Die heutige Zeit ist eine Zeit des globalen Wandels. Die Welt ist chaotisch geworden und wird von Tag zu Tag chaotischer. Alles ist im Fluss, räumliche und zeitliche Grenzen lösen sich auf. Gesellschaftliche Verwerfungen, Polarisierung und Extremismus machen die Welt unsicherer, das Leben riskanter. Die strukturelle Diagnose, dass die „Welt“ verrücktspielt, muss aber nicht bedeuten, dass auch die Menschen in ihr nur noch verrücktspielen können. Es gibt Alternativen der Selbstsorge und der Sorge für andere, die unsere Alltagswirklichkeit verändern können. Peter Matthias Wehmeier zeigt auf, wie das gelingen kann, und gibt damit zugleich pastoraltheologische wie seelsorgliche Anregungen.

 

Eine chaotische Welt

Auf einer Bergwanderung in Griechenland erzählte mir ein befreundeter Psychiater und Psychoanalytiker von einem seiner Patienten, der zurzeit ein Buch des Philosophen Michel Foucault las. Dort sei der Patient auf einen Begriff gestoßen, der ihm dabei geholfen habe, sich psychisch zu stabilisieren: epiméleia heautoû, was auf Griechisch so viel wie „Selbstsorge“ oder „Sorge um sich“ oder „Kultur seiner selbst“ bedeutet. Dieser Begriff ist bei Platon in einem Dialog zwischen Sokrates und dem angehenden Lokalpolitiker Alkibiades überliefert. Die Philosophen Epikur, Epiktet, Seneca und Marc Aurel haben ihn aufgegriffen und zu einer Lebensphilosophie weiterentwickelt. Die Philosophen Pierre Hadot1 und Michel Foucault2 haben den Begriff wiederentdeckt und auf unsere heutige Zeit bezogen.

Die heutige Zeit ist eine Zeit des globalen Wandels. Die Welt ist chaotisch geworden und wird von Tag zu Tag chaotischer. Alles ist im Fluss, räumliche und zeitliche Grenzen lösen sich auf. Gesellschaftliche Verwerfungen, Polarisierung und Extremismus, Hunger und Kriege machen die Welt unsicherer, das Leben riskanter. Die Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen, Umweltverschmutzung und der weiter steigende Energieverbrauch tun ein Übriges. Die ganze Welt scheint kurz vor dem Kollaps zu stehen. Wir tragen fleißig zur ökologischen Katastrophe bei und haben zugleich Angst vor ihr.3

Die Philosophin Ariadne von Schirach hält die Gegenwart für „verrückt, unübersichtlich, widersprüchlich“.4 Viele Menschen teilen die Einsicht, dass unsere heutige Welt krank ist und krank macht. Ein 87 Jahre alter Herr aus der ostfriesischen Provinz saß mir kürzlich gegenüber und sagte angesichts der aktuellen Ereignisse: „Die ganze Welt ist total durcheinander!“ In der Tat scheint die globalisierte Welt verrückt zu spielen und die Menschen verrückt zu machen. So spiegelt sich das Kleine im Großen und das Große im Kleinen.

Mit diesem Essay zur Selbstsorge in einer verrückten Welt möchte ich keine weitere Analyse zum Zustand dieser Welt vorlegen – davon gibt es genug. Auch möchte ich keinen Beitrag zu einer Lebensphilosophie leisten, denn ich bin kein Philosoph. Meine Absicht als Psychiater und Psychotherapeut ist es vielmehr, einen Anstoß zu größerer Selbstsorge zu geben und damit zur Suche nach Lösungen für Probleme anzuregen. Wenn Lösungen im Großen auf sich warten lassen, müssen wir Lösungen im Kleinen suchen.5 Dabei geht es um einen engen Realitätsbezug, sowohl zur äußeren Welt als auch zur subjektiven Innenwelt, die Reflexion zwischenmenschlicher Beziehungen, Zukunftsorientierung, das Treffen von Entscheidungen sowie die eigene Handlungsfähigkeit. Diese Themen sind unser täglich Brot als Psychiater und Psychotherapeuten, so dass wir immer wieder vor der Aufgabe stehen, zusammen mit den Betroffenen mögliche Wege aus scheinbar ausweglosen Situationen zu suchen.

 

Die Krise des Einzelnen

Täglich kommen Menschen zu mir in die Praxis und suchen meine Hilfe. Häufig haben sie sich im Kampf mit den Belastungen und Frustrationen des Alltags oder der Arbeit verausgabt, sind niedergeschlagen und erschöpft. Viele sind verzweifelt und werden von Ängsten geplagt. Oft stelle ich bei ihnen eine Depression fest und begebe mich mit der betroffenen Person auf die ­Suche nach Möglichkeiten der Veränderung. Dann komme ich mir wie ein Vergil vor, der den entsetzten Dante durch die Hölle begleitet, ihn aber schließlich wieder ans Licht führt. Die von einer Erschöpfung Betroffenen stehen meistens vor mehreren Fragen: Was ist mit mir los? Wo liegen die Schwierigkeiten? Woran muss ich arbeiten, um meine Situation zu verändern und mein Befinden zu verbessern?

Die Frage nach Möglichkeiten, aus einer Krise herauszukommen, hat mehrere Aspekte. Wichtig ist zunächst die Erkenntnis, dass es so nicht weitergehen kann – sonst geht es nicht mehr weiter. Irgendwann spüren wir, dass die schonungslose Konfrontation mit unserer Situation unumgänglich ist. Dann müssen wir uns unseren Problemen stellen. Die Konfrontation mit den Gründen für unsere Not ist zwar schmerzhaft, sie lohnt sich aber, weil wir dadurch die Chance haben, Auswege zu suchen und Veränderungen herbeizuführen.

Wenn wir einen anderen Weg einschlagen möchten, haben wir meistens verschiedene Möglichkeiten: Wir können Konsequenzen aus der drohenden Überlastung oder Erschöpfung ziehen, denn unsere körperliche und psychische Gesundheit steht auf dem Spiel. Wir können innehalten und uns auf unsere Möglichkeiten besinnen. Wir können über mögliche Wege aus der schwierigen Lage nachdenken. Wir können für Entspannung sorgen und Entlastung von dem Druck suchen. Wir können uns Gehör verschaffen und unseren Wunsch nach Veränderung äußern. Manchmal müssen wir aber den Weg der Auflehnung und des Protests wählen, wenn wir vor der Wirklichkeit nicht fliehen wollen und konkrete Veränderungen vor Augen haben. In jedem Fall kommen wir um die Beantwortung einer Frage nicht herum: Wie wollen wir leben?6

Bei der Suche nach neuen Wegen können wir den Blick heben und dem Gefühl innerer und äußerer Weite Raum geben. Der Philosoph Hermann Schmitz spricht in diesem Zusammenhang von „Weitung“.7 Wir können Vertrauen in uns selbst und unsere Fähigkeiten haben und daran arbeiten, dieses Vertrauen zu erweitern. Wir können alle unsere Energie in das Beschreiten des Weges legen, den wir gewählt haben. Am Ende liegt es an uns, diesen Weg auch zu beschreiten.

 

Für sich sorgen

Mangelnde Selbstsorge ist ein häufiger Grund dafür, dass es uns schlecht geht. Oft kommen wir eher den Wünschen und Erwartungen anderer nach, als dass wir uns um unsere eigenen Bedürfnisse kümmern. Wir verausgaben uns für andere und vernachlässigen uns selbst. Viel zu selten stellen wir uns die Frage: Sorge ich wirklich gut für mich? Oder könnte ich fürsorglicher mit mir umgehen? Habe ich mich für andere verausgabt und dabei meine eigenen Wünsche und Bedürfnisse zurückgestellt?

Wenn wir in Bedrängnis geraten, können wir auf Hilfe lange warten. Letztendlich müssen wir Verantwortung für uns übernehmen und uns selbst helfen. Schließlich geht es um unsere Existenz und unsere Zukunft. Wir müssen uns – wenigstens etwas – entlasten und eine Zukunftsperspektive entwickeln, die unseren Vorstellungen entspricht. Dazu müssen wir fürsorglich mit uns umgehen und uns auf das konzentrieren, was uns wirklich am Herzen liegt.

Eingehende und schonungslose Selbstreflexion ist der entscheidende Weg, um zu sich selbst zu kommen. „Alles beginnt mit aufklärendem Nachdenken, mit Wissenwollen, was eigentlich mit uns ist. Dann können wir fragen, was werden soll, und unser Leben beginnen.“8 Letztendlich geht es darum, einen möglichst engen Realitätsbezug herzustellen, zu sich selbst und zur Welt. „Nur in dem Bewusstsein, als ein Selbst in der Wirklichkeit zu sein, können wir eigentlich leben; denn Leben ist die Arbeit an uns selbst im Lichte unserer Erfahrung.“9 Das setzt Offenheit und Zuversicht voraus.

Vor welchen Herausforderungen stehen wir, wenn wir Veränderung zu unserer Aufgabe gemacht haben? Das übergeordnete Ziel ist meistens klar: Es soll uns besser gehen! Doch müssen wir stets mit Hindernissen rechnen, wenn wir Veränderung zu unserer Aufgabe machen. Beispielsweise können unausgesprochene Ängste oder konkrete materielle Überlegungen beabsichtigten Veränderungen im Wege stehen. Manchmal scheinen Lösungen in greifbare Nähe zu rücken, doch sobald es um die konkrete Realisierung geht, erweisen sie sich als untauglich oder auf längere Sicht unrealistisch. Dann bleibt uns nichts anderes übrig, als nach neuen Wegen zu suchen.

 

Für andere sorgen

„Jeder ist sich selbst der Nächste!“ So lautet ein bekanntes Sprichwort, das Egoismus und Selbstgefälligkeit auf ironische Weise thematisiert und diejenigen kritisch in den Blick nimmt, die meinen, sie wären sich selbst genug. Aus dieser Perspektive muss die Idee der Selbstsorge sehr verlockend erscheinen: Man kümmert sich schön um sich selbst und lässt die anderen links liegen. Aber wer über dieses Sprichwort kurz nachdenkt, gelangt schnell an den Punkt, an dem klar wird, dass wir auf Gedeih und Verderb aufeinander angewiesen sind. Alleine kommen wir nicht weit, also müssen wir uns verständigen und gegenseitig unterstützen. Das bedeutet, sich nicht nur um sich selbst, sondern sich auch um den Nächsten zu sorgen.

Doch wer ist mein Nächster? In Zeiten zunehmender globaler Vernetzung sind wir immer mehr und immer öfter mit Menschen konfrontiert und auf Menschen angewiesen, die auf anderen Kontinenten und in anderen Zeitzonen leben und arbeiten. So entstehen Verbindungen über große räumliche Distanzen hinweg, die sich zu einem großen Geflecht vielfältiger zwischen­mensch­licher Beziehungen entwickeln können, das sich als ­globales System weltweit entfaltet. Es kann Nähe aus Distanz entstehen und der Entfernteste kann zum Nächsten werden.

Die Begegnung mit anderen bietet immer die Chance, miteinander und aneinander zu wachsen. Wir können uns dem anderen zuwenden und uns mit ihm austauschen. Wir können aufeinander zugehen und miteinander reden. Kommunikation bedeutet Austausch und Austausch ist der Weg vom Ich zum Du. Der Philosoph Martin Buber hat diesen Austausch das „dialogische Prinzip“ genannt.10 Im Austausch können wir uns mit dem Anderen verständigen, wir können neugierig auf den Anderen sein. Wir können den Anderen fragen, wir können den Anderen um etwas bitten. Im Gegenzug können wir die Neugier des Anderen bedienen, wir können uns fragen lassen, wir können uns dem Anderen offenbaren. Wir können Grenzen überwinden, um etwas gemeinsam auf den Weg zu bringen. Das ist das Wesen der Zusammenarbeit.

Darüber hinaus können und sollten wir uns für mehr Menschlichkeit in der Gesellschaft einsetzen. „Wo wir uns selbst und andere in rationaler Arbeit und Konkurrenz um Erfolg erschöpfen, da ist keine Menschlichkeit. Sie ist nur dort zu finden, wo wir uns in Anteilnahme und vernünftigem Austausch begegnen und gemeinsam versuchen, das Bessere für uns und unsere Gesellschaft zu verwirklichen.“11

Unsere Impulse und Bedürfnisse nach Nähe, Zuneigung, Liebe und Intimität sollten wir uns bewusst vor Augen führen, damit wir gut mit ihnen umgehen können. Im Einzelfall mag das Unterschiedliches bedeuten, denn wir können unsere Bedürfnisse verbergen oder äußern, unsere Impulse unterdrücken oder ihnen nachgeben, unsere Wünsche leugnen oder sie realisieren. Gute Beziehungen sind durch Vertrauen und Liebe geprägt, sie bestimmt ganz wesentlich unsere Begegnungen. Liebe kann auf verschiedene Art und Weise zum Ausdruck kommen. Als Liebe zu sich selbst, als Liebe zum Nächsten, aber auch als Liebe zur Welt.

Der Philosoph Charles Eisenstein ist davon überzeugt, dass alles, was aus Liebe in die Welt gebracht wird, von Dauer ist. Das, was wir aus Liebe geben, wirkt unendlich lange weiter.12 Das hört sich sehr nach ewiger Liebe an. Doch gibt es ewige Liebe? Vielleicht, vielleicht auch nicht. In seinem Brief an die Gemeinde in Korinth beschreibt der Apostel Paulus das Wesen der ewigen Liebe (1. Kor. 13,4-8). Er behauptet schließlich: „Die Liebe hört niemals auf.“ Doch im wirklichen Leben ist das oft nicht der Fall. Nicht selten ist die Liebe irgendwann zu Ende. Warum das so ist, hat die Soziologin Eva Illouz untersucht.13 Den Grund sieht sie in den unterschiedlichen Bedürfnissen von Mann und Frau. Während Männer typischerweise in der Liebe ihre Unabhängigkeit wahren möchten, suchen Frauen eher eine enge Bindung und eine zeitliche Perspektive für ihre Liebe. Ist diese nicht gegeben, hört die Liebe sehr schnell auf.

 

Zu viele Möglichkeiten

Wir leben in einer Welt des „Zuviel“, in der wir ununterbrochen mit einer großen Fülle verschiedenster Möglichkeiten konfrontiert werden. Angesichts der Fülle sind wir uns oft unserer eigentlichen Bedürfnisse nicht bewusst. Vernachlässigen wir aber unsere eigenen Bedürfnisse, etwa weil wir sie nicht wirklich wahrnehmen, entsteht leicht ein Gefühl der Unzufriedenheit. Um diese Unzufriedenheit zu kompensieren, lassen wir uns gerne von der Fülle der sich anbietenden Möglichkeiten verführen und eifern diesen kopflos nach. Die Diskrepanz zwischen fehlender Befriedigung echter Bedürfnisse und ersatzweiser Erfüllung nachrangiger Wünsche verstärkt unsere Unzufriedenheit nur noch weiter.

Die beinahe grenzenlose Vielfalt an Möglichkeiten, die zur Befriedigung unserer Wünsche und Bedürfnisse zur Verfügung stehen, stellt eine große Herausforderung dar, weil sie uns ständig zu Entscheidungen zwingt. Keiner blickt durch das überbordende Angebot durch, der Wald ist vor lauter Bäumen nicht zu erkennen. Dennoch werden wir unentwegt zu Entscheidungen gezwungen.

Entscheidungen können sehr herausfordernd sein, denn wir möchten die „richtigen“ Entscheidungen treffen, ohne zu wissen, welches die „richtigen“ Entscheidungen eigentlich sind. Wenn wir vor Entscheidungen stehen, sollten wir die Sache stets vom Ende her denken. Das bedeutet, dass wir die Konsequenzen unserer Entscheidungen abwägen und bei der Entscheidungsfindung einbeziehen. Darüber hinaus sollten wir bei unseren Entscheidungen realistisch sein. Das fordert uns manchmal einiges ab, gerade wenn wir hochgehaltene Ziele relativieren müssen. „Gut genug“ ist das neue „sehr gut“!

Manchmal geht es darum, einfach „nur ungeschoren davonzukommen.“14 Daher sollten wir immer bereit sein, Kompromisse einzugehen, denn selten führt Kompromisslosigkeit weiter. Am Ende sollten wir nach Möglichkeit selbstverantwortlich entscheiden. Das bedeutet, dass wir für die Folgen unserer Entscheidungen geradestehen und die Verantwortung für Fehlentscheidungen nicht auf andere abschieben. Unkonventionelle Entscheidungen erfordern Aufgeschlossenheit und Mut. Nur so können wir die Dinge anders anpacken und neue Wege gehen.

 

Hier und heute handeln

So wie wir im Hier und Jetzt denken und empfinden, handeln wir im Hier und Jetzt. Das ist der Hintergrund der alten Maxime „Nutze den Tag“. Erst im Handeln wird die Möglichkeit zur Wirklichkeit. Unser gegenwärtiges Handeln hat für uns und andere Menschen ganz unmittelbare Folgen, die nicht selten weit in die Zukunft reichen. Zudem kann unser Handeln gravierende soziale, ökonomische und ökologische Auswirkungen haben. Daher ist es wichtig, dass wir uns die Gründe für unser Handeln klarmachen. Warum mache ich etwas? Was will ich damit bewirken? Erreiche ich dadurch mein Ziel?

Der Evangelist Johannes stellt gleich zu Beginn seiner Ausführungen das Primat des Wortes fest. Er schreibt: „Im Anfang war das Wort.“ (Joh. 1,1) Damit hat er recht, denn klare Ansagen sind wichtig. Aber noch wichtiger als unsere Worte sind unsere Taten. Zu diesem Ergebnis kommt auch Goethes Faust, der sich die Übersetzung dieses Satzes zur Aufgabe macht. Faust kommt vom „Wort“ auf den „Sinn“, dann auf die „Kraft“, um schließlich bei der „Tat“ zu landen. So verwandelt er durch eine raffinierte Alchemie der Bedeutungen das Wort in die Tat. Sigmund Freud, der Begründer der Psychoanalyse, kommt am Ende seiner Überlegungen zum „Seelenleben der Wilden und der Neurotiker“ zu dem Schluss: „Im Anfang war die Tat.“15 Damit hat er ebenfalls recht. Wort und Tat: Beides ist wirksam, beides verändert die Welt.

Handeln bedeutet gelebte Selbstfürsorge. Wir können nicht warten, bis andere unsere Probleme für uns gelöst haben. Wir müssen unsere Probleme selbst konkret angehen. Wir können hier und heute anfangen. Wenn wir fokussiert und lösungsorientiert handeln, können wir uns und unsere Wirklichkeit verwandeln. In unserem Handeln müssen wir allerdings stets mit Verlusten rechnen und die schädlichen Auswirkungen unseres Tuns mit einkalkulieren. Denn das Leben ist riskant und wo gehobelt wird, fallen Späne. Daher sollten wir aus unseren Fehlern lernen und etwaige Abstriche als Lehrgeld verbuchen.

Wir sollten nach Möglichkeit zusammen mit anderen handeln. „Nur die Gemeinschaft mit anderen, die dieselben Werte teilen, eröffnet uns eine Tätigkeit, die uns als ganze Menschen anspricht und lebendig werden lässt.“16 Durch gemeinschaftliches Handeln finden wir Erfüllung. Dabei müssen wir oft Kompromisse machen, aber das ist der Preis, den wir zahlen, wenn wir im Einvernehmen mit anderen Veränderungen zum Wohle aller auf den Weg bringen.

 

Zuversichtlich leben

Wenn wir Selbstsorge betreiben, sollten wir eine grundlegende Haltung der Toleranz und der Akzeptanz einnehmen. Das, was wir zum Besseren ändern können, sollten wir ändern. Das, was wir nicht ändern können, müssen wir hinnehmen. Aber meistens findet sich irgendetwas, das sich ändern lässt. Manchmal müssen wir Ängste überwinden, damit wir ungehemmt und frei handeln können. Freiheit bedeutet, keine Angst zu haben. Das hat die Sängerin Nina Simone in einem Interview sehr schön auf den Punkt gebracht. Frage: „What is freedom?“ Antwort: „No fear!“

Selbstsorge hat also viel mit dem Gefühl der Gelassenheit zu tun. Das Wort Gelassenheit wird von dem mittelhochdeutschen Wort gelāzenheit abgeleitet, das im 14. Jh. durch den Theologen und Philosophen Meister Eckhart in den allgemeinen Sprachgebrauch Eingang gefunden hat.17 „Gelassenheit bedeutet, sich freiwillig und gezielt und vorübergehend aus der Hand zu geben, um etwas an und mit sich machen zu lassen.“18 Gelassenheit hat viele Facetten und klingt in mehreren Wörtern an, die Erleichterung oder Entlastung anspielen: loslassen, gehenlassen, seinlassen…

Der Philosoph Peter Sloterdijk spricht in diesem Zusammenhang von „Passivitätskompetenz“19. Man könnte es ebenso als „Desengagement“ bezeichnen. Das bedeutet, dass wir nicht eingreifen und die Dinge öfters einfach laufen lassen sollten. „Abwarten und Tee trinken“ wäre eine andere Formulierung der gleichen Idee. Wir sollten uns darum bemühen, durch Entlastung von inneren und äußeren Zwängen eine innere Distanz zu den Dingen herbeizuführen, denn nur in einem Zustand der Gelassenheit sind wir wirklich frei.

Solange wir leben, wissen wir nicht, was noch kommt. Schauen wir also nach vorne und bewahren unsere Neugier und Offenheit. Ändern wir das, was geändert werden muss und was wir ändern können. Nehmen wir an, was wir nicht ändern können. Das Leben will gelebt werden: einen Berg besteigen; im Meer schwimmen; ein Getränk genießen; einen Sonnenuntergang betrachten; einen Abend zu zweit verbringen: Das ist praktische Philosophie der Freude! Seien wir zuversichtlich, entspannt und gelassen. Beschließen wir, das Leben so zu nehmen, wie es kommt. Wenn wir gut für uns und andere sorgen, können wir auch in einer verrückten Welt gut aufgehoben sein. Denn was soll mir schon passieren, wenn ich mit allem umgehen kann?

 

Anmerkungen

1 Vgl. Hadot, Pierre. Philosophie als Lebensform. Antike und moderne Exerzitien der Weisheit. S. Fischer, Frankfurt/M. 2011.

2 Vgl. Foucault, Michel. Die Sorge um Sich. Sexualität und Wahrheit 3. Suhrkamp, Frankfurt/M. 1989.

3 Meyer-Lindenberg, Andreas. Klimaangst ist Realität. Wie die Psychiatrie die Ökologie entdeckt. Interview mit Joachim Müller-Jung. F.A.Z. Nr. 57, 8. März 2023, S. N2.

4 Von Schirach, Ariadne. Die psychotische Gesellschaft. Wie wir Angst und Ohnmacht überwinden. Tropen, Stuttgart 2021, 34.

5 Vgl. Wehmeier, Peter Matthias. Globale Psychose. Wie es uns gelingt, in einer verrückten Welt für uns und andere zu sorgen. Kohlhammer, Stuttgart 2024.

6 Vgl. Bieri, Peter. Wie wollen wir leben? 6. Aufl. Residenz Verlag, St. Pölten 2012

7 Vgl. Schmitz, Hermann. Leib und Gefühl. Materialien zu einer philosophischen Therapeutik. Hrsg. von Hermann Gausebeck und Gerhard Risch. 2. Aufl. Junfermann, Paderborn 1992.

8 Andrick, Michael. Erfolgsleere. Philosophie für die Arbeitswelt. 4. Aufl., Herder, Freiburg 2022, 198.

9 Andrick, a.a.O., 120.

10 Vgl. Buber, Martin. Ich und Du. 13. Aufl., Lambert Schneider, Gerlingen 1997.

11 Andrick, a.a.O., 199.

12 Vgl. Eisenstein, Charles. Die Renaissance der Menschheit. Über die große Krise unserer Zivilisation und die Geburt eines neuen Zeitalters. Scorpio, Berlin 2012.

13 Vgl. Illouz, Eva. Warum Liebe endet. Eine Soziologie negativer Beziehungen. Suhrkamp, Frankfurt/M. 2018.

14 De Montaigne, Michel. Essais. Auswahl und Übersetzung von Herbert Lüthy. Manesse, Zürich 1953, 748.

15 Freud, Sigmund. Totem und Tabu. Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker. Gesammelte Werke IX. S. Fischer, Frankfurt/M. 1999, 194.

16 Andrick, a.a.O., 199.

17 Vgl. Flasch, Kurt. Meister Eckhart: Philosoph des Christentums. C.H. Beck, München 2011.

18 Strässle, Thomas. Gelassenheit. Über eine andere Haltung zur Welt. Carl Hanser, München 2013, 121f.

19 Sloterdijk, Peter. Du mußt dein Leben ändern. Über Anthropotechnik. Suhrkamp, Frankfurt/M. 2009, 594.

Über die Autorin / den Autor:

PD Dr. med. Peter Matthias Wehmeier, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie in Frankfurt/M., Autor des Buches "Globale Psychose. Wie es uns gelingt, in einer verrückten Welt für uns und andere zu sorgen" (Stuttgart 2024).

Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 3/2024

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