2024 jähren sich die Ereignisse um die Barmer Theologische Erklärung zum 90. Mal. Für Gisela Kittel bietet sich damit die Gelegenheit, ein besonderes Dokument zur Veröffentlichung zu bringen: den Bericht einer Zeitzeugin über die Kommunikation der Beschlüsse der Dahlemer Bekenntnissynode in einer Pfarrer- und Ältestenversammlung am 26. Oktober 1934 in Berlin.

 

Einführung

In meiner Familie wurde über Jahrzehnte hinweg und durch Evakuierung und Flucht hindurch ein Brief aufgehoben, den meine Mutter an meinen Vater, Archivrat am Geheimen Staatsarchiv in Berlin-Dahlem und auf Dienstreise, am Abend des 26. Oktober 1934 geschrieben hatte. Der Brief handelte von dem, was Bertha Kittel, damals 30 Jahre alt, am Morgen desselben Tages in einer Berliner Pfarrerversammlung gesehen und gehört hatte.

Eigentlich wollte sie meinen Großvater, Pfarrer Hermann Kittel, seiner Zeit im letzten Amtsjahr in der Gemeinde Kuhz in der Uckermark, und meinen Onkel Herbert Kittel, junger Pfarrer in Herzfelde, gleichfalls Uckermark, treffen. Doch die Verwandten bestellten sie aus Zeitmangel in die von ihnen besuchte Pfarrerversammlung. Und dort geschah Unerwartetes: Martin Niemöller, Otto Dibelius und der junge Pfarrer Kurt Scharf als Versammlungsleiter gaben den anwesenden Pfarrern und Kirchenältesten die Beschlüsse der Dahlemer Synode vom 19./20. Oktober bekannt und wiesen zugleich auf die Konsequenzen hin, die diese Beschlüsse für amtierende Pfarrer und ihre Gemeinden, auch für die jungen Theologen haben würden. Meine Mutter hörte gebannt zu. Ihr stockte der Atem. Noch am Abend schrieb sie meinem Vater einen begeisterten Brief, in dem sie ihm brühwarm und haarklein alles schilderte, was sie erfahren hatte.

Vielleicht ahnten meine Eltern, dass dieser genaue Bericht einmal historische Bedeutung haben könnte. So hoben sie ihn auf. Als ich als junge Dozentin in den 1970er Jahren an der Pädagogischen Hochschule Siegen-Weidenau ein Seminar zum Thema „Kirchenkampf“ vorbereitete, drückte mir meine Mutter eine von ihr selbst vorgenommene maschinenschriftliche Abschrift in die Hand mit der Bemerkung, dass mich der Bericht sicher interessieren würde. Aber dieser Bericht dürfte noch heute auch für andere an der jüngeren Geschichte Interessierte von Bedeutung sein. So stelle ich das Schriftstück jetzt der Öffentlichkeit zur Verfügung. Schließlich haben wir im Jahr 2024 das 90jährige Jubiläum der großen Reichssynoden der Bekennenden Kirche in Barmen und Dahlem vor uns, und es könnte noch einmal – zum letzten Mal? – Interesse an dieser zeitgeschichtlichen Epoche aufkommen.

Um den Brief von Bertha Kittel richtig verstehen zu können, müssen allerdings einige Erläuterungen zur ­damaligen historischen Situation gegeben werden.1

 

Gleichschaltung der evangelischen Kirchen

Im Frühjahr und Sommer des Jahres 1934 war es dem Wehrkreispfarrer Ludwig Müller, Hitlers „Vertrauensmann“ und „Bevollmächtigten für die Angelegenheiten der evangelischen Kirchen“ und in der Nationalsynode am 27. September 1933 zum Reichsbischof gewählt2, gelungen, nahezu alle Landeskirchen der von ihm geführten Reichskirche einzugliedern und damit „gleichzuschalten“. Ihre bisherigen Kirchenleitungen waren abgesetzt und durch neue, nationalsozialistisch gesinnte Personen ersetzt, ihre Befugnisse und die landeskirchliche Gesetzgebung auf die Reichskirche übertragen. Faktisch waren diese Landeskirchen von nun an dem Diktat des Reichsbischofs und seines am 12. April ernannten „Rechtswalters“, des schon bekannten früheren preußischen Staatskommissars August Jäger, ausgeliefert (Scholder, 87-90. 159-170)3. Nur die beiden süddeutschen Landeskirchen, die evangelisch-lutherische Kirche in Bayern und die evangelische Landeskirche in Württemberg, hatten nach den Kirchenwahlen im Juli 1933 ihre früheren Kirchenleitungen mit den Bischöfen Meiser und Wurm bis in den Sommer 1934 behalten und damit ihre eigene Struktur. Auch in Hannover hatte sich Bischof Marahrens als Bischof behaupten können, doch der Kirchensenat war in seiner Mehrheit deutschchristlich ausgerichtet und drängte auf den Vollzug der Gleichschaltung.

Auf der anderen Seite hatten sich aber auch die oppositionellen Bekenntnisgruppen in den verschiedenen Landesteilen Deutschlands erstmalig zusammengeschlossen. In der Reichsbekenntnissynode vom 29. bis 31. Mai in Barmen, zu der Delegierte aus Bekenntnisgemeinden des ganzen Reiches zusammengekommen waren, wurde eine von allen Teilnehmern getragene Erklärung verabschiedet: die Barmer Thesen.4 Sie bedeuteten nicht weniger als ein aktuelles christliches Bekenntnis angesichts der die Kirche zerstörenden völkischen und rassistischen Ideologie des NS-Staates wie seiner durch den Reichsbischof getätigten Eingriffe in die Strukturen der evangelischen Kirche.

 

Bekenntnis und Widerstand

So wie die Barmer Thesen zwischen biblischer Wahrheit und falscher Lehre unterschieden, so mussten nun aber auch deutliche Konsequenzen aus solchen Unterscheidungen gezogen werden. Dies geschah wenige Monate später in der zweiten Reichsbekenntnissynode am 19. und 20. Oktober in Berlin-Dahlem.5 Hier wurde das „kirchliche Notrecht“ ausgerufen und der Reichskirche Ludwig Müllers bescheinigt, dass sie sich selbst „durch ihr Handeln von der christlichen Kirche geschieden“ habe. Die verfassungsgemäße evangelische Kirche sei die Bekenntnissynode der Evangelischen Kirche, die nun „neue Organe der Leitung“ berufe.

Aber auch die Aktivitäten des Reichsbischofs und seines „Rechtswalters“, August Jäger, setzten sich fort. Nun waren die süddeutschen Kirchen im Visier (Scholder, 309-335. 348-355). Bereits im September 1934 hatte ein zähes Ringen zwischen dem vor Gewaltmaßnahmen nicht zurückschreckenden August Jäger und den beiden süddeutschen Bischöfen begonnen. Jäger wollte unbedingt und auf schnellstem Weg auch noch die beiden letzten relativ selbständigen Landeskirchen „gleichschalten“, sie also der Reichskirche eingliedern. Doch beide Bischöfe blieben auch gegenüber Drohungen, ausgesprochenen Beurlaubungen, Absetzungserklärungen standfest. Sie blieben eisern in ihren Ämtern und wussten die evangelische Bevölkerung ihrer Landeskirchen zum größten Teil oder fast vollständig hinter sich. Beide Bischöfe hatten ihre Pfarrer und Synoden und die Pfarrer wiederum ihre Gemeinden durch Kanzelabkündigungen rechtzeitig darauf vorbereitet, dass die Überführung der Landeskirche in die Reichskirche bevorstehe, die Bischöfe aber diesen Schritt niemals mitgehen würden und daher die Gemeinden um ihr Vertrauen bäten. Und dieses wurde ihnen gegeben.

Als Bischof Wurm am 6. Oktober und Bischof Meiser am 12. Oktober unter Hausarrest gestellt und ihnen jeder Kontakt zur Öffentlichkeit untersagt wurde, ging der „furor protestanticus“6 erst richtig los. Menschen versammelten sich in Stuttgart, Choräle singend, vor dem Wohnhaus Wurms, welches Polizisten bewachten, damit niemand außer den Familienangehörigen eintreten könne. Bitt- und Bekenntnisgottesdienste fanden auch an Wochentagen in den evangelischen Kirchen Bayerns statt. Abgeordnete ganzer Bauernschaften aus Franken reisten nach München und sogar nach Berlin, um ihren Protest persönlich und bei Parteistellen vorzubringen, darunter viele Parteigenossen, die mit ihrem Parteiaustritt drohten, falls ihr Bischof nicht wieder in sein Amt eingesetzt würde.

 

Eine kirchenpolitische Kursänderung

Als sich dann auch noch das Ausland einschaltete, Bischof Bell dem deutschen Geschäftsträger und der Erzbischof von Canterbury dem deutschen Botschafter in London mitteilten, eine allgemeine Absage auch der skandinavischen Kirchen und der französischen Reformierten an die deutsche evangelische Kirche stehe kurz bevor, wenn nicht neue Tatsachen in Deutschland den Lauf der Dinge ändern würden (Scholder, 333f), begann Hitler endlich das Ruder herumzulegen.

Der für den 23. Oktober vorgesehene und dann auf den 25. Oktober verschobene Empfang des Reichsbischofs und aller neuen Bischöfe bei Hitler und ihre feierliche Vereidigung wurde in letzter Sekunde abgesagt, als alle Beteiligten schon angereist waren und auf den feierlichen Akt warteten. August Jäger wurde wenige Tage später in den Ruhestand versetzt. Müller selber konnte sich noch einige Jahre in seinem Amt halten, hatte aber immer weniger Einfluss und war ab Herbst 1935 durch den Kirchenminister Kerrl praktisch ausgeschaltet.

Die Bischöfe Meiser, Wurm und Marahrens erhielten dagegen eine Einladung zu einer Unterredung mit Hitler in der Reichskanzlei in Berlin für den 30. Oktober. Schon am Abend des 26. Oktober hatten Telegramme und Telefonanrufe, die die Aufhebung ihres Hausarrestes bekannt gaben, die gemaßregelten beiden Bischöfe erreicht. Scholder zitiert aus dem Tagebuch von Marie Wurm, der Ehefrau des schwäbischen Bischofs, eine Eintragung am Abend des 26. Oktober: „Um ½ 6 Uhr: Welch ein Wunder! Zwei Telegramme von Berlin, eins von Frick, eins von Neurath. Vater eingeladen zu einer Unterredung zu Hitler, mit Meiser und Marahrens! Wir konnten fast nimmer vor Freude und Erstaunen. Dienstag 10 Uhr in die Reichskanzlei!“ Und dann „kam richtig um 11 Uhr [abends] die telefonische Mitteilung vom hiesigen Innenministerium, daß Vater frei sei. Der Jubel war groß. Wir … sangen zusammen: Lobe den Herren. Vater las den 118. Psalm und dann machten wir noch ein Festle.“ (Scholder, 354 f).

Von den glücklichen Entwicklungen wusste Bertha ­Kittel natürlich noch nichts, als sie am Abend des 26. Oktober den hier abgedruckten Brief schrieb. Sie sah noch voller Sorge auf die süddeutschen Kirchen und hoffte auf ihr Ausharren im Kampf.

 

Der Brief von Bertha Kittel

Der Brief von Bertha Kittel an ihren Mann war ursprünglich handschriftlich und in deutscher Schrift verfasst.7 Ich habe den maschinenschriftlichen Text noch einmal abgetippt und dabei Verschreibungen korrigiert, auch Absätze hinzugefügt. Unterstreichungen und Klammern, auch Auslassungen stammen hingegen von der Verfasserin selbst.

Die Anmerkung x) steht im Original am Seitenrand von Seite 2, der Nachsatz xx) am Seitenrand der letzten Seite, die voll beschrieben war.

Freitag abend
26.0kt.1934

[…]

Die kirchliche Entwicklung nimmt mich zur Zeit ganz gefangen, zeitlich und meine Gedanken. Dein Seufzer: wie lange wird noch … ist ungeahnt schnell in Erfüllung gegangen: die Bekenntnissynode hat jetzt auf die Süddeutschen Vorgänge hin den Bruch vollzogen, nicht ihren Austritt (erklärt), sondern „hierdurch … hat sich das Reichskirchenregiment von der Evangelischen Kirche geschieden“. Proklamation eines Notrechts, usw. Diesen Sonntag werden große Kanzelabkündigungen sein. Die technischen Einzelheiten des Bruchs sind alle erwogen und die Pfarrer zur Entgegennahme der richtunggebenden Weisungen versammelt worden. Ich weiß das alles brühwarm, weil heute Papa und Herbert [das sind: Pfarrer Hermann Kittel und Pfarrer Herbert Kittel] auch dazu „versammelt“ waren und mich aus Zeitmangel in die Versammlung bestellten.

Ich will es Dir ausführlich schreiben, denn es ist eine so große Sache. Mir ist einfach die Luft weggeblieben. Also es war Bekenntnis Versammlung für Provinz Branden­burg x) oder vielleicht auch nur einen Teil. Die Pfarrer (nicht nur Notbund- und Bekenntnispfarrer) rückten meist mit einem Trüppchen Bauern an, es war proppenvoll. Die Versammlung leitete Scharf in ausgezeichneter und ruhiger Weise. Nach sehr eindrucksvoller Verlesung aus der Apostelgeschichte und Darlegung der Not und Unbeugsamkeit der Urgemeinde erfolgte ein Bericht über die Lage: Aushalten in Württemberg und Bayern und in Bayern Sympathie der Parteistellen (Julius Streicher) durch strengste Neutralität und Rausschmeißen des Kommissars in einer Versammlung.

Dann Schilderung, wie in Dahlem der Bruch beschlossen wurde (Ende voriger Woche) von der Bekenntnissynode (beschickt aus allen Teilen des Reichs) und Verlesung der programmatischen Erklärung, die Sonntag abgekanzelt wird, gleich dabei Verteilung der Erklärung an alle Pastoren, aber nur an diese. Erste Frucht ist doch wohl schon die Vertagung der pomphaft mit Ansprache des Führers (auch im Radio) geplanten Vereidigung Müllers und aller Bischöfe zunächst wegen Hitlers Unpäßlichkeit, jetzt auf unbestimmte Zeit. Dann Diktieren der Weisungen, der technischen Einzelheiten.

Man ist sich klar, daß nicht überall gleichmäßig vorgegangen werden kann, daß es Pfarrer und Gemeinden in Frontabschnitten und im Nachtrapp gibt, aber etwas wird von allen gefordert, und das Tempo bestimmt die Front, nicht der Nachtrapp. Darum Einteilung der Pfarrer in drei und der Gemeinden in vier Gruppen, in die sich jeder nach Vermögen selbst einstufen muß.

1.) die Pfarrer im aktiven Widerstand, es sind in Ostelbien nur wenige.

2.) die große Mehrheit, die den passiven Widerstand halten kann und wird.

3.) die, die glauben, nur etappenweise sich lösen zu können.

Dann 1.) die Gemeinden mit 100 % Evangelium und Kirche. 2.) die mit unserer Mehrheit 3.) die mit unserer Minderheit 4.) die mit restlos deutschchristlicher Besetzung.

Vorgeschriebenes Verhalten: Keinerlei Erscheinen mehr im Konsistorium. Wer glaubt, mit einem „gemäßigten“ Konsistorialbeamten, der Frieden wünscht, zu tun zu haben, kann mit diesem außerhalb des Kons. verhandeln, aber in der Haltung des Christen gegen einen irregeleiteten Bruder, sonst lieber Bruch auch der persönlichen Beziehungen.

Dann für Pfarrer der Klasse 1 Schriftverkehr mit dem Kons. nur durch den Rechtsanwalt gewissermaßen gegen den Schuldner, dessen Recht bestritten wird; für Pfarrer Nr. 2 und 3 äußerste Zurückhaltung und Haltung.

Dann Finanzen: Mindestens Einführung der Kollekten der Bekenntnissynode; wer reichskirchliche „gute“ Kollekten mitmacht, führt diese direkt an die Vereine ab, an die sie bestimmt sind. Kirchensteuereingänge sind von Pfarrern 1 und Gemeinden 1 und 2 an die Bekenntnissynode abzuführen, was ihnen Anklage wegen Veruntreuung eintragen kann, was aber gut wäre, damit die Frage vor die Gerichte käme. Schlimmstenfalls müßten sie sich dann einsperren lassen. Gemeinden 2 und Pfarrer 2 müssen Synodalabgaben auf gesperrten Konten oder beim Amtsgericht sicher stellen bis zur Entscheidung oben genannter Klagen. In Gemeinden 3 und 4 müssen Kirchensteuer-Neben- Hebestellen errichtet werden (das trifft wohl Steglitz), dann haben wir das Gaudium eines Prozesses wegen unserer angeblich nichtgezahlten Kirchensteuer und ev. Pfändung, wofür ich mich schon nach einem geeigneten Stück umsehe. – Und so ging es weiter.

Die Wirkung war ungeheuer; auch Papa sah sich endlich nach den für ihn passenden Möglichkeiten um. Es sprachen Niemöller und Dibelius in packender Rede. Beide sind ständig auf Vortragsreisen. Zum Schluß wurden noch die Aufforderungen der Bekenntnissynode an die jungen Theologen verlesen, wahrscheinlich die härtesten! Abbruch der gerade stattfindenden Examina und Verlassen der reichskirchlichen Seminare usw. Die Bekenntnissynode schafft alle Organe, die sie abschnürt, aus sich (neu): Urlaubsgesuche an die Bekenntnissynode, Prüfungen, Ordinationen durch sie.

Ich bin so aufgerührt, daß ich gar nichts anderes schreiben kann, wärst Du doch hier! Was sind das für Zeiten, was für Männer! Optimist bin ich übrigens nicht, aber der Sieg ist doch schon gewonnen durch die Bereitschaft, alles zu opfern. xx)

Und nun grüße ich Dich …

Bertha

Anmerkung x): natürlich sind entsprechende allenthalben.

Anmerkung xx) am Seitenrand der letzten voll beschriebenen Seite: Wenn Hitler jetzt Müller nicht hält, dann ist er in 8 Tagen geliefert, denn es kommt doch jetzt ein in großer Linie einheitliches Handeln zustande.

 

Anmerkungen zum Brieftext

Im Werk von Klaus Scholder ist immer wieder das seltsame Schwanken Hitlers gegenüber den Kirchen angesprochen. Auf der einen Seite betonte Hitler die strikte Neutralität seiner selbst und der Partei gegenüber den Streitigkeiten in der evangelischen Kirche. Auf der anderen Seite griff er dann aber doch ganz massiv, vor allem hinter den Kulissen, in die Auseinandersetzungen ein. So z.B. in Bezug auf die Kirchenwahlen im Juli 1933. Hitler wollte unbedingt, dass die Deutschen Christen einen großen Sieg erringen sollten. Nicht weil er diese Gruppierung schätzte. Er gebrauchte sie nur, um das protestantische Deutschland für sich und seine Partei zu gewinnen. Als er merkte, dass es die Deutschen Christen am Ende doch nicht schafften, das ganze evangelische Kirchenvolk zu erfassen, ließ er auch die Deutschen Christen fallen. Es war also nicht Julius Streicher, von dessen üblem Wirken meine Mutter noch nichts wusste, der aus Sympathie für das Kirchenvolk in Bayern für den Rausschmiss des reichskirchlichen Kommissars aus einer bestimmten Veranstaltung sorgte. Es war Hitlers Befehl, dass sich die Partei als weltanschaulich neutral zeigen sollte, der ihn leitete.

Leider habe ich meine Mutter nicht nach dem Ort gefragt, wo denn die Pfarrerversammlung, die sie beschreibt, gewesen ist. Sie sagt ja selbst, dass es damals sehr wahrscheinlich mehrere solcher Versammlungen in Berlin gab. Da beide, mein Großvater und mein Onkel, aus der Uckermark angereist waren und der junge Pfarrer Kurt Scharf, damals Gemeindepfarrer in Sachsenhausen, die Versammlung leitete, wird sie wohl im Norden Berlins, vielleicht in seiner Gemeinde in Sachsenhausen, stattgefunden haben.

Schwierig ist die Einteilung der Gemeinden nach dem Prozentsatz der Stimmen, die bei der Kirchenwahl im Juli 1933 entweder für die „Deutschen Christen“ oder die Liste „Evangelium und Kirche“ in der jeweiligen Gemeinde abgegeben worden sind. Meine Mutter nennt keine Prozentzahlen, sondern bezieht sich auf „unsere Mehrheit“ und „unsere Minderheit“. Da sie nur Steglitz meinen kann, habe ich versucht, die Stimmenanteile für Steglitz zu ermitteln, bin aber nur auf einen Beitrag von Heidemarie Oehm gestoßen. In ihrem kurzen Aufsatz „Kirchenkampf in Steglitz 1933-1945“, nachzulesen auf der Website der Markusgemeinde in Steglitz8, nennt die Verfasserin als Wahlergebnis 67% der Stimmen für die Deutschen Christen und 33% für „Evangelium und ­Kirche“. Ob diese Prozentangaben belastbar sind, weiß ich nicht.

Interessant ist die Bemerkung der Briefschreiberin, dass zu der Bekenntnisversammlung für die Provinz Brandenburg nicht nur Notbund- und Bekenntnispfarrer mit je „einem Trüppchen Bauern“, also ihren Kirchenältesten, angerückt waren, sondern auch andere Pfarrer und Älteste. Das zeigt doch auch, dass es damals noch keine scharfe Trennung zwischen den kirchenpolitischen Lagern gab. Man hörte einander zu.

 

Die „Deutschen Christen“ und die „Bekennende Kirche“

Wir wissen etwas von der christlichen Pflicht und Liebe den Hilflosen gegenüber, wir fordern aber auch Schutz des Volkes vor den Untüchtigen und Minderwertigen.“9 Schon in diesem Satz aus den „Richtlinien“ der Deutschen Christen vom 26. Mai 1932 zeigt sich das doppelte Gesicht dieser kirchlichen Gruppe. Auf der einen Seite die Vorspiegelung, dass auch sie ganz auf dem Boden des christlichen Glaubens stünde, auf der anderen Seite die Übernahme der NS-Ideologie. Und die hat das Übergewicht! Wie in allen ähnlich konstruierten Sätzen folgt auch hier auf das vermeintliche Zugeständnis hinter dem „aber“ das Anliegen, für das diese kirchliche Partei wirklich stand: der „Schutz des Volkes vor den Untüchtigen und Minderwertigen“. Mit dieser Forderung, die das deutsche Volk als obersten Wert über die Gebote der Menschlichkeit stellt, wurde bereits die Tür zu einem Weg geöffnet, an dessen Ende die Euthanasiemorde, die Rede vom „lebensunwerten Leben“, die Ermordung aller als „nichtarisch“ angesehenen Menschen standen und von Hitler-Anhängern hingenommen oder sogar begrüßt wurden: der Juden, der Sinti und Roma, der Angehörigen von für vermeintlich „minderwertig“ gehaltenen Menschengruppen.

Pseudotheologisch wurde solches Reden der Deutschen Christen begründet durch die Behauptung auch anderer Offenbarungsquellen Gottes. Zitat: „Wir sehen in Rasse, Volkstum und Nation uns von Gott geschenkte und anvertraute Lebensordnungen, für deren Erhaltung zu sorgen uns Gottes Gesetz ist.“10 Gemäß dieser Theologie hat Gott sich und seinen Willen den Menschen nicht nur im Leben, Sterben und Auferstehen Jesu Christi erkennbar gemacht, wie es die christlichen Bekenntnisse sagen, sondern auch die Ordnungen der Natur oder der Ablauf der Geschichte sind weitere Offenbarungsquellen. In den Ordnungen der Natur, vor allem in der angenommenen Unterschiedlichkeit von sog. Rassen, wie aber auch im Gang der Deutschen Geschichte und hier natürlich in der großen und von den meisten Zeitgenossen (auch der altpreußischen Union!11) bejubelten „großen Wende“ 1933 habe Gott zum eigenen Volk gesprochen. Darum sei die Kirche jetzt gefordert, sich an die Spitze des nationalen Aufbruchs zu stellen. Darum gelte für sie aber auch das Gebot: „Halte deine Rasse rein!“12

Erst vor diesem hier nur kurz skizzierten Hintergrund sind die Barmer Thesen wirklich zu verstehen: „Jesus Christus, wie er uns in der Heiligen Schrift bezeugt wird, ist das eine13 Wort Gottes, das wir zu hören, dem wir im Leben und Sterben zu vertrauen und zu gehorchen haben. Wir verwerfen die falsche Lehre, als könne und müsse die Kirche als Quelle ihrer Verkündigung außer und neben diesem einen Wort Gottes auch noch andere Ereignisse und Mächte, Gestalten und Wahrheiten als Gottes Offenbarung anerkennen.“14

In dieser ersten Barmer These wurde 1934 der denkbar schärfste Widerspruch zur „Theologie“ und zu den dieser Pseudotheologie entspringenden Verlautbarungen und Verhaltensweisen der Deutschen Christen formuliert.15 Und dieser Widerspruch ist von den damaligen Delegierten in Barmen wie auch in den späteren Jahren von jenen, die zur Bekennenden Kirche standen, sehr wohl begriffen worden.16 Auch die Absage, die die Zweite Barmer These formulierte, als gäbe es irgendwelche Bereiche des Lebens, in denen Christen nicht „Jesus Christus, sondern anderen Herren zu eigen wären“, unterstrich den Widerspruch. Der Anspruch Gottes auf das gesamte Leben der Jesus Nachfolgenden lässt sich nicht auf den privaten und kultischen Bereich einschränken, wie es Hitler von der evangelischen und der katholischen Kirche forderte. Auch im öffentlichen, auch im politischen Bereich sind Christen dem Anspruch Gottes unterstellt.

 

Wer vermag den ersten Stein zu werfen?

Ist die Bekennende Kirche ihren Bekenntnissätzen nachgekommen? Hat sie sich den eigenen Aussagen entsprechend verhalten? Wenn wir heute der Bekennenden Kirche vorwerfen, dass auch sie (von den Deutschen Christen und der offiziellen Reichskirche gar nicht zu reden) zur Entrechtung und zunehmenden Verfolgung der Juden geschwiegen hat (was jedoch nicht ganz stimmt17), so mögen diejenigen, die damals ganz anders geredet und gehandelt hätten und auch heute auf der allein richtigen Seite stehen, den „ersten Stein“ werfen (Joh. 8,7). Der Schuld, angesichts der andringenden geschichtlichen Herausforderungen zu versagen, entkommt niemand.

 

Anmerkungen

1 In meinen Ausführungen stütze ich mich weitgehend auf das immer noch gründlichste, auf umfassenden Quellenstudien fußende und fachtheologisch kompetente Werk von Klaus Scholder, Die Kirchen und das Dritte Reich, hier Bd. 2: Das Jahr der Ernüchterung. 1934. Barmen und Rom, Berlin 1985. Leider konnte Scholder wegen seines frühen Todes sein Werk nur bis zur Dahlemer Synode im Oktober 1934 selber erarbeiten. Hinweise auf seine Darstellungen sind im folgenden Text jeweils in runden Klammern gegeben.

2 Wie im Jahr 1933 die evangelische Kirche zu einer „braunen“ Kirche wurde, wird in meinem Aufsatz „Erinnerung an den Kirchenkampf 90 Jahre nach Barmen und Dahlem. Ein Zwischenruf“ im Deutschen Pfarrerinnen und Pfarrerblatt 2024 in den Ausgaben 4 und 5 dargestellt.

3 Vgl. neben Scholder auch Kurt Meier, Der Evangelische Kirchenkampf, Bd. I, Göttingen ²1984, 204f und 261-501 (territorialgeschichtlicher Überblick).

4 Vgl. Siegfried Hermle/Jörg Thierfelder (Hg.), Herausgefordert. Dokumente zur Geschichte der Evangelischen Kirche in der Zeit des Nationalsozialismus, Stuttgart 2008, 206-209.

5 Vgl. Hermle/Thierfelder, a.a.O., 230-232.

6 Wortwahl des bayerischen Ministerpräsidenten in einem Brief an den Reichsinnenminister am 15. Oktober. Zitiert von Scholder, Kirche, a.a.O. (Anm. 1), 331.

7 Leider ist das Original im Evang. Landeskirchlichen Archiv der Kirche von Berlin-Brandenburg (ELAB) verloren gegangen. Ich hatte nach telefonischer und brieflicher Ankündigung am 22.3.2008 dem damaligen Leiter des Archivs das handschriftliche Original und den von Bertha Kittel abgetippten Text zugehen lassen. Leider erhielt ich keine Eingangsbestätigung. Im Jahr 2022 las ich viel später im Buch von Uwe Wehnert, „Es gibt wohl Zeiten, die der Irrsinn lenkt“, Berlin 2022, 183, Anm. 709, dass das Schriftstück im genannten Archiv „nicht mehr auffindbar“ sei. Auf meine dreimaligen Anfragen beim jetzigen Archivleiter, dem ich auch eine von mir gespeicherte Kopie des handschriftlichen Originals wie des maschinenschriftlichen Textes zuschickte, erhielt ich keine Reaktion.

8 Evangelische Markus-Kirchengemeinde Berlin-Steglitz, https://www.markus-gemeinde.de/index.php?id=227, Der Beitrag ist zu finden unter: Gemeinde/Geschichte/26-kirchenkampf.pdf. (Zugriff am 08.10.2023).

9 Zitat aus den „Richtlinien der Glaubensbewegung ‚Deutsche Christen‘ (26. Mai 1932)“, in: Hermle/Thierfelder, a.a.O. (Anm. 4), 48.

10 A.a.O. 47. 

11 Beschämend die Osterbotschaft des Evangelischen Oberkirchenrats der Altpreußischen Union vom 11. April 1933, Hermle/Thierfelder, a.a.O. (Anm. 4), 92.

12 Hermle/Thierfelder, a.a.O. (Anm. 4), 47.

13 Hervorhebung durch die Verfasserin.

14 Erste Barmer These, Hermle/Thierfelder, a.a.O. (Anm. 4), 207f.

15 Damit sei Olaf Blaschke widersprochen, der in seinem Reclam Sachbuch „Die Kirchen und der Nationalsozialismus“, Stuttgart 2014, 247, behauptet, dass der „Widerspruch zwischen beiden Weltanschauungen“, nämlich Christentum und NSDAP, nicht „unüberbrückbar“ war. Manche Christen und manche Nationalsozialisten mögen das damals so gesehen haben. Doch von der Sache her ist der Gegensatz zwischen dem Christentum, das der Bibel und den christlichen Bekenntnissen verpflichtet ist, und dem Nationalsozialismus, für den „Rasse, Volkstum und Nation“ letzte Werte darstellen, nicht aufzulösen.

16 Insofern die Aussagen der Deutschen Christen nur den ideologischen Hintergrund der Nationalsozialistischen Partei und damaligen NS-Regierung widerspiegeln, ist in Barmen auch ein Nein zu diesem Hintergrund indirekt formuliert. Doch wer kann und will das in einer Diktatur wie dem Hitlerstaat öffentlich sagen? Dieses „Nein“ ist in den 1930er Jahren von vielen Mitgliedern der Bekennenden Kirche sehr wohl verstanden worden. Heutige Zeitgenossen, die keine Diktaturerfahrungen haben und sich auch nicht hineindenken können, verstehen solch verdecktes Reden sehr viel weniger.

17 Vgl. die im Mai 1936 an Hitler eingereichte Denkschrift der Zweiten Vorläufigen Leitung der Bekenntnissynode, die von deren „Geistlichen Mitgliedern“ Müller (Dahlem), Albertz, Böhm, Forck, Fricke unterschrieben ist. In ihr stehen auch die von Kirchenkritikern nicht zitierten Sätze: „Wenn dem Christen im Rahmen der nationalsozialistischen Weltanschauung ein Antisemitismus aufgedrängt wird, der zum Judenhaß verpflichtet, so steht für ihn dagegen das christliche Gebot der Nächstenliebe. Einen besonders schweren Gewissenskonflikt bedeutet es für unsere evangelischen Gemeindeglieder, wenn sie das Eindringen dieser antichristlichen Gedankenwelt bei ihren Kindern, ihrer christlichen Elternpflicht entsprechend, bekämpfen müssen.“ Vgl. Heinrich Hermelink, Kirche im Kampf. Dokumente des Widerstands und des Aufbaus der Evangelischen Kirche in Deutschland von 1933 bis 1945, Tübingen und Stuttgart 1950, 344-355; hier: 351. Auch abgedruckt mit leichten Veränderungen (vor allem der Überschrift) in: Hermle/Thierfelder, a.a.O. (Anm. 4), 340-346; hier: 344. Während der Kriegsjahre, als die unfassbaren NS-Verbrechen geschahen, waren die Leitenden der Bekennenden Kirche entweder im Gefängnis oder an der Front. Es blieb als Sprecher nur noch Bischof Wurm, der seine verzweifelten Eingaben machte. Vgl. besonders Wurms Protest in: Hermle/Thierfelder, a.a.O. (Anm. 4), 662-664.

 

Über die Autorin / den Autor:

Prof. i.R. Dr. Gisela Kittel, 1977-1981 Pfarrerin der Lippischen Landeskirche, danach Lehr­tätigkeit im Rahmen der Lehramts­studiengänge an der Gesamthochschule Siegen und der ­Universität Bielefeld im Fach "Evang. Theologie und ihre Didaktik", seit 2010 Mitglied im Verein "D.A.V.I.D. gegen Mobbing in der evangelischen Kirche e.V.".

Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 3/2024

Kommentieren Sie diesen Artikel
Pflichtfelder sind mit * markiert.
Ihre E-Mail Adresse wird nicht veröffentlicht.
Spamschutz: dieses Feld bitte nicht ausfüllen.