Wenn die evangelische Kirche den Anspruch haben sollte, immer noch eine „Kirche des Wortes“ zu sein, dann ist sie gerade dabei, diesen gründlich zu verfehlen. Zu diesem Resultat kommt Katarína Kristinová bei ihren Beobachtungen zur aktuellen Gottesdienst- und Predigtkultur. Die Ursachen dafür liegen ihrer Meinung nach ebenso in unzureichenden Studienordnungen wie in personalpolitisch bedenklichen Entscheidungen der Kirchenleitungen, aber nicht zuletzt im Selbstbild derer, die am Altar und auf der Kanzel stehen.
Ja, ich habe mir gerade eine neue grammatikalische Kategorie ausgedacht. Neben Substantiv, Adjektiv, Infinitiv oder Inflektiv (das aus den Comics bekannte „Lach“, „Gähn“ usw.) jetzt
also nun das „Infantil“: Als Infantil bezeichne ich Spracheinheiten solcher Kommunikation, „die sich primär an Kinder und andere vermeintlich unmündige richtet“1, Botschaften, von denen manch eine Rede nur so strotzt. Zu den Infantil-Spezialisten zähle ich manche Politikerinnen und Politiker, nicht wenige Lehrerinnen und Lehrer, viele Menschen aus meinem Bekanntenkreis, aber vor allem und leider Gottes auch nicht wenige Predigerinnen und Prediger.
Das Infantil kann sowohl eine verbale als auch eine nonverbale Form annehmen. Schauen wir uns nur mehrmals die Fernsehgottesdienste an und beobachten die Geste, mit der die Pfarrerin oder der Pfarrer die Gemeinde zu Beginn begrüßt. Ich nenne sie schon lange die „Musikanten-Stadl-Geste“: die Arme zu einer virtuellen Massenumarmung ausgebreitet und das anbiedernde Sonntagslächeln auf dem Gesicht. In den sogenannten Volksmusiksendungen wird mit dieser Geste gewöhnlich auf einen Schlager eingestimmt.
„Also, ich weiß nicht …“
Schauen sich die Predigerinnen und Prediger nie die Gottesdienste der anderen Kolleginnen an? Fragen sie sich nie: Passt meine Mimik und Gestik wirklich zu meiner Person und meiner Botschaft? Denn wenn ja – davon bin ich überzeugt –, dann würden die Haltung und die Inhalte nicht im Widerspruch stehen und die aufmerksamen Zuhörenden irritieren.
Das Infantil – eine Kommunikationsform, welche die Empfangenden bewusst oder unbewusst entmündigt, ihnen also differenziertes Denken und reife Urteilskraft abspricht und somit dreister Weise ein gutgläubig naives Einverständnis sowie eingeschränkte intellektuelle Denkleistung unterstellt.
„Ich fühle mich ständig unterfordert“
So schreibt Erik Flügge in seinem Buch „Der Jargon der Betroffenheit“: „Das könnte daran liegen, dass ich mich viel mit Theologie beschäftige – aber meinem Vater geht es genau so, und der tut das nicht. Man traut mir nicht zu, einem komplexen Gedanken zu folgen. Ich werde vom Prediger bei seinem Sprechen von Gott wie ein Kleinkind durch einen Gedankenraum geführt. Ich fühle mich nicht ernst genommen. […] Ich würde gerne mehr Tiefgang erleben, aber ich höre Texte, die auch auf ein Küchenkalenderblatt passen würden.“2
Ich fürchte jedoch, dass in den meisten Fällen der Absender des Infantils tragischerweise selbst nicht um die Banalität der eigenen Botschaft weiß oder wissen will. Denn wüsste er davon, würde er es schleunigst beschämt unterlassen – es sei denn, es handle sich um einen durchtriebenen Ideologen und Demagogen. Aber leider gilt in der Regel: Schlichte Botschaften stammen von schlichten Gemütern.
Ein schlichtes Gemüt auf der Kanzel – mittlerweile auch in der evangelischen Kirche kein Ausnahmephänomen. Natürlich stellt sich da unweigerlich die Frage: Was ist das für eine theologische Ausbildung, die solche Gemüter durchlaufen, ohne sonderlich aufzufallen, um dann mehr oder weniger ungestört ihr Unwesen in einer Gemeinde weiterzutreiben?
Vielleicht liegt es daran, dass es nahezu in keinem der theologischen Fächer dazu kommt, auch die persönliche theologische Konzeption des jeweiligen Studierenden explizit zu thematisieren. Ich zum Beispiel wurde nie nach meiner Theologie gefragt. Immerhin wurde ich von meinem Professor für Systematische Theologie dazu angehalten, die von mir benutzten Grundbegriffe zu reflektieren. In meiner Seminararbeit fand ich sie unterstrichen und am Rande mit der liebevollen Anmerkung versehen: „Das verstehe ich nicht! Was meinen Sie damit?“ Und während meines Theologiestudiums in meinem Heimatland wurde ich zu Ende jeder exegetischen Prüfung gefragt: „Wie würden Sie zu diesem Text predigen?“ – Immerhin!
Abwesenheit eines eigenständigen, kreativen und innovativen theologischen Denkens
Meine Wahrnehmung stimmt mit der bundesweiten Empirie, wie sie der Münchner Systematiker Friedrich Wilhelm Graf evaluiert, überein. Graf bemängelt die Abwesenheit eines eigenständigen, kreativen und innovativen theologischen Denkens. Diese spiegelt sich und hat womöglich ihre Ursache auch in der Struktur der theologischen Ausbildung: „Die historischen Kernfächer bleiben, und alles Innovative, Gegenwartsbezogene, Reflexivitätsförderliche wird dichtgemacht. Kein einziger Lehrstuhl für theologische Ideen- oder Diskursgeschichte im ganzen Land, nur wenig Deutungskompetenz für die außereuropäischen Christentümer, aber viel ökumenische Ideologieproduktion.“3
Vielleicht ist das einer der Gründe für die inhaltliche Dürftigkeit der heutigen Predigtkultur: Die Schwäche des eigenen theologischen Denkens fällt nicht auf, solange es bei den Examina ausschließlich um Wiedergabe des fremden Denkens geht, welches man sich unter Umständen auch ohne Denken aneignen kann.
Gezieltes Heranzüchten eines soliden Stammes an schlichten Gemütern
Und dann scheint mir in Hinsicht auf die kirchlichen Leitungsstrukturen, wie ich sie in meiner Landeskirche, der Evang. Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz (EKBO) kennengelernt habe, dass aus machtpolitischer Perspektive ein beinahe gezieltes Heranzüchten eines soliden Stammes an schlichten Gemütern alles andere als unwillkommen sei. Im Vergleich zu Menschen meiner Sorte sind diese Brüder und Schwestern bei unserer Obrigkeit viel beliebter, da handhabbarer als die renitenten Subjekte, welche alles kritisch hinterfragen.
Vermutlich hatte ich es eben aus diesem Grund während meines kirchlichen Berufslebens nahezu ausschließlich mit Vorgesetzten zu tun, deren Kompetenz und Professionalität deutlich zu wünschen übrigließen. Dafür verfügten sie über die wunderbare Fähigkeit, die Anweisungen der oberen Etage unhinterfragt in treuer Ergebenheit an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu delegieren.
Ähnlich unreflektiert erfolgt auch der Großteil der Vermittlung von Glaubensinhalten: ein braves Nachsprechen bestimmter Standardaussagen ohne einen Funken der Irritation über die Unvereinbarkeit der konservierten Sprache des christlichen Glaubens und der Gedankenwelt des modernen Menschen.
Die von frommen Schwülstigkeiten nur so triefende Agende eifert um die Wette mit pathetischem Kauderwelsch, das auf die Köpfe der meist kleinen Zuhörerschaft sonntäglich herabrieselt und zu neunundneunzig Prozent weder auf Begeisterung noch auf Protest stößt, sondern eher schläfrige Ergebenheit evoziert. Die Menschen – vor allem, wenn sie eine Gruppe sind – können so geduldig sein. Ob die intellektuell undurchdringlichen Reden der Politikerinnen und Politiker oder die befremdliche Sprache der Kirche – beides lässt das traditionell trainierte Publikum über sich ergehen, so wie man sich auch den Naturphänomenen nicht verweigert, wohl wissend, dass man das Gegebene nicht beseitigen, sondern lediglich überstehen muss.
Fromme Geschwätzoffensive
Eine weitere Missbildung der Verkündigung neben der eben erwähnten Kryptisierung ist deren Banalisierung. Diese erfolgt durch einen vielleicht sogar wohlgemeinten Transfer der theologischen Inhalte in die Sprache der heutigen Menschen. Dafür muss das luthersche „dem Volk aufs Maul schauen“ als schlagende Begründung herhalten. Das wäre eigentlich sehr begrüßenswert, wenn doch am Ende dieses Weges die Botschaft nicht zu einer Trivialität verkommen würde, deren Unterkomplexität jeglicher Wahrheit des Lebens spottet. Denn das Leben ist schillernd, paradox, voller dynamischer Dialektik, der das jüdisch-christliche Denken mit seiner tiefgründigen Symbolik und unter meisterhafter Anwendung von Metaphorik zu entsprechen wusste. Ein solches Ringen um die angemessene Sprache steht in einem krassen Widerspruch zu der Ansammlung von Banalitäten, mit denen sich so manche Predigerin, mancher Prediger auf das Niveau der Allgemeinplätze begibt.
Eine Variation solcher trivialisierten Verflachung der christlichen Botschaft ist der Versuch, es so zu machen wie unser Herr und Heiland, also neue Sprachbilder zu kreieren. Ähnliches sehen wir bei manchen Politikerinnen und Politikern, wenn sie ihren Einflussbereich auf die Macht über die Sprache ausweiten. Auch in diesem Milieu wimmelt es nur so von selbsterdachten Parolen, die dann bei jeder medialträchtigen Gelegenheit mit penetranter Selbstverliebtheit wiederholt werden.
Während der politische Jargon durchtränkt ist von „Doppelwummsen“ und ähnlichem Unrat, spricht man in den Konfirmationspredigten von Gott als einem netten Typen, den nix umhaut, egal was man auch ausgefressen hat,4 oder von Gottes Supermarkt, in dem man alle Zutaten für seine Basissuppe bekommen kann5 und dergleichen. Abgesehen davon, dass diesem Bemühen ein starker Anbiederungsbeigeschmack anhaftet, zieht die unreflektierte Produktion solch schwachsinniger Metaphern die Substanz des christlichen Glaubens geradezu ins Lächerliche und lässt an der theologischen Zurechnungsfähigkeit von deren Schöpferinnen und Schöpfer stark zweifeln. Kein Wunder, dass angesichts dieser frommen Geschwätzoffensive Gott im Bewusstsein der postmodernen Gesellschaft zu einer Witzfigur degeneriert und aktuell auf der Bedeutungsskala irgendwo zwischen Weihnachtsmann und Osterhasen rangiert.
Auf halbem Weg zwischen Exegese und Moral
Wovon man nicht reden kann, darüber soll man schweigen – bedienen sich daraufhin einige des Wittgenstein-Mottos und auf andere Themen ausweichend meiden sie tunlichst das systematisch-theologische Minenfeld. So gibt es Predigten, die irgendwo auf dem halben Weg zwischen Exegese und Moral stehen bleiben, die vielleicht sogar radikale Fragen wagen, die Antworten auf diese jedoch den Adressierten schuldig bleiben. Es gibt auch solche, die lieber gleich die Fronten wechseln und sich unter dem Vorwand der gesellschaftlichen Relevanz ganz auf Geschichte oder Politik konzentrieren.
In allen bisher aufgezählten Gruppen wird der Predigttext, dieses notwendige Übel, halbherzig hingenommen und gewaltsam passend gemacht. Überhaupt erlebe ich selten Predigerinnen und Prediger, die heute noch mit dem biblischen Text wirklich ringen, um ihn mit Hilfe des theologischen und rhetorischen Handwerks dann selbst sprechen zu lassen.
Die für mich befremdlichste Art des Frontenwechsels ist der Versuch, weitgehend auf Sprache und Inhalte zu verzichten und stattdessen auf Performanz und Form zu setzen. Dieser Wechsel zu Eventisierung der Religion geschieht unter der Parole der sogenannten Ganzheitlichkeit. Doch solange solche performativen Aktivitäten nicht von einer gründlichen und kritischen theologischen Reflexion begleitet werden, verflachen sie zum infantilen Spiel mit der Beliebigkeit. „Ich werde von gestandenen Theologinnen und Theologen, von Priestern und Pfarrerinnen und Pfarrern in der katholischen und der evangelischen Kirche aufgefordert, Kraftsteine aneinanderzuschlagen, Kraftplätze zu erspüren, barfuß Spuren im Sand zu hinterlassen, Licht zu teilen, Zettelchen zu beschreiben oder einer Klangschale zu lauschen. Wir sollen mit unseren Händen Wasser berühren oder jemand anderem den Rücken massieren, aus Wolle ein Netz spannen oder ein laminiertes Bild von irgendetwas auswählen. Damit man es nicht Esoterik nennen muss, wird irgendwie – und sei es mit Gewalt – eine Bibelstelle passend zur Methode umgebogen.“6
„Wie will eine Kirche Relevanz in unserer Welt entfalten, wenn sie sich darin einrichtet, sich kaum mehr von einem Kindergeburtstag zu unterscheiden, auf dem man mal die Tiere des Waldes spielt und ein andermal Sonnen bastelt. Muss es nicht einen Unterschied machen, ob ich in der Kirche oder in der Kita bin?“7 Offenbar: Nichts bleibt Nichts, selbst wenn man es mit rhetorischen Schnörkeln, bedeutungsschwangeren Gesten oder – wie einst ein älterer theologischer Freund sagte – „Ringelpieps mit Anfassen“ garniert. Manchmal stelle ich mir vor, manche Predigten wären nicht Wort, sondern Musik: Was für ein unerträgliches Herumgedudel!
Wenn wir nicht reden, dann reden andere
Nehmen wir an, zum Gottesdienst kommen (noch) Menschen, die nach einem lebendigen und wahrhaften Wort dürsten, Menschen, die inmitten des Unerträglichen nach Trost suchen – und man speist sie entweder mit dogmatisch-frommem Kauderwelsch, mit Poesiealbumsprüchen oder gar mit Steine-Bemalen oder Basteln ab. Mehr kann sich eine Kirche, die sich ausgerechnet auch noch die Kirche des Wortes nennt, nicht an Gott und Menschen versündigen!
Es ist so: Wenn wir nicht reden, dann reden andere. Eine Kirche, die immer mehr darauf verzichtet, qualifiziert von Gott zu reden, überlässt die Sprachräume und damit auch die Deutungsmacht anderen selbsternannten Expertinnen und Experten, sei es aus der Fraktion der Religion oder der des Atheismus – und signalisiert mit ihrem Schweigen möglicherweise noch die Zustimmung zu der Fremdinterpretation. Das bedeutet gerade in Bezug auf die Rede von Gott, dass auch das notwendige Freihalten der Sprachräume für Gott und seine Offenbarung ein sprechend-deutendes sein muss, wenn wir nicht auch noch für den endgültigen Ausschluss Gottes aus dem kulturellen Bewusstsein mitverantwortlich sein wollen.
„Wir brauchen […] Sprache, die noch so klingt, als hätten wir nicht Theologie studiert“8 – sagt Erik Flügge, und ich ergänze: … und die doch eine ordentliche Portion an theologischer Tiefgründigkeit enthält. Das ist die Kunst des Predigens und des theologischen Denkens, in der wir uns ständig üben müssen. Und das nicht nur aus Gründen der Selbsterhaltung. Wir haben einen tieferen oder, wenn wir so wollen, höheren Grund: Das ist der uns von Gott gegebene Auftrag, von dessen Missachtung oder Erfüllung wir, jede und jeder von uns, einmal Rechenschaft abgeben müssen.
Anmerkungen
1 F.W. Graf, Kirchendämmerung. Wie die Kirchen unser Vertrauen verspielen, München 22011, 62.
2 E. Flügge, Der Jargon der Betroffenheit. Wie die Kirche an ihrer Sprache verreckt, München 52016, 110.
3 F. W. Graf, Kirchendämmerung. Wie die Kirchen unser Vertrauen verspielen, München 22011, 42.
4 M. Beile, Mit Gott auf du und du. Die Rede von Gott in heutigen Predigten, DPfBl 6/2016, 348. Beile zitiert aus: Gottesdienstpraxis Taufe, Gütersloh 2010, 79.
5 M. Beile, Mit Gott auf du und du. Die Rede von Gott in heutigen Predigten, DPfBl 6/2016, 348: „Gott bietet dir in seinem ‚Supermarkt‘ an, was er hat und womit du deine Basis-Suppe richtig aufpeppen kannst.“ Beile zitiert aus: Von Glückskeksen und Überraschungseiern. Vier Konfirmationspredigten, 9.
6 E. Flügge, Jargon der Betroffenheit. Wie die Kirche an ihrer Sprache verreckt, München 52016, 42.
7 E. Flügge, Jargon der Betroffenheit, 31.
8 E. Flügge, Jargon der Betroffenheit, 84.
Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 3/2024