Vor 50 Jahren, am 6. März 1974, ist der Dichter Peter Gan in Hamburg gestorben. Ich würde mich freuen, wenn ich auf sein wunderbares Werk neugierig machen könnte und beginne deshalb mit ein paar Kostproben, die teils aus größeren Zusammenhängen herausgenommen sind:
Tod
Ach niemand weiß, selbst wenn er alle Bücher liest,
ob er im Tod die Augen öffnet oder schließt.
Du
Es ist kein größer Wort als „du“.
Ein „du“ schließt alle Wunden zu
und schließt in allerletzter Stund
dem Höllenrachen selbst den Mund.
Der Duzfreund
Wer will es wagen, dies je auszudenken:
die Ewigkeit, o ich, sagt Du zu Dir!
Sie will Dir selber ihr Vertrauen schenken.
Und Du, o ich, sag’ an, wie lohnst Du’s ihr?
Haarspalterei
Wie sonderbar ist doch der Mensch! Er lebt und denkt
und spaltet selbst das Haar, an dem er selber hängt.
Alte Bäume
Ich höre mir so gern die alten Bäume an.
Sie rauschen so genau, was ich nicht sagen kann.
Die Hand
Nichts hat Bestand, nur eins bestimmt:
Die Hand, die gibt, ist auch die Hand, die nimmt.
Zu guter Letzt
Versöhnung ist! Herz, glaube dir!
Denn zwar nicht jetzt, denn zwar nicht hier,
trägt unterm Herzen hier und jetzt
doch Herzens Herz: Zuguterletzt.
Es geht uns sofort auf, wie das Denken und Dichten von Peter Gan religiös geprägt ist. Es geht um Tod und Ewigkeit, um Gott als unser Gegenüber, um das Geheimnis allen Daseins In dem folgenden Gedicht, geht es um eine Vorstellung, die wohl viele Menschen bewegt und beunruhigt: Ich werde einmal tot sein und in der Erde liegen. Nicht jeder kann ja mit dieser Vorstellung so robust fertig werden wie Martin Luther, der sich ungefähr so ausdrückte: „Wir wollen den Würmern einen feisten Doktor zum Fressen geben.“
Meine Toten
Meine Freunde liegen in der Erde,
meine Lieben wohnen unterm Gras.
Und ich weiß, in ein paar Jahren werde
ich, der dieses schreibe, auch so was.
Etwas unausdenkbar Fürchterliches,
selbst- und weltverfallen lieg ich da:
hier das eine Bein und da ein Schleim; bin ich es
wirklich, dem so Grässliches geschah?
Und ich kann dies wissen und kann leben?
kann am Schreibtisch sitzen und heut’ Nacht,
mich der Liebe süßem Spiel ergeben,
grad als wäre ich aus Stein gemacht?
Liebstes Kind, und hab’ ich dich vergessen,
weil du, o wie lange schon im Grund,
kaum noch übrig bist? denn Würmer fressen
deine Augen und den schönen Mund.
Gestern bin ich durch den Wald gegangen;
nichts zu suchen, Liebstes, war mein Sinn.
Und es hat zu regnen angefangen,
und es wehte und die Wipfel sangen,
dass ich dein, solang ich atme, bin.
(in einer anderen Fassung lautet die Schlusszeile:)
das ich dein, und mit dir, Gottes bin.
Peter Gan beschreibt hier die Verwesung in der Erde, mit einer gewissen Ironie, aber durchaus erschreckend. Mich hat dieses Grausen vor der Verwesung in meinem Leben immer wieder gepackt. Und da fällt mir ein: Als Kind „wusste“ ich es durchaus auch, dass ich einmal in der Erde liegen werde, aber es hat mir überhaupt nicht gegraust. Als Kinder haben wir offenbar so eine Art „natürlichen“ Glauben, dass die Verwesung nicht die letzte Wirklichkeit ist.
Eine ähnliche Wende vom Schrecklichen zum überraschend Tröstlichen nimmt das Gedicht „Freund Hein“.
Freund Hein
Wenn mir, wie neulich, Freund Hein versteckt
mit dem Zaunpfahl des Endes winkt:
wie mich’s dann, freilich, zum Tod erschreckt!
Alles versinkt.
Aber mein armer Schreck entdeckt
eine (die fast mich weinen lässt)
ängstliche Freude und hält erschreckt
sich an ihr fest.
Eine besondere und sehr originelle Gattung des Werkes von Peter Gan stellen seine „Preislieder“ dar. Aus den Überschriften kann man entnehmen, worum es geht. Da gibt es Preislieder auf eine „Seifenblase“, eine „Muschel“, einen „Glasbläser“ und ein Preislied auf das „Schneien“. Aber auch alltägliche Dinge und Vorgänge bedenkt Gan mit einem Preislied. So preist und dankt er seinem Ofen, der ihn im Exil und in der Internierung in Spanien über den Winter gerettet hat. Sogar ein Preislied auf das Rauchen findet sich. Die heute oft gescholtenen Raucher wird das freuen. Dieses Preislied beginnt mit folgenden Zeilen:
Der Raucher
In ein Wolkenspiel die Welt verwandeln,
halb ein Hoffen, hoffend halb ein Handeln:
sesselsanfte Flucht;
wenn’s in glüher Asche fröstelnd knistert,
und die Sorge, sonst dem Sein verschwistert,
blau das Weite sucht.
„Die Sorge blau das Weite sucht“ – man muss sich etwas Zeit nehmen, um diese Zeilen zu genießen. Trotzdem bin ich froh, dass ich mir vor 45 Jahren das Rauchen abgewöhnt habe. Als ich noch geraucht habe, war das (sorgenvertreibende) Rauchen meine einzige Sorge. Alle Sorgen hatte mir das Rauchen vertrieben, aber nicht die Sorge, wozu wohl das Rauchen führen würde. Aber es muss ja nicht immer nur eine Wahrheit geben. Rauchen hat eben auch etwas Schönes.
Hier noch ein anderes Beispiel für die Preislieder von Peter Gan, zwei Strophen aus der „Seifenblase“:
Preislied auf die Seifenblase
1.
Seifenblase! himmelwärts verloren,
aus Entzücken an der Welt geboren
und aus eines Kindes Vaterhand
in den Wind auf Wanderschaft gesandt.
3.
Du Gestalt aus nichts als reiner Hülle,
du aus Leere übervolle Fülle.
Wiederholung des verlornen Alls,
Wiederheilung seines Sündenfalls …
Mich bewegt schon die erste Zeile. Wie die beiden Worte „himmelwärts“ und „verloren“ hier nebeneinander gestellt sind.
Andere seiner Verse sind heitere Philosophie:
Etwas über etwas
GOTT IST. Warum? Wir wissen’s nicht.
Wir sind der Schatten. Er das Licht.
Wir wissen’s nicht. Warum? Weil wissen
bedeutet: nicht den Grund vermissen.
Beim letzten Grund jedoch vergisst
man gern, dass man den Grund vermisst ….
… Wo komm ich her? Wo geh ich hin?
Zwei tiefe Fragen ohne Sinn,
sofern die Antwort heißen muss:
aeterno ignorabimus, –
Was können wir trotzdem erreichen?
Die Frage sagt: Ein Fragezeichen!
Frage, die fragt, was Frage sei,
begreift sich als Kolumbusei,
aus dem sie selbst als Phoenix schlüpft
und gleich daran die Frage knüpft:
„Wer wird mir je in diesem Leben
und wann die letzte Antwort geben?“
womit sie selbst, genau besehen,
bekennt: „Ich will zugrunde gehen.“
Doch Frage ist ein armer Mann,
der nur an Antwort sterben kann;
und gerade diese Todesart
bleibt diesem armen Mann erspart.
Der Dichter Peter Gan wurde 1894 in Hamburg geboren, wo er auch aufwuchs und zur Schule ging. Er nahm am Ersten Weltkrieg teil, studierte dann Jura und promovierte. Ab 1926 veröffentlichte er Gedichte und Prosa unter dem Namen „Peter Gan“. Sein bürgerlicher Name ist Richard Moering. 1938 emigrierte er, zunächst nach Frankreich. Er floh dann nach Spanien. Von 1946 bis 1958 lebte er in Paris und kehrte dann nach Hamburg zurück, wo er am 6. März 1974 starb und im Familiengrab „Moering“ beerdigt ist. Seine „Gesammelten Werke“ sind im Wallstein-Verlag erschienen. Sie sind noch erhältlich und kosten 60 Euro.
Sein Schelm und seine Philosophie, seine Hoffnung und seine Ironie machen sein Werk unvergleichlich.
Dass ich nicht enden kann
Dass ich nie enden kann „zu sein“,
geht mir durchs Herz wie Honig ein;
nicht ebenso bestrickend durch
den Kopf, Im Gegenteil: ich furch’
die Stirne dieses Kopfs und denk
zwar reichlich vag und ungelenk:
„Bin, wenn ich nichts bin als „Sein“,
ich noch ich oder geh’ ich ein?
Jedoch mein Herz – ich wiederhol’
sein Zeugnis gerne – fühlt sich wohl
im Hochbesitz der Wissenschaft:
„Ich bin und bleibe dauerhaft.“
Doch dass im selben Sinn wie ich
Hans Wurst und Grete Blasenstich,
mein Nachbar, meine Nachbarin,
unsterblich sind wie ich es bin:
Nein! das kann doch gewiss nicht sein,
und ist geschmacklos obendrein.
Thomas Schleiff
Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 3/2024