Im November 2011 hatte die Universität Harvard Martin Walser eingeladen, eine Rede zu halten. Sie erscheint dieser Tage in Buchform beim Rowohlt-Verlag unter dem Titel »Über Rechtfertigung, eine Versuchung. Zeugen und Zeugnisse«. Markus Chmielorz und Christoph Fleischer unterziehen Walsers Rede – auch unter Berücksichtigung verschiedener beabsichtigter und unbeabsichtigter Kontexte – einer dekonstruktivistischen Analyse.
»Mind the Gap« – in den U-Bahnhöfen Londons warnt dieser Ausdruck vor der Lücke zwischen Bahnsteig und Zug. Eine dekonstruktive Lektüre würde wohl diese Warnung z.B. auf den Vortrag von Martin Walser anwenden, ohne diesen jedoch daran hindern zu wollen, aus säkularer Sicht, der Perspektive des Schriftstellers, den Übergang zwischen der literarischen Gegenwart und der Religion zu versuchen1. Ist nicht die Lücke gerade das, was uns daran interessiert? Oder geht es gar um den Riss in der Gegenwart, der hin und wieder von der Kunst ins Bewusstsein gerufen wird, wozu hier auch der Schriftsteller Martin Walser beiträgt. Ist diese Rede eine Wiederaufnahme der Rede von Jürgen Habermas aus dem Jahr 2007 unter der Überschrift »Ein Bewusstsein von dem, was fehlt«?2 Bei dem Hinweis soll es zunächst bleiben.
Die zuvor beschriebene Fragestellung des Gap, des Übergangs, wird nicht in der Einleitung der Rede oder der Überschrift entfaltet. Wohl mögen theologisch berührte Leser beim Titel »Über Rechtfertigung, eine Versuchung« an ein Modell protestantischer Religion denken. Doch dass dieses hier gemeint ist, wird nicht ausgesprochen. Vielleicht ist das auch schon eine Fragestellung, die vom Ende her zu beantworten ist: Wer hat sich zu rechtfertigen? Wer sieht sich als gerechtfertigt an? Und wann und unter welchen Umständen? Wird jemand gerechtfertigt oder rechtfertigt man sich selbst? Hat sich gar der Autor zu rechtfertigen, weil er eine Rede am 9. November hält, weil er sie in den USA – immerhin in Harvard – hält und nicht in Deutschland.
Eine Kette von Daten und ein möglicher Kontext von Walsers Rede
Hätte Martin Walser seine Rede hier gehalten, hätte er die Bedeutung des Datums, dessen, was historisch vorgegeben ist, nicht übergehen können, den 9. November: 1918, 1923, 1938 und 1989. Nicht immer ist es bloßer Zufall, dass die jeweiligen Ereignisse auf das gleiche Datum fallen. Der 9. November ist eines der wichtigsten Daten der deutschen Geschichte. Den Bezugsrahmen bildet die nationalsozialistische Diktatur. So hat Adolf Hitler sowohl im Jahr 1923, als auch im Jahr 1938 bewusst den 9. November als Datum der deutschen Kapitulation in Versailles 1918 (und nicht als Ende des Krieges, des Kaiserreiches und des Beginns der ersten Demokratie in Deutschland) gewählt, um 1938 in der Reichspogromnacht an den in Deutschland lebenden Juden der nationalsozialistischen Ideologie zu Folge eine »Vergeltung« der »Schande« der Kapitulation zu inszenieren, die nichts anderes war, als ein Vorwand für Verfolgung und Mord. Dass 1918, wie auch 1989, das Ende eines Staates durch demokratische Bewegungen auch als eine Befreiung zu feiern waren, ist eine Interpretation, die sich gegen Nationalismus, Imperialismus und Krieg (1918) und gegen Diktatur (1989) stellt.
Und so kommt gleich zu Beginn der Rede bei den Hörern und Lesern die Frage auf: Bedenkt Martin Walser deutlich und bewusst die November-Pogrome der Nazis gegen jüdische Geschäfte, den Brand vieler Synagogen, den Beginn der Auslöschung des Judentums auf europäischem Boden, wie es andernorts in Gedenkfeiern sicherlich zumeist an den Orten geschah, an denen einmal Synagogen standen, die im Lauf dieser Nacht in Brand gesteckt worden sind? Spricht er ausdrücklich ein Wort des Gedenkens? Die so klar gestellte Frage muss verneint werden. Und es scheint zunächst, dass sich der zeitliche Zusammenhang von Martin Walsers McCloyd Lectures zum Datum des 9. November eher zufällig ergeben hat, so dass auch keine ausdrückliche Rede zu diesem Thema erwartet worden ist.3
Indem ich (C.F.) so einsteige, merke ich schon, dass es nicht möglich ist, die Rede »Walsers« sozusagen von vorn bis hinten dekonstruktiv zu lesen und zu kommentieren. Der erweiterte Textbegriff Derridas drängt dazu, den Kontext hinzuzunehmen und so von der Ausgangsfrage zu beginnen, nach bestimmten Fragen vorzugehen, die uns sozusagen direkt vor die Füße gelegt werden. Dabei bleibe ich am Text und seiner Situation, wobei ich also das Datum und den Ort als textimmanent ansehe4. Dem Text der Rede, so wie er auch in der Langfassung veröffentlicht worden ist, kommt eine doppelte Funktion zu. Zum einen ist er keine Gedenkrede, also völlig frei in der Wahl der Stilmittel. Zum anderen werden gerade die Leser in Deutschland sehr neugierig sein auf das, was Martin Walser im Zusammenhang dieses Datum zur Frage zu sagen hat, wie er heute zur Erinnerung an die Ereignisse des Holocaust und der Vernichtung des Judentums steht.
Schuld – Schande – Schlussstrich
»Walser« zitiert am Anfang seiner Rede Kafka. Dass dieser Schriftsteller ein Bezug zur Frage des historischen Kontextes dieser Rede ist, kommt später in den Blick5. Auch 1998 hatte Martin Walser seine in der Paulskirche gehaltene Rede eingebunden in eine autobiografische Skizze, in der er politische und zeitgeschichtliche Zwischenrufe seinerseits, die in der Öffentlichkeit aufgenommen wurden, erwähnt. Zugegeben sei, und dies ist sicher ein wichtiger Punkt, dass er es nicht als seinen Beruf ansieht, sich in Reden zu Wort zu melden, sondern dass er als Autor Bücher schreibt, die vom Publikum sogar gern gelesen und aufgenommen wurden. Er hat eine gewisse Prominenz erlangt und redet quasi als Prominenter. 1998 erhielt er den Friedenspreis des deutschen Buchhandels und spricht in seiner damaligen Rede eben nicht vom »Schlussstrich« unter der Aufarbeitung der Geschichte des Nationalsozialismus, wie es ihm anschließend vorgeworfen wurde. Allerdings sprach »Walser« mit Worten, die ihn eben so haben verstehen lassen. In seiner aktuellen Rede geht er zurück zum Jahr 1998: Anstelle von »Schuld« hatte damals er von »Schande« gesprochen im Blick auf die Vernichtung der europäischen Juden während der nationalsozialistischen Terrorherrschaft. Dabei ist er, so will er es hier auch aufgenommen wissen, von 1964 an und später einer derjenigen gewesen, die die Erinnerung an Auschwitz wach gehalten haben, und sagt, dass er sich auch dafür eingesetzt hat, dass sie wach gehalten wird.
Doch, wer von »Schande« anstelle von »Schuld« spricht, verändert die Diskussion und stellt sich somit die Frage der (Selbst-)Rechtfertigung. Dekonstruktion hätte hier zu fragen: Was hat im Jahr 1998 bewirkt, dass diese Begriffsverschiebung im Sinne eines von ihm so genannten »Schlussstrichs« aufgefasst worden ist? Könnte denn eine dekonstruktive Lesart der Verschiebung von »Schuld« zu »Schande« eine beabsichtigte Veränderung des Abstands zu den geschichtlichen Ereignissen, eine Form von Distanzierung, der Verharmlosung, des »Schlussstrichs« nachweisen? Ein Aufsatz wie der vorliegende, eine Rede über Rechtfertigung, die der Titel ankündigt, hätte dann eine Reflektion der Begrifflichkeit von »Schuld« enthalten müssen. In diesem Zusammenhang fällt auf, dass die Worte »Walsers« durchaus deutlich sind; er zitiert eine eigene Aussage von 1979, sich selbst: »Seit Auschwitz ist noch kein Tag vergangen.« Formal, also auf der Zeitebene gesehen, hebt diese Formulierung jede Distanzierung auf. Faktisch aber ist sie eine Formulierung im Sinn einer rhetorischen Figur, einer Hyperbel.6 Die Brillanz seiner Rhetorik und die Sprachkraft seiner Bilder ersetzen hier die Stringenz seiner Argumente. So fällt auch im Nachhinein auf, dass Walser den Hörerkreis von Anfang seiner Rede an im Unklaren lässt über den Ablauf und über die Themen seiner Ausarbeitung. Was rhetorisch eigentlich ungeschickt ist, macht er in fast homiletischer Manier. Er geht einen argumentativen und bebilderten Weg der Assoziationen, die er reichlich ausmalt. Argumente kommen, aber sie werden nicht durch Syllogismen ausgearbeitet, sondern metaphorisch befrachtet, sodass sie sich rhetorisch von selbst verstehen. Er bedient sich reichlich des Mittels des Zitats, und stellt sich so in eine Reihe von Gewährsleuten. Dieses Verfahren nannte Aristoteles das Enthymem, einen Schein-Syllogismus. Klingt logisch, ist einleuchtend, aber nicht rational, sondern eher emotional tragend.7
Ohne jetzt ausführlich Lexika zu bemühen, wäre zu sagen, dass Schuld durch ein Gegenüber gekennzeichnet ist, das außerhalb meiner selbst liegt, sei es bei der Schuld an einem Unfall, sei es bei einer finanziellen Schuld oder der Schuld in einem Gerichtsverfahren. Schuld lässt sich bemessen, oder wird es sozusagen. Auf Auschwitz bezogen ist damit wohl klar, dass mit dem Begriff der Schuld die Opfer im Blick sind. Der Begriff der Schuld hat allerdings den Nachteil, dass er sich in diesem Sinn wohl auf die Täter beschränkt und die nachfolgende Generation nicht einbeziehen kann, denn Schuld ist in einen Tat-Folge-Zusammenhang eingebunden. »Schande« dagegen ist ein der Scham verwandtes Gefühl, dass man wohl auch sich selbst gegenüber fühlt. Schande ist ein Phänomen des Gewissens, das aber nicht durch eine Satisfaktion oder Legitimation bereinigt werden kann. Insofern wäre Walser Recht zu geben, dass sich wohl Schuld in Schande verwandelt oder verwandeln kann. Allerdings kann die »Schande« die »Schuld« nicht ersetzen. Und moralisch gesehen muss man vor »Schande« sogar Angst haben, weil sie zu Gedanken der Rache oder Wiedergutmachung führt, die die Kette der Schuld in die Zukunft hinein verlängern würde. Man siehe z.B. nur die Begründung des Ehrenmords, der dadurch ausgelöst wird, dass Ehre beschmutzt wurde und Schande über eine Familie gebracht wurde. Schande wird nicht ausgelöscht, sondern durch eine Form der Reinigung beseitigt (Ps. 51,9: »Entsündige mich mit Ysop, dass ich rein werde; wasche mich, dass ich schneeweiß werde«).
Wer genau hinsieht, und das ist ja wohl mit dem dekonstruktiven Blick gemeint, sieht in folgender Formulierung Walsers wohl den Versuch der Selbstreinigung. Ein Indiz dafür ist auch, dass dieser Abschnitt mit dem Wort »Ich« beginnt: »Ich habe mein Leben als Schriftsteller auch im Reizklima des Rechthabenmüssens verbracht. Und habe erlebt, dass die ablenkungsstärkste Art des Rechthabens die moralische ist. Den Eindruck erwecken müssen, man sei der bessere Mensch. Wer diesen Eindruck einmal hat von sich, dessen Gewissen ist domestiziert. In unseren heutigen Literaturen kommen Fälle von gravierendem Rechtfertigungsmangel nicht mehr vor. Rechtzuhaben genügt zur Rechtfertigung…«8
Ein klares Bekenntnis zur eigenen Schuld, auch der Schuld, die darin liegen mag, eine missverständliche Formulierung gebraucht zu haben, ist mit solchen verwaschenen Sätzen nicht gegeben. Jedoch bricht hier das metaphorische Element auf. Der heutige Autor, der »Walser« ja auch ist, legt es darauf an, plausibel zu wirken. Einem Zwang zur Rechtfertigung unterliegt er nicht. Jedoch hat er den Anschein zu erwecken, Recht zu haben. Er hat ein damit »domestiziertes Gewissen« und unterliegt also nicht dem Zwang der Gewissenserforschung. Um die vorgenannten Begriffe hinzuzunehmen, sagt er also, dass der so auf das Rechthaben fixierte Autor, auch er selbst, sich nicht nach »Schuld« fragt, sondern allenfalls nach dem, was sein Image beeinträchtigt, also »Schande« für ihn wäre. Insofern redet er sich hier tatsächlich nicht wirklich raus, sondern reitet sich weiter rein.
Rechtfertigung – Wie denn sich rechtfertigen?
Das Thema bricht ab. Walser kommt jetzt zur Rechtfertigung in religiöser Hinsicht, und der Hörerkreis wird gar nicht sofort gemerkt haben, wieso dieses Thema jetzt dran ist. Er schildert den Theologen Karl Barth als jemanden, »dem es tatsächlich gelingt, aus dem Wettbewerb des Rechthabenmüssens auszusteigen«. Es geht hier wohl um eine Form der Erfahrung, die ein Mensch mit der Tat seiner Worte machen kann, dass sie nämlich ausgeschüttet sind wie Milch, die niemand wieder in einen Topf hinein bekommt. Dabei warnt das Sprichwort vor Selbstrechtfertigung mit der Formel: »Wer sich verteidigt, klagt sich an.« Hier ist Unverfügbares im Spiel, weil Menschen die Erfahrung machen, sich nicht selbst so steuern zu können, wie sie es gern würden. Worte sind bei mir anders gemeint, als sie beim Anderen ankommen. Aber erst die Ankunft der Worte beim Anderen macht ihre Evidenz und Wahrheit aus.
Wann also kommen die Theologie und die Religion ins Spiel? Wenn Menschen die Erfahrung machen, dass sie mit ihrer Selbstkompetenz und Sprachkompetenz andere verletzen können, ohne dies selbst zu beabsichtigen, was subjektiv gesehen unverfügbar ist? Das Wort »Schuld«, von dem Martin Walser 1998 wegzukommen bemüht war, hat auch den Nachteil, dass das Schuld-Strafe-System zur Berechenbarkeit neigt. Wer sich selbst in der Schuld weiß, sucht schnell auch die Mitschuldigen. Und dieser Vorgang kann auch in der Aufarbeitung der Geschichte immer so weiter gehen. Wer aber die »Schande« sieht, hat sich eigentlich nur selbst im Blick, wenn er auch gleichzeitig den Wunsch äußert, davon rein gewaschen zu werden. Aber wer ohne Schuld ist, oder keine Schuld mehr spürt, kann sich darum immer noch nicht von Schande lossagen. Das Wort Schande führt weiter, kommt aber unausgesprochen in die Nähe des Verlangens nach einem Schlussstrich – das ja auch von Kräften in der Gesellschaft ausgesprochen wird.
Hier wird eine zweite Erfahrung bewusst, die wohl auch von der Dekonstruktion offen gelegt wird, dass nämlich Sprache auch das offenbart, was nicht ausgesprochen worden ist, was wohl aber auch gemeint ist. Wer sich rein waschen will oder andere um Bereinigung bittet, will wohl auch selbst mit der Vergangenheit abschließen. Dass »Walser« die Vergangenheit in der Hyperbel als gegenwärtig bezeichnet, zeigt ja nicht, wie er es meint, das Gegenteil, sondern unterstützt doch geradezu den Wunsch, dass die Gegenwart damit nicht belastet sein möge.
Ein anderes Beispiel mag diese Beobachtung verdeutlichen: Vor 50 Jahren wurden aus ökonomischen Gründen »Gastarbeiter« aus der Türkei angeworben. Es bildete sich in Deutschland eine türkisch geprägte Bevölkerungsgruppe. Die Möglichkeit der deutschen Staatsbürgerschaft wurde erleichtert, zumal die nächste Generation der Einwanderer, die es inzwischen waren, in Deutschland aufwuchs und nicht die Türkei, sondern Deutschland als Heimat ansah. Gleichzeitig war und ist aber dieses Land von der Geschichte und der Vorgeschichte des Nationalsozialismus her von Fremdenhass geprägt. Als Einwanderungsland in der Mitte Europas ringt Deutschland um seine nationale Identität und macht diese wohl weniger am Land selbst als an der Sprache fest. Das gleiche Land holt sich Einwanderer für die Arbeit und lehnt diese als fremd ab und legt ihnen Bedingungen auf. Hier entsteht eine geschichtliche Schieflage, die ganz klar nicht von der türkischen oder türkischstämmigen, sondern von der nicht-integrationswilligen deutschen Bevölkerung geprägt ist, die zudem noch von der wirtschaftlichen Leistung der Einwanderer profitieren will. Faktisch ist das nichts anderes als das System der Sklaverei. In dieser Situation kann man wohl auch weniger eine Schuld sehen, es sei denn in unpassenden Gesetzen, als eine Schande. Vielleicht gibt es noch ein besseres Wort als dies, aber es trifft doch auch den Sachverhalt ganz gut. Hätte Martin Walser 1998 das Wort Schande in dieser Hinsicht als Selbstanklage, als Bußwort gebraucht, so hätte es ihm sicherlich keiner übel genommen.9
Eine Rettung ins Religiöse – Von der Gnadenwahl
Zurück zur Rede »Walsers«, deren Wechsel ins Religiöse jetzt wohl anscheinend das Hauptthema abgibt. Den Vorwurf an einen Atheisten in einer Podiumsdiskussion10, er hätte wenigstens sagen können, dass Gott fehlte, sehe ich nicht als eine Parallele zur Formulierung von Jürgen Habermas an, der das »Bewusstsein von dem, was fehlt« als eine Möglichkeit sieht, in säkularer Sprache religiöse Erkenntnisse zur Sprache zu bringen. Die Warnung »Mind the Gap« ist die Botschaft von Jürgen Habermas, der in alter Lessingscher Tradition an den garstigen Graben zwischen Neuzeit und der religiösen Tradition erinnert. Er verlangt ja geradezu von religiösen Menschen, oder besser gesagt, er sieht sie unter dem Anspruch, sich in der Gesellschaft mit ihrer Position säkular vermitteln zu müssen. Der Hinweis auf Gott als höchste Autorität ist in der Gesellschaft obsolet, die Argumentation des Naturrechts zieht nicht. Nur das ethische Dilemma kann auf die Möglichkeit hinweisen, aus der praktizierten Religion Themen und Positionen anzusprechen, die dann in der säkularen Welt auch auf Gehör stoßen, weil diese das Gefühl hat, dass etwas fehlt.
Es ist bei dieser Position immer ein wenig die Gefahr, dass Religion nur an den Grenzen menschlicher Erkenntnis zur Sprache gebracht wird, weil sich dort eine gute Anknüpfung ergibt. Faktisch geht es religiös geprägten Menschen gerade nicht darum, dass Gott fehlt, wie »Walser« es ausdrückt, sondern darum zu verkünden, dass er für sie da und präsent ist. »Walser« hat m.E. besser als Habermas verstanden, dass der dadurch eingeschlagene subjektivistische Weg keine Sackgasse sein muss. Und so leistet der Aufsatz, als den ich ihn am Ende der Rede wegen der mehr geschriebenen als gesprochenen Sprache sehe, dann sogar einen guten Hinweis darauf, wie sowohl nicht-religiös säkulare Menschen mit religiöser Sprache umgehen können, als auch wie religiöse Menschen das Verständnis der Vermittlung in die säkulare Welt hinein geben könnten. Es ist die Metapher der Schriftstellerei als Berufsrolle, die der Autor ins Gespräch bringt. Hier nimmt »Walser« der Religion Augustins gegenüber das Instrument der Dekonstruktion auf und fragt völlig zu recht: »Und die Nichterwählten, sagt Augustin, dienen durch ihr schweres Schicksal dazu, bei allen Menschen ›eine nützliche Furcht hervorzurufen‘. In diesem Roman weiß nämlich kein Mensch, ob er zu den Erwählten gehört, zu den Geretteten oder zu den Bestraften. Nur die Gnade entscheidet, wie es dir geht. Und Gnade ist nur, was unverdient ist. Als Roman gelesen heißt das: Was müssen diese Autoren erfahren haben, dass sie Gott so groß und den Menschen so klein erlebt und dargestellt haben.«
Nicht die Theologie ist der Roman, sondern die Religion selbst. Die Sprache der Religion ist – wie Literatur – ganz geprägt von den Erfahrungen der Autoren. Es ist gut, dass in der Bibel eben immer mehrere Autoren am Werk sind. Zugespitzt theologisch gefragt: Ist nicht in der Vermittlung der Tradition jeder Hörer und Verkünder, also Leser und Autor zugleich? Der Fokus liegt nicht auf den Personen. Es geht weder um Schuld, noch um Schande. Es geht um die Autoren der Religion, die wieder Gott den Autor ihres Lebens nennen. Menschen machen die Erfahrungen der Unverfügbarkeit, und es gelingt ihnen hoffentlich, ebenso Glück und Freude nicht nur auf ihre eigene Leistung, sondern auch auf Unverfügbares zurückzuführen. Und so folgert »Walser« klar: »Auch Gott ist nur eine Ausdrucksform des Weltgeschehens.« Hier wird sich eine Religion, die sich selbst metaphysisch im Sinn einer zweiten Wirklichkeit versteht, empört abwenden, und es wird ihr egal sein, auf wessen Schultern der Autor Walser hier steht. Walser legt sehr schön dar, dass Gottes Gerechtigkeit im Bild der freien Gnadenwahl zur Ungerechtigkeit wird und somit faktisch dazu dient, die Ungerechtigkeit der Welt zu rechtfertigen. Die (evangelische) Position, die in diesem System die Rechtfertigung durch den Glauben erwirkt sieht, senkt nur den Preis, ändert aber nicht das System. Erst Bonhoeffer, den Martin Walser hier aber nicht zitiert, erinnert an das Problem der billigen Gnade und verweist darauf, dass Glaube nur als Praxis, als Nachfolge wirklich Glaube ist. Walser belegt mit einem Zitat Nietzsches, dass diese Position der Rechtfertigung des Weltgeschehens durch den Gebrauch des Gottesbegriffs in der Theologie Jahrhunderte üblich war und dekonstruiert werden musste, um das Christentum als Religion zu bewahren. Nietzsche war so pessimistisch, dass er nicht mehr die Hoffnung hatte, dass solches möglich wäre. Der Glaube der Christen an Gottes Liebe funktioniert, so »Walser« mit Nietzsche, faktisch als »Selbstbegnadigung, Selbsterlösung«11. Insofern wird die Aussage, Gott fehle, schon fast zu einer gemilderten Wiedergabe der Gott-ist-tot-Theologie.
Nur indem »Walser« nun Barth mit Nietzsche liest, kommt er zu einer neuen Interpretation der Religion, die dann auch mehr sein kann als Selbstrechtfertigung. Für Barth war es wichtig, Gott als unanschaulich zu bezeichnen. Seine Theologie gründete in der negativen Theologie der Unerkennbarkeit Gottes. »Walser« lässt ihn hier jedoch stehen und greift erneut Nietzsche auf, der die Kierkegaardsche Reihenfolge von der Ästhetik zur Ethik wieder herumdreht12. Ja, die Ethik habe zur Ästhetik zu führen. Der Weg in die Metaphysik, der in der griechischen Tragödie begangen worden ist, sei zu dekonstruieren, die Metaphysik sei von der Ästhetik zu trennen und zu unterscheiden. Soll aber das zuvor Gesagte nicht völlig umsonst gewesen sein, soll der Glaube an Gott mehr sein als die Rechtfertigung des oft fremdgesteuerten Weltgeschehens, in dem Marx zu Recht das Opium des Volkes gesehen hat, soll Gott mehr und anders sein, als das was fehlt, das, was ins Dilemma führt und an den Grenzen unaussprechbar bleibt, dann wird der Roman der Religion, der diese nun einmal ist, neu erzählt werden.
Schuld als offene Frage
Walsers Aussage über die Erfahrung der Autoren, richtet sich nun gegen ihn selbst: Die Erfahrung, die die Autoren gemacht haben, muss offen gelegt und darf gerade nicht zugedeckt und gerechtfertigt werden, die Frage nach der Schuld muss also offen gehalten werden und nicht durch das Wort Schande erklärt und zugedeckt werden. Und wenn der Weg über die Frage der Schuld hinaus gegangen werden sollte, dann müsste er auch sprachlich klare Begriffe finden.13 Wer die Bibel kennt, weiß doch im Grunde, dass der Weg aus der Metaphysik in ihrer Abfassung selbst schon begonnen hat. Doch die Lektüreperspektive sollte dann auch geändert werden. Wer, wie Bonhoeffer sagt, von Gott nur an den Grenzen des Lebens spricht und ihn als Deus ex machina einer zweiten Wirklichkeit benutzt, betrügt sich selbst14 und die Menschen um die wahre Kraft der Botschaft, die den Schwachen gilt, die die Schwachen ja gerade stärken will und nicht schwach halten, wie wohl in vergangenen Jahrhunderten üblich. Ja, auch wir müssen die Bibel selektiv lesen. Aber nicht erst die Dekonstruktion zeigt, dass schon die vergangenen Generationen die Bibel ebenso selektiv gelesen haben. Um im Bild Jesu zu sprechen: Was auf fruchtbaren Boden fällt, das geht auf. Das andere nicht.
Weiter, weiter, weiter!?
Am Ende, im letzten Kapitel seiner Rede, ruft »Walser« noch einmal Franz Kafka auf als seinen Gewährsmann. Und Kafka, auf dessen »Prozess« sich »Walser« beruft, wird ihm nun zu einem Gewährsmann im Superlativ, Kafka sei »am meisten gelesen«, der, »der waghalsigere Sprechexpeditionen in die Sphäre der Rechtfertigung geleistet hat, als jeder andere Autor«, der »Prozess« die »rücksichtsloseste Gewissenserforschung«: drei Einstiegssätze, drei Höchststufen. Walser findet bei Kafka Sport, Hochsprung, Stabhochsprung, Gewissensstabhochsprung: »Dir macht er ihn vor.«
Sport? »Sport, der«, ein Substantiv, ist maskulin, eine als Wettkampf betriebene körperliche Ertüchtigung. Das ist die deutsche Seite der Bedeutung, der Körper des Tüchtigen, der sich misst mit anderen Körpern anderer Tüchtiger. Tüchtig ist, wer brauchbar ist, wacker, edel und gesittet. Geht es so in Kafkas »Prozess« zu? Doch das englische Verb to disport folgt dem Französischen soi deporter, dem selbstbezüglichen sich vergnügen, sich zerstreuen. Geht es so zu in Kafkas »Prozess«? Oder eher so: Das französische deporter, das ist das lateinische deportare, wegbringen, fortschaffen, verschleppen, eben deportieren. »Walser« bringt in dem Augenblick, in dem er sich und Kafka zusammenbringt, in Beziehung setzt, schon wieder auseinander. Der Autor der Rede, der Autor, der Martin Walser ist, das Ich, das da spricht, das von Verhältnissen der Größe und der Zeit spricht, von größer und kleiner, von früher und später, wenn er sich in Beziehung setzt zu seinem Gewährsmann, dieses Ich verschwindet nun: »Dir macht er ihn vor.« (Nämlich Kafka »Walser« den Gewissens-Stabhochsprung.) Und er schreibt: »Dass dir Unrecht geschehen ist, genügt nicht, dich im Recht zu sehen. / Weiter! Im Verachtetsein liegt die allergrößte Freiheits-Chance. / Weiter! Du bist nicht der, der du bist. Du wärst gern der, der du nicht bist. / Weiter! Sei einverstanden, ein Anfänger zu sein. / Weiter! Nichts ist so schwer zu fassen wie Lebensfreude. / Weiter! Die Sprache entspricht nichts als sich selbst. / Weiter! Ich gestehe also, dass ich mich nicht mehr berühren lasse von dem, was der Welt gerade am meisten wehtut. / Weiter! Das Lästige am Intellektuellendasein: man müsste andauernd an der eigenen Verurteilbarkeit mitarbeiten.«
Auf die Fragen kommt es an! Denn sie sprechen von dem Verlangen nach Ant-Wort, nach einem Ent-Gegen. Wem ist Unrecht geschehen? Wer sieht sich im Recht? Wer ist angesprochen im »dir«? (Und eben nicht »Dir«!) Der Autor sieht von sich ab und sich an. Er spricht nicht: Mir ist Unrecht geschehen! Er spricht nicht: Ich sehe mich im Recht! Genauer: »Dass dir Unrecht geschehen ist, genügt nicht, dich im Recht zu sehen.« Welche Geschichte liegt vor dem, dass einer zum anderen sagt (dass einer sich zusagt): Dir ist Unrecht geschehen! Ja, Dir ist Unrecht geschehen! Ja, ich, bekräftige Dich! Ich lege Zeugnis davon ab, was dir geschehen ist, was dir widerfahren ist, was du erlitten hast, was dir zugestoßen ist, woran du unschuldig bist. Wer spricht? Josef K.? Franz Kafka? Martin Walser? Und wenn es nicht genügt, dass einem Unrecht geschehen ist, um sich im Recht zu sehen – wie kommt einer dann dazu, sich dennoch im Recht zu sehen? Zu sagen: Du siehst Dich im Recht. Sich im Spiegel anschauen, sich selbst etwas zuzusagen in der 2. Person, die ich selbst bin.
Auch die folgenden sieben Sätze beginnen mit: »Weiter!« So endet die Rede Walsers, in einem »Weiter«. Es ist das Weiter der Erzählungen, in denen der Autor das unvermeidliche und vielleicht schon verpasste Ende herausschieben und ihm entkommen will. Eine Litanei des Weiter also. Ein Komparativ des Mehr, eine Steigerung, die dem Weniger noch immer entkommen will. Wer »weiter« sagt, der fürchtet die Enge, wer »weiter« sagt, fürchtet die Gegenwart, wer »weiter« sagt, vergisst den Boden unter den Füßen und flieht mit dem Auge zum Horizont. Wer »weiter« sagt, dem fällt es nicht schwer, das andere zurückzulassen. Weit gesagt, schon dehnt sich der Raum und führt ein neues Maß der Größe ein. Und das, was vorher noch zusammen war, strebt nun auseinander. Und so wird dem »du«, von dem Walser hier redet, das Verachtetsein zur Freiheit, das Sein zum Sollen. Aus dem kleinen Josef K. wird der große, sich selbst rechtfertigende Autor Martin Walser.
Die Welt als Sprache, Text, Roman – vom Anspruch, das Richtige zu sagen
Und dann (aber): »Weiter! Sei einverstanden, ein Anfänger zu sein.« Und im übernächsten Satz: »Weiter! Die Sprache entspricht nichts als sich selbst.« Was ist ein Anfänger? Einer, der anfängt! Was heißt anfangen? Einer beginnt etwas, bringt etwas zustande, fasst etwas an, nimmt etwas in Angriff. Ein Autor ist nichts anderes, als ein Experte des Anfangs. Er erfüllt die Leere des Anfangs mit Sprache, mit seiner Fähigkeit zu sprechen, mit einem System von Zeichen, mit dem er Verständigung sucht, in denen er ein Mittel sucht, sich zu verständigen, sich und die Welt zu begreifen, eine Bedeutung zu finden. Und wenn dieses »Weiter!« nichts weiter ist, als dass es Sprache ist, die nichts entspricht als sich selbst? Wenn dieses »Weiter« und das »!« den Leser bloß dorthin führen: zum nächsten sprachlichen Zeichen? Dann aber führt das »Weiter!« zu nichts anderem, als sich selbst eingedenk zu sein, ein Zeichen unter anderen Zeichen, eine Spur bloß, die von einer Spur spricht.
Etwas schön finden, die Zukunft ins Spiel bringen, etwas Gestehen, ein Lob der Dissonanz singen, Prometheus herbeirufen, doch nicht den sagenhaften, den himmelstürmenden, den vorausdenkenden, den gefesselten, sondern den von Aischylos erzählten, die Kunst ins Spiel bringen, davon spricht »Walser« in seiner Rede – und nimmt ein zweites Mal seine Litanei des »Weiter!« auf. Das literarische »Du« dieser Rede spricht davon, sich selbst in der 2. Person im Spiegel anzuschauen: »Immer würgte das interessante Wort das richtige ab.« Was ist das, das richtige Wort? Das fehlerfreie, das zutreffende, das, das so ist, wie es sein soll, das den Tatsachen entspricht, das gerade ist und gleich, das nicht abweicht, nicht gebogen ist und krumm, das sich richtet, das in die rechte Ordnung bringt, das gut ist und rechtschaffen, das andere richtet, in Lage und Stellung bringt? Das ist das Wort, das Walsers »Du« den Anspruch zu sprechen hat und an diesem Anspruch (zunächst) scheitert: »Während Du gesprochen hast, spürtest du, dass du es nicht ausgehalten hättest, das, was du sagen wolltest, einfach zu sagen.« Weiter: Walsers »Du« spricht von der »Vorliebe« für das Gegenteil, vom Unterdrücken und Verschweigen, vom neuen Ton, von einer neuen Sprache, vom Sich-nicht-Trauen: »Es ist durch dich nichts möglich geworden.« Es spricht vom Unmöglichen, sich dem Anspruch des einzig Richtigen zu stellen. Wie ist es einem, der das spricht: »Wohin sich wenden, wenn man weg muss von sich?« Aus dem Ich des Autors, aus dem Du ist das »man« geworden, ist irgendjemand geworden, sind alle Menschen geworden. Wie ist es einem, der das spricht: »(...) Kommt deine ganze Illegimität zum Ausdruck.« Wie ist es einem, der spricht: »Du schaffst es nicht.« Wie ist es einem, der sich »Heuchler« nennt? Und: Was hätten wir Unerhörtes gehört, wenn »Walser« denn das richtige Wort gefunden hätte? Wem hätte er es, sich nun endlich selbst legitimierend, ins Gesicht gesagt? »Walser« schließt seine Rede, mit dem Vortrag seines Gedichtes »Wintermorgen«: »Weiter! Erwachend kaum / und zugedeckt vom frommen Schnee / sinken wir zurück zur Frühe. / Dem Kristall der schönen Not / Entkommt nur Licht. / Ich möchte nichts wissen, / was die Kerze nicht weiß. / Die Welt gehört unter die Haube.«
Wer kaum erwacht, lebt in jenem Land zwischen Traum und Wachen, jenem Land zwischen Strand und Meer, das die alten Griechen zu betreten sich nicht trauten. Auch der fromme Schnee führt, deckt er einen zu, zum Tod, mag einer noch so sehr von einer religiösen Überzeugung durchdrungen sein, mag einer noch so sehr gelernt haben, was sich frommt und zu Nutzen ist. Wer zur Frühe zurücksinkt, der lebt in jenem Land der Dämmerung, dort, am Anfang, wo das Zurücksinken ein Nach-unten-Gleiten in die Welt des Traumes ist, des Unbewussten, des Versinkens, des Sich-Versenkens, in dem der (moderne) Mensch sich bar seiner Vernunft empfindet. Wer im Plural spricht von sich, der braucht die Mehrzahl, wie sonst nichts auf der Welt. Wer den Kristall der schönen Not besingt, dem bedeuten Armut, Elend und Mangel so viel wie ein gleichmäßig angeordneter, von ebenen Flächen begrenzter Körper, ein funkelndes, wertvolles frostiges Eis. Das Licht entkommt ihm, das Helle, Leuchtende, Strahlende, Klare mit weiten Zwischenräumen. Und auf das Entkommen kommt es an. In diesem »ent«- klingt die Hinwendung zu einem Gegenüber an, der auf-hebende Gegensatz einer Handlung des Von-weg-Hin-zu, die Ent-fernung. Die Kerze ist es, die vom Werg weiß, vom Zunder, vom Docht, vom Brennen, vom Licht, vom Verzehren, von der Umwandlung von Energie. Und die letzte Zeile: »Die Welt gehört unter die Haube.« Die Haube ist die Kopfbedeckung für Frauen, und unter die Haube kommt sprichwörtlich die, die sich verheiratet. Die Haube, das ist die Sturmhaube des Soldaten, der in den Krieg zieht. Das also ist die Welt: Frauen und Männer, gebären und töten. Was sich gehört, gebührt sich, und die Haube wird zum Sinnbild des Folgsamen, Willigen und Braven. Und eine Kerze, die unter die Haube kommt, erlischt, oder sie verbrennt die Haube, je nach dem, wie viel Sauerstoff bleibt.
»Walser« läutet das Ende seiner Rede noch einmal mit »Weiter!« ein. Sein Ende spricht vom Gegensatz: Hier die Sprache der Literatur, dort die Welt. Und es liegt der Schluss nahe, dass die Literatur und der Autor streben: dem Licht entgegen – wenn der Autor nicht selbst das brennende Werg ist. In diesem Licht geht es um das richtige Wort, in diesem Licht geht es dem Autor um seinen An-Spruch und um seine Legitimität, um seine Rechtmäßigkeit. Es ist dies eine Rechtmäßigkeit, die Sein und Sollen ins Verhältnis setzt, die herrschende Rechtmäßigkeit, die von Oben und Unten spricht. Dies ist der Anfang, an den »Walser« zurückkehrt, der Anfang, die arché, herrschend, unerbittlich. »Walser« redet sich in die Spur Kafkas, doch zum Vorschein kommt bei ihm nicht, dass Josef K. die Rechtmäßigkeit ex negativo in den Körper eingeschrieben ist. Die Spur Kafkas zeigt bei Walser nichts anderes, als ihn selbst. Ich (M.C.) drehe die Achse der Zeit um 90 Grad und Kafka, Walsers Vorgänger, Walsers Gewährsmann verschwindet klein, weit hinten. Und davor schiebt sich das Bild Martin Walsers als ein Autor, der von sich glauben machen will, ihm sei – wie Josef K. – nichts anderes gemacht worden als der Prozess. Doch in dem Moment, in dem Walser sich in die Form des Josef K. hinein begibt, erfährt er zugleich, dass es kein anderer als er selbst ist, der sich den Prozess macht. Sein Wunsch endlich, endlich legitimiert zu sprechen wird nichts mehr als ein neuer Ausweis seiner Illegimität. Und die erhoffte Erlösung bleibt am Ende dieser Rede – Dichtung: als der Pfropf, der das Disparate ebenso benennt wie er darüber hinwegtäuscht. »Rechtfertigung« als Legitimation bleibt also »Walser« verwehrt.
Ist so eine Lebensbilanz, in der am Ende der Erfolgreiche Recht behält und der im Unrecht sich Wähnende sich darauf hinweisen lassen muss, dass er trotz seines Unrechts nicht zwangsläufig Recht behält? Wie können wir unsererseits »Walsers« Spur nachzeichnen, ohne uns der gleichen Fehler schuldig zu machen, das ist wohl die Frage, auf die uns die Dekonstruktion geführt hat und auf die uns die Auseinandersetzung mit Geschichte immer hinweist. Eine Antwort darauf gibt es nur in vollzogener Praxis, im Eingeständnis, das spricht: »Ich habe Schuld«, »ich bin verantwortlich«, eingedenk aller Unverfügbarkeit und des Wunsches, den Mut haben zu dürfen, dem Leben noch ein paar gute Worte gönnen zu können.
Anmerkungen:
1 Martin Walser: Über Rechtfertigung, eine Versuchung. Die Universität Harvard hatte Martin Walser zum 9. November eingeladen, eine Rede zu halten. Quelle: FAZ, 10.11.2011, 33, ausführliche Fassung im Internet: http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/autoren/martin-walser-ueber-rechtfertigung-eine-versuchung-11521202.html (Stand: 9.11.2011). Zur Dekonstruktion gehört nicht die Frage der Kommentatoren, ob es moralisch verwerflich ist, sich einer eigenen Dissertation zu rühmen, wohl aber die Frage, wozu diese Erwähnung dient. Im Folgenden sind alle Zitate, die dieser Rede entnommen sind, kursiv gesetzt. Wird auf den Autor der Rede Bezug genommen, schreiben wir »Walser«.
2 Jürgen Habermas: Ein Bewusstsein von dem, was fehlt, in: Ein Bewusstsein von dem, was fehlt, Eine Diskussion mit Jürgen Habermas, Herausgegeben von Michael Reder und Josef Schmidt, Edition Suhrkamp Frankfurt/M. 2008, 26-36.
3 Laut Info auf der Homepage der McCloy-Stiftung hielt Walser die Rede am 9. November 2011 in der John F. Kennedy School of Government (http://www.mccloys.org/), die zeitliche Nähe zum 9. November war zufällig und spielte für die Themenwahl keine Rolle (auf Nachfrage bei der McCloy-Stiftung).
4 Die Veröffentlichung in der FAZ war zeitnah und demnach schon vor der Aufführung der Rede veranlasst. Ein zeitlicher Zusammenhang mit dem 9. November lässt sich als Fragerichtung da nicht ausschließen, zumal Martin Walser selbst auf dieses Thema zurückkommt. Zu konstatieren ist nur, dass es von Ort und Anlass her keine Rolle spielt und daher auch keine Gedenkrede erwartet worden ist.
5 Walser betont ausdrücklich, schon immer und völlig selbstverständlich jüdische Autoren gelesen und seine Promotion über Kafka geschrieben zu haben.
6 Übertreibung.
7 Vgl. Enthymem, in: http://de.wikipedia.org/wiki/Enthymem (Stand 9.12.2011).
8 Eine Bestätigung für dieses Argument der Dekonstruktion findet sich in Walsers Interview mit dem »Südkurier« nach seiner Amerikareise. Im Internet: http://www.suedkurier.de/news/kultur/kultur/Interview-mit-Martin-Walser-Boston-das-war-sagenhaft;art410935,5247102 (Stand 9.12.2011).
9 Elie Wiesel schrieb 1998 in der Wochenzeitschrift »Die ZEIT«: »Ich möchte nicht, daß ihre jungen Landsleute ›in der Schande‹ leben. Im Gegenteil: sie sollen wissen: Indem sie sich der Erinnerung an die Opfer stellen, werden sie ihre Ehre entdecken, die aus der Wahrheit rührt. Wird sie das Schmerzen? Zweifellos. Aber sie werden weder Scham noch Schande empfinden.« http:// www.zeit.de/1998/51/199851.wiesel.xml
10 Walser gegen Plasberg in Harvard? S. dazu im Internet: http://www.relimedia.de/?p=717 (Stand: 9.12.2011).
11 Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches, zit. n. Walser, ebd., ohne Quellenangabe.
12 Vgl. Theodor W. Adorno: Kierkegaard, Suhrkamp Verlag Frankfurt/M. 1962.
13 Martin Walser erzählt in seinem Buch »Muttersohn« (2011) von einem Motorradclub, der quasi zu einer rechtsradikalen Bande mutiert, Morde verübt und dieser Gewaltmetaphorik ein satanistisches Vokabular unterlegt. Diese (Schreckens-)Vision erinnert doch fatal an die Morde des »Nationalsozialistischen Untergrunds«. Der Begriff »Schande« scheidet aus der deutschen Sprache ja schon fast deshalb aus, weil er im Hitlerschen Sprachgebrauch fest verankert war, z.B. als »Rassenschande«.
14 Der Kommentar in der »WELT« zitiert in gleicher Meinung den katholischen Theologen George V. Coyne, der gleichwohl im Vatikan in Unehre fiel; im Internet: http://www.welt.de/kultur/article13719640/Die-ueberselbstgerechte-Theologie-des-Martin-Walser.html (Stand: 9.12.2011).
Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 3/2012