bzw. Dreiteilung25 aus Luthers Vorreden ist zum Muster für die Gliederung mancher protestantischer Bibelausgaben geworden. Ein Beispiel ist die sog. Johannes Lucius Bibel von 1596, in der die vier umstrittenen Schriften unter der Überschrift »Apokrypha« erscheinen.26 In den dogmatischen Lehrwerken der lutherischen Orthodoxie haben allerdings nur wenige eine solche Differenzierung übernommen; zu den bekannteren, die es doch taten, zählen Chemnitz und Hutter.27

Zum rechten Verständnis des »Was Christum treibet« ist also allererst zu berücksichtigen, dass Luther für vier ntl. Schriften – darunter Jak. – die Frage ihrer Apostolizität (und damit die Frage ihres kanonischen Ranges) neu stellt und mit theologischen und historischen Argumenten negativ beantwortet. Das bedeutet: Luther legt hier keinen theologischen Maßstab innerhalb eines festen Kanons ntl.-apostolischer Schriften an, um Einzelschriften oder Einzelaussagen ggfs. zu kritisieren; für ihn kann die Kanonfrage vielmehr jederzeit wieder neu aufbrechen. Wo eine ntl. Schrift seiner Meinung nach theologisch fehlgeht, da stellt sich Luther im Zusammenhang mit diesem Mangel sofort die Frage, ob sie angesichts dieses Mangels wirklich aus apostolischer Feder stammt und mit Recht im Kanon steht. Mit einer apostolischen Fehlleistung rechnet er nicht.

Luthers »Was Christum treibet« wendet sich im Zweifelsfall also gerade nicht gegen apostolische Schriften. Vielmehr identifiziert Luther mit diesem Kriterium allererst eine Schrift als apostolisch bzw. nichtapostolisch. Wer sich heute Luthers »Was Christum treibet« in seinem Sinne bedienen möchte, der muss die Frage nach dem »Was Christum treibet« in Bezug auf eine biblische Aussage mindestens mit der Frage nach der Apostolizität und damit der Kanonizität der betroffenen biblischen Schrift verknüpfen. Wer etwa die Gerichtsaussagen von Röm. 2,5-10 als »nicht Christum treibend« bewertet, der muss, will er Luthers Methode folgerichtig anwenden, dem Römerbrief gleichzeitig seine apostolische Herkunft absprechen und ihn kanonisch herabstufen.


Die Formel als nota scripturae

Luther nennt im Wesentlichen zwei Gründe, die ihn die Apostolizität des Jak. bestreiten lassen. Der erste Grund ist falsche Lehre bei Jak., nämlich die Rechtfertigung aus Werken. Der zweite Grund ist fehlende Lehre bei Jak., nämlich sein Schweigen von Christus. Jak. rede nicht von Christi Leiden, Auferstehen, Amt und Geist.28 Erst in Zusammenhang mit diesem zweiten Grund fällt nun endlich das berühmte Lutherwort: »Vnd darinne stimmen alle rechtschaffene Buecher vber eins, das sie alle sampt Christum predigen vnd treiben. Auch ist das der rechte Pruefestein alle Buecher zu taddeln, wenn man sihet, ob sie Christum treiben oder nicht, Sintemal alle schrifft Christum zeiget, Rom. iij.«29

Heute werden der erste und der zweite Grund in der Regel identifiziert. Die falsche Rechtfertigungslehre des Jak. steht für Luther aber erst einmal auf einem anderen Blatt (»Auffs erste«) als der Umstand, dass er von Christus schweigt (»AUffs ander«).30 Jak. hat nicht, was jede apostolische Schrift hat: die konkrete Rede von Christi Leiden, Auferstehen, Amt und Geist. Sie treibt Christus nicht, sondern schweigt fast völlig von ihm. »Treiben« heißt »Lehren«.31 Und Jak. lehrt nicht von ihm. Es geht Luther also um eine notwendige Bedingung eines apostolischen Buches, ein notwendiges Kennzeichen, eine nota scripturae, die er bei Jak. nicht finden kann. Luther betreibt Schriftlehre, nicht Schriftauslegung. Er sagt, was ein Wesensmerkmal aller Schrift ist (»Sintemal alle schrifft Christum zeiget, Rom. iij.«). Wenn ein biblisches Buch dieses Merkmal nicht hat, dann ist es kein apostolisches, damit von kanonisch minderem Rang.


Die Beurteilung von »Büchern«

Das »Was« der Formel ist bei Luther immer das fragliche Buch. Lehrt es von Christus, dann ist es apostolisch. Tut es das nicht, dann ist es nicht apostolisch. Dass es Luther um die Apostolizität von Büchern geht und nicht um die kritische Befragung von Einzelaussagen innerhalb eines apostolischen Buches, zeigt sich noch an folgenden Beobachtungen:

a) Luther verwendet das »Was Christum treibet« an keiner Stelle als Kriterium zur negativen Beurteilung von Einzelaussagen solcher Schriften, die ihm als apostolisch gelten. (Streng genommen tut er das nicht einmal bei Büchern, die ihm nicht als apostolisch gelten. Die Formel ist kein Maß für Einzelaussagen.)

b) Das intensive Argumentieren Luthers bezüglich der Frage, ob ein Buch apostolisch ist oder nicht, wäre sinnlos, wenn es trotz seiner Apostolizität grundsätzlich noch Gegenstand kritischer Beurteilung durch ein hermeneutisches Kriterium werden könnte.

c) Luthers Vorrede zur Offb. von 1522, die die gesamten Vorreden beendet, schließt mit den Worten: »Vnd ist myr die vrsach gnug, das ich seyn [die Offenbarung, C.H.] nicht hoch achte, das Christus, drynnen widder geleret noch erkandt wirt, wilchs doch zu thun fur allen dingen eyn Apostel schuldig ist, wie er sagt Act. i. yhr solt meyne zeugen seyn, Darumb bleyb ich bey den buchern [!], die myr Christum hell vnd reyn dar geben.«32 Hier wird deutlich, was Luther unter dem »Was Christum treibet« versteht: Ein apostolisches Buch muss klar von Christus zeugen und tut dies auch. Luther lehnt deswegen die Apostolizität der Offb. ab (auch noch 1530).

d) Die Apostel sind für Luther »infallibiles doctores«33. Diese Überzeugung stünde in erheblicher Spannung zu einer Haltung gegenüber apostolischem Schrifttum, dessen Einzelaussagen grundsätzlich noch zur Disposition stehen.

e) Es geht Luther darum, alle »Bücher« zu »taddeln«34 (ihren kanonischen Stellenwert zu bestimmen)35, und zwar danach, »ob« sie »Christum treiben«. Die Frage nach dem kanonischen Rang eines Buches (wie Luther sie stellt) verliert an Plausibilität, wenn für Luther lediglich Einzelaussagen zur Disposition stünden.


II. »… dann treiben wir Christus gegen die Schrift!«

Wahre und verfehlte Schrift

Der Satz »Wenn nun die Gegner die Schrift gegen Christus treiben, dann treiben wir Christus gegen die Schrift« 36 wird gelegentlich direkt mit dem »Was Christum treibet« verknüpft.37 Der Satz haue in dieselbe Kerbe wie der aus der Jakobusvorrede. Er hat aber einen gänzlich anderen Ort, innerhalb dessen er ausgelegt sein will. Es handelt sich um die 49. These der Thesenreihe »de fide« von 1535.38

In dieser Thesenreihe bestimmt Luther das Verhältnis von Glaube und Werken. Der Glaube geht den Werken immer voran. Aus diesem Grund ist Christus, dem der Glaube gilt, auch Herr über die Gebote, damit auch Herr über die ganze Schrift. Alles in der Schrift ist auf ihn zu beziehen: »Die Schrift darf nicht gegen, sondern muss für Christus verstanden werden, das heißt, entweder bezieht man sie auf ihn oder lässt sie nicht als wahre Schrift gelten.«39

U.a. diese 41. These ist entscheidend, um die 49. These recht verstehen zu können. Denn sie, die 41., zeigt, dass es nach Luther auch eine gegen Christus ausgelegte Schrift gibt, mit der der Ausleger aber das wahre Wesen der Schrift verfehlt. Die wahre Schrift ist die, die vom Ausleger ganz auf Christus bezogen wird. Luther nennt in der Thesenreihe »de fide« mehrere Beispiele, in denen biblische Imperative, dem Wesen der Schrift entsprechend, auf den Glauben an Christus hin ausgelegt werden.40

Wenn nun Luther Christus gegen die Schrift treiben will, dann nur in dem Fall (»quod si«), dass die Gegner, das Wesen der Schrift verfehlend, sie gegen Christus treiben, also nicht auf den Glauben an Christus beziehen. Das bedeutet: Luther treibt Christus gegen die von den Gegnern verfehlte Schrift, nicht gegen die wahre. Jede andere Deutung dieses Lutherwortes ergäbe keinen Sinn. Luther belegt über weite Teile seiner Thesenreihe, dass die Schrift dann richtig verstanden wird, wenn sie überall auf Christus bezogen wird. Es gibt diese eine wahre Schrift und, auf der anderen Seite, die von den Gegnern wesensfremd ausgelegte. Wie sollte Luther Christus gegen die wahre Schrift treiben wollen, die überall auf Christus zu beziehen er ja zuvor ausführlich dargelegt hat? Jörg Baur fasst zusammen: »Die rechte Auslegung führt den König und Herrn der Schrift, im Verstehen der Schrift non contra, sed pro Christo, gegen die Schrift, genauer: gegen die Beanspruchung [!] einiger Schriftstellen ins Feld41

Entgeht dem Interpreten Luthers Unterscheidung von wahrer Schrift einerseits und wesensfremd ausgelegter Schrift andererseits, dann führt dies notwendig zu einer Fehlinterpretation, die nur die aufklärerische Unterscheidung von Kern und Schale in Luthers Schriftauslegung zu erkennen vermag.42

Zwar geht Luther weit (ein Vergleich mit Schleiermacher drängt sich auf)43, wenn er davon spricht, dass »wir« mit Christus »neue Dekaloge« aufstellen können, die sogar »vortrefflicher« sind als der Dekalog des Mose (Thesen 53 und 54).44 Trotzdem sollen wir aber wegen unserer Unbeständigkeit »bei den feststehenden Geboten und den Schriften der Apostel bleiben«45 (These 58).


Die Unfehlbarkeit der Apostel

Luther rechnet nicht mit apostolischen Fehlleistungen, die es nötig machten, mit Christus gegebenenfalls gegen apostolisch-kanonische Schriften zu Felde zu ziehen. Das zeigen die Thesen 59 und 60: »59. Wir sind nämlich nicht alle Apostel; diese sind uns auf Gottes Anordnung hin als unfehlbare Lehrer gesandt.« »60. Daher können nicht sie, sondern wir, weil wir ohne eine solche Anordnung sind, irren und im Glauben fallen.«46

Luthers Hochschätzung des Apostolats und seine Einschätzung der Apostel als irrtumslos passt bestens zu einer Deutung des »Was Christum treibet«, die diese Formel, wie von mir dargelegt, im Rahmen von Luthers Frage nach der Apostolizität ntl. Schriften verstehen will.

Die Unfehlbarkeit der Apostel muss keineswegs als überspannte Verbalinspirationslehre verstanden werden. Entscheidend ist, dass Luther dem Apostel keinen theologischen Fehlgriff zutraut.


»halte schrifft gegen schrifft«

Dass Luther gegen eine ketzerisch fehlgedeutete Schrift vorgeht, ist auch da unbedingt vorauszusetzen, wo er dem Predigthörer an Invokavit 1537 empfiehlt: »halte schrifft gegen schrifft«.47 Es handelt sich hier nicht um die Freiheit zu einer biblischen Sachkritik, die in Christus als Mitte der Schrift wurzelt.48 Es handelt sich vielmehr um die Notwendigkeit, der ketzerisch missbrauchten Schrift die recht ausgelegte entgegenzuhalten (Predigttext war Mt. 4,1-11, die Versuchungsgeschichte!). Deswegen schreibt Luther: »[H]alte schrifft gegen schrifft, wie Christus hie thut. Denn eben die Ketzer selbs, die dem wort auffs hefftigst feind sind und es am meisten verfolgen, stellen sich, als wollen sie es helffen fürdern und handhaben, Denen mus man, wenn sie sich mit der schrifft behelffen und damit ire lügen schmücken, antworten: Nein, an das kere ich mich nicht allein, das du sagst, du habst Gottes wort fur dich, Denn man mus auch sehen, das man Gott nicht versuche, Und ob es schon Gottes wort were, damit du dich behilffest, möchtest du vielleicht etwas davon oder dazu gethan haben, Darumb las vor sehen, ob es die meinung des heiligen Geists sey, und ob du es recht fürest?«49


III. Fazit

»Was Christum treibet« ist bei Luther auf die schlicht-konkrete Rede von Christi Person und Werk bezogen. Es geht nicht um Einzelpassagen der Schrift, deren Inhalt oder Intention Christus entspricht oder nicht. Es geht um Bücher und die Frage, ob sie mit klaren dürren Worten von Christus predigen oder nicht.

Alle apostolische Schrift ist nach Luther auf Christus als Mitte bezogen und auf ihn hin auszulegen. Wo ein Buch diese Mitte nicht hat (Christum nicht treibt), da liegt keine Schrift eines Apostels vor. Wo Luther Christus gegen die Schrift treiben möchte, da tut er es gegen eine, die – ihr wesensfremd – nicht auf Christus als ihre Mitte hin ausgelegt ist. Luthers Freiheit gegenüber der Schrift zeigt sich nicht in einer grundsätzlichen Kritikfähigkeit des Glaubenden gegenüber dem apostolischen Schriftwort. Sie zeigt sich vielmehr in der Fähigkeit, eine Schrift von Christus her als nichtapostolisch identifizieren zu können.

Vom Gebrauch der Formel »Was Christum treibet« als hermeneutischem Scheidekriterium innerhalb von apostolischem Schrifttum – vermeintlich gestützt durch die 49. These aus »de fide« – sollten wir uns verabschieden.


Anmerkungen:

1 Erweiterte Fassung eines Vortrages im Rahmen des ntl. Symposions »der jüdische Messias Jesus und sein jüdischer Apostel Paulus« (8./9. Juni 2015 in Tübingen, anlässlich des 65. Geburtstages von Prof. Dr. Rainer Riesner, Gomaringen). Eine Gesamtskizze von Luthers Schriftverständnis kann und soll hier allerdings nicht versucht werden. Vgl. dazu ganz neu: Schwarz, R.: Martin Luther. Lehrer der christlichen Religion, Tübingen 2015, 27-62.

2 Vgl. WA DB VII, 385, 25-32.

3 Vgl. etwa Härle, W.: Dogmatik, Berlin 42012,137-139; Leonhardt, R.: Grundinformation Dogmatik, Göttingen 42009, 184f; Lachmann, R./Adam, G./Ritter, W.: Theologische Schlüsselbegriffe, Göttingen 1999, 48-50.

4 Vgl. etwa Lange, D.: Kreuz-Wege. Briefgefechte über das Christentum, Tübingen 1997, 84.

5 Aufgrund der Überfülle an Belegen bitte ich den Leser, sich selbst durch eine einfache Internetsuche von der ungewöhnlichen Popularität dieser Formel zu überzeugen.

6 So etwa bei Porsch, H.: »Das, ›was Christum treibet‹, hat nach lutherischem Verständnis die höchste Autorität innerhalb der Schrift, sodass einzelne Passagen sogar als nicht christusgemäß zurückgewiesen werden können.« (Porsch, H.: Sexualmoralische Verstehensbedingungen. Gleichgeschlechtliche PartnerInnenschaften im Diskurs, Stuttgart 2008, 114f).

7 Härle, 137.

8 So etwa in einem Beitrag des Bayerischen Sonntagsblattes (44/2001) »Die Bibel verstehen (1)«: »Nicht alles, was in der Bibel steht, ist deshalb schon Wort Gottes, sondern das, ›was Christum treibet‹, was die Rechtfertigung des Menschen allein aus Gnade predigt.« (Zit. nach http://www.sonntagsblatt-bayern.de/archiv01/44/woche13.htm, aufgerufen am 1.10.2015).

9 So etwa bei Suda, M.J.: »Luther betont immer wieder seine Lebens- und theologische Erfahrung, in der er erkannt hat, was die Mitte der Schrift sei, nämlich die Rechtfertigungslehre bzw. das, ›was Christum treibet‹«. (Suda, M.J.: Die Ethik Martin Luthers, Göttingen 2006, 19).

10 So etwa bei Kaufmann, T.: »Dieses hermeneutische Prinzip [»Was Christum treibet«, C.H.], ausgehend vom theologischen Zentrum des Neuen Testaments, das Luther insbesondere in der Rechtfertigungslehre des Römerbriefs fand, erlaubte ihm, Schale und Kern, lebendiges, glaubensweckendes Wort und tötenden Buchstaben zu unterscheiden.« (Kaufmann, T.: Der Anfang der Reformation. Studien zur Kontextualität, Publizistik und Inszenierung Luthers und der reformatorischen Bewegung, Tübingen 2012, 96).

11 Die Frage, wie diese Formel heute auf die Schriften des AT angewandt wird (mit Christus gegen die Propheten?) und ob sich dieser Gebrauch zurecht auf Luther berufen kann, klammere ich hier aus. Gleichwohl ist die Frage wichtig und muss an anderer Stelle beantwortet werden. Im Gespräch sollte auf jeden Fall mitbedacht werden, dass die Deutschen Christen diese Formel in einer Programmschrift als hermeneutisches Scheidekriterium auf das AT angewandt haben, m.E. in komplett unsinniger Art und Weise: »Luther will das am Alten Testament beibehalten [!] wissen, ›was Christum treibet‹.« (Grundmann, W.: Die 28 Thesen der Deutschen Christen, Dresden 1934, 33).

12 Kock, M.: Predigt zum Reformationstag am 31. 10. 2000 (https://www.ekd.de/predigten/kock/kock14.html, aufgerufen am 29.5.2015.)

13 Härle, 139. Vgl. auch Ders.: Spurensuche nach Gott. Studien zur Fundamentaltheologie und Gotteslehre, Berlin/New York 2008, 3. Dort schreibt Härle, dass die Bibel »auf das hin zu befragen und auszulegen« sei, »was in ihr ›Christum treibet‹«.

14 Vgl. a.a.O., 138.

15 Weitere Stellen bei Baur, J.: Sola Scriptura – historisches Erbe und bleibende Bedeutung, in: Ders.: Luther und seine klassischen Erben. Theologische Aufsätze und Forschungen, Tübingen 1993, 46-113, dort 69-72.

16 WA 47, 66, 23-24.

17 WA DB VII, 385, 25-32. Im Folgenden wird stets, wenn nicht anders vermerkt, die Fassung von 1546 zitiert.

18 Dass diese Wendung dort nicht wörtlich vorkommt, ändert auch nicht die Nachahmung der Orthografie von 1522 (»was Christum treybet«) bei Raatz, G.: Schriftprinzip oder Wesensbestimmung des Christentums. Anmerkungen zur Differenz von Luthers normativem Schriftprinzip und faktischem Schriftgebrauch, in: PTh 104 (2015/4) 159-172, 170.

19 WA DB VII, 345, 1.3.

20 Zwei Hinweise mögen genügen: 1.) Im Kanon Muratori fehlen u.a. Hebr. und Jak. 2.) Eusebius zählt in seiner Kirchengeschichte u.a. Jak. und Jud. zu den umstrittenen Schriften (vgl. Hist. Eccl. III, 25, 3), auch bezüglich der Offb. gingen, so Eusebius, die Meinungen auseinander (vgl. Hist. Eccl. III, 24, 18).

21 Vgl. WA DB VII, 345, 2-12. 13-15.

22 Vgl. WA DB VII, 387, 21-30.

23 WA DB VII, 404, 8 (Vorrede von 1522!). Luther hat sein harsches Urteil über die Offb. 1530 abgemildert, ihr allerdings weiterhin eine apostolische Verfasserschaft abgesprochen.

24 WA DB VII, 387, 16.

25 Auf eine Dreiteilung kann man aus dem Text »wilchs die rechten und Edlisten bucher des newen testaments sind« (1522, WA DB VI, 10, 9-35) schließen. Bornkamm macht allerdings darauf aufmerksam, dass dieser Text in den Bibelausgaben seit 1534 fehlt, sowie, seit 1539, in den Sonderausgaben des NT (Vgl. Bornkamm, H. (Hrsg.): Luthers Vorreden zur Bibel, 31989 Göttingen, 173, Anm. 12).

26 Vgl. Metzger, B.: Der Kanon des Neuen Testaments. Entstehung, Entwicklung, Bedeutung, Düsseldorf 1993, 233.

27 Vgl. a.a.O., 232, Anm. 31.

28 Vgl. WA DB VII 385, 20.23.

29 WA DB VII, 385, 25-28.

30 WA DB VII, 385, 9.19. So auch Schwarz: »[D]och bleibt er [Luther, C.H.] dabei, daß der Jakobus-Brief, abgesehen von anderen [!] theologischen Schwachpunkten, nicht das Hauptkriterium des ›Apostolischen‹ erfülle, die Verkündigung des mit Jesus Christus allen Menschen angebotenen Heils.« (Schwarz, 62)

31 Vgl. Bornkamm, H.: Einführung zu Bornkamm, H. (Hrsg.): Luthers Vorreden zur Bibel, 31989 Göttingen, 11-38, 31.

32 Vgl. WA DB VII, 404, 26-30.

33 Vgl. dazu den 2. Hauptteil.

34 WA DB VII, 385, 7.

35 Vgl. Armbruster, J.: Luthers Bibelvorreden. Studien zu ihrer Theologie (AGWB 5), Stuttgart 2005, 144.

36 WA 39/1, 47, 21-22: »Quod si adversarii scripturam urserint contra Christum, urgemus Christum contra scripturam.« (Deutsche Übersetzung nach: Martin Luther. Lateinisch-Deutsche Studienausgabe, Bd. II, Leipzig 2006, 409.)

37 Vgl. Härle, 139; Leonhardt, 185.

38 WA 39/1, 44-48.

39 WA 39/1, 47, 3-4. »Et scriptura est, non contra, sed pro Christo intelligenda, ideo vel ad eum referenda, vel pro vera Scriptura non habenda.« (Deutsche Übersetzung nach der LDStA II 407).

40 Die Thesen 42-45 (WA 39/1, 47, 5-12).

41 Baur, 72 (Hervorhebung: C.H.).

42 So etwa bei Schempp, P.: Luthers Stellung zur Heiligen Schrift, in: Theologische Entwürfe (TB 50), hrsg. v. Widmann, R., München 1973, 10-74, 60.

43 »Nicht der hat Religion, der an eine heilige Schrift glaubt, sondern welcher keiner bedarf und wohl selbst eine machen könnte.« (Schleiermacher, F.D.E.: Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern (PhB 225), Hamburg 1970, 122)

44 WA 39/1, 47, 27.29. »Imo novos Decalogos faciemus…« »Et hi Decalogi clariores sunt, quam Mosi decalogus…« (Deutsche Übersetzung nach der LDStA II 409).

45 WA 39/1, 47, 38f: »certis mandatis et scriptis apostolorum adhaerere« (Deutsche Übersetzung nach der LDStA II 409).

46 WA 39/1, 48, 1-4. »59. Non enim sumus omnes Apostoli, qui certo Dei decreto nobis sunt infallibiles doctores missi. 60. Ideo non illi, Sed nos, cum sine decreto tali simus, errare possumus et labi in fide.« (Deutsche Übersetzung nach der LDStA II 409) Auf diese Stelle weist auch O. Hofius hin: Die Einzigartigkeit der Apostel Jesu Christi, in: Ders.: Exegetische Studien, Tübingen 2008, 189-202, 201, Anm. 72.

47 WA 45, 35, 28.

48 Gegen Beutel, A.: Luther und die Bibel, in: Beutel, A. (Hrsg.): Luther Handbuch, Tübingen 2005, 444-449, 446.

49 WA 45, 35, 28-37.

Über die Autorin / den Autor:

Rektor Dr. theol. Clemens Hägele, Jahrgang 1972, Pfarrer der Württ. Landeskirche, Promotion bei Prof. Oswald Bayer über die Schriftlehre Adolf Schlatters, zeitgleich wiss. Mitarbeit bei Prof. Rainer Riesner im Fach NT an der Universität Dortmund, 2006-2011 Pfarrer in Darmsheim/Sindelfingen, seit 2011 Studienleiter im Albrecht-Bengel-Haus, einer studienbegleitenden Einrichtung in Tübingen, seit September 2016 deren Rektor.

Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 10/2016

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