Die Ende des vergangenen Jahres veröffentlichte sechste Kirchenmitgliedschafts­untersuchung hat bereits zahlreiche kontroverse Reaktionen hervorgerufen, auch im Deutschen Pfarrerinnen- und Pfarrerblatt. Dabei ging es insbesondere um das Verhältnis von Kirchlichkeit und Religiosität. Karsten Jung hält die Studie schon im Ansatz für verfehlt.

 

Vor wenigen Wochen ist ein erster Analyseband der sechsten Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung (KMU.VI) erschienen.1 Erstmalig wurden die Daten über das Meinungsforschungsinstitut Forsa erhoben mit dem Anspruch der Repräsentativität; die Fragen wurden vom Sozialwissenschaftlichen Institut des EKD in Hannover entwickelt. Es handelt sich um eine rein quantitative Untersuchung, die nach dem eigenen Anspruch ohne theoretische Vorannahmen wie „Säkularisierung“ oder „Individualisierung“ gemacht worden sei (16).

In der Studie wird zwischen kirchenferner und kirchennaher Religiosität unterschieden (17). Aus insgesamt zehn Fragen wurden zehn verschiedene Typen herauskristallisiert (Kirchlich-Religiöse, Religiös-Distanzierte, Säkulare, Alternative; jeweils mit Untergruppen) (19). Diese Typen sind indes nicht neu, sondern von einer Schweizer Studie entwickelt worden. Sie seien nicht vorausgesetzt worden, aber „auch für Deutschland ergaben sich die entsprechenden Typen“ (18). Die Ermittlung dieser Typen bildet den Rahmen für die sonstigen Ergebnisse der Studie; die Autoren sprechen von der religiösen „Großwetterlage“ (ebd.).

 

Zur Aussagekraft der Studie

Bereits hier können erhebliche Zweifel an der Aussagekraft der Studie erhoben werden. Die wichtigsten seien benannt:

Verzicht auf qualitative Erhebungsformen

Religion ist im Sinne des funktionalen Religionsbegriffs, wie ihn beispielsweise Luckmann, Berger oder Gräb entwickelt haben, mehr als die Zustimmung zu bestimmten Glaubensvorstellungen und mehr als die Ausübung bestimmter religiöser Praktiken (wie Gebet, Gottesdienstbesuch usw.). Der Kern dessen, was Religion ausmacht, ist die individuelle Sinnsuche, das – wie Gräb sagt – „Gefühl des absoluten Gehaltenseins“, für das die Angebote der Religionsgemeinschaft unterstützend wirken können, aber nicht müssen. Dieses Gefühl wird von Menschen, die es erleben, aber nicht unbedingt mit dem Begriff „Religion“ konnotiert, sondern subjektiv sehr unterschiedlich. Um es messen zu können, muss man sich die Mühe machen, Menschen individuell und intensiv zu befragen. Rein quantitative Verfahren sind – wie viele Studien der letzten Jahrzehnte gezeigt haben – ungeeignet, ein umfassendes Bild zu geben (aus diesem Grund hat beispielsweise auch die letzte KMU.V 2012 eine Mischung aus quantitativen und qualitativen Fragen gewählt).

Kurz: Religion ist ein komplexes Produkt individueller Sinnsuchprozesse, das nicht in Items zur Kirchenbesuchsfrequenz oder in der Zustimmung zu bestimmten dogmatischen Aussagen erfassbar ist oder gar in ihnen aufgeht.

Säkularisierungstheoretische Vorannahmen

Es ist daher angesichts des gewählten Forschungssettings wenig überraschend, dass sich in der KMU.VI sog. säkularisierungstheoretische Vorannahmen bestätigt finden, also solche, die behaupten, dass wir es in der Gesellschaft mit einem echten Religionsverlust zu tun hätten. Dem Selbstanspruch, nicht bloß „existierende Deutungsmuster lediglich mit Daten zu illustrieren“ (16), wird die Studie folglich bereits durch ihre Anlage nicht gerecht.

Ebenso finden sich die Typen von Menschen des Schweizer Modells keineswegs rein zufällig hier wieder, sondern eben weil sie bereits vorher als existent vorausgesetzt wurden. Mit der Gegenprobe ist das auch leicht überprüfbar: Es ist schlichtweg ausgeschlossen, dass rein zufällig die gleichen Typen herausgekommen wären, wenn man eine Typologie in Unkenntnis der Schweizer Studie gemacht hätte.

Kurz: Es kommt bei der KMU.VI zumindest an dieser Stelle genau das heraus, was die Autoren vorher schon wussten. Auch wenn, das sei zugestanden, durchaus interessante Einzelfragen diskutiert werden, leidet die Studie bereits hier unter einem vitiosen Makel.

Und: Der Anspruch, aus zehn Fragen zehn verschiedene Typen herauszuclustern, ist, zurückhaltend gesagt, ­gewagt. Auch hier hätte es einer viel umfangreicheren und mühevolleren Arbeit bedurft.

Falsches Fragesetting

Besonders schwer wiegt darüber hinaus, welche Fragen gestellt wurden, um die Religiosität der Menschen zu ermitteln. Die Kirchlichkeit wurde gemessen mit folgenden fünf Fragen (17): „der Glaube an Gott; der Glaube, dass sich Gott in Jesus Christus zu erkennen gegeben hat; Teilnahme an Gottesdiensten; die eigene Praxis des Betens und die Selbsteinschätzung als religiös“. Nichtkirchliche Religiosität wurde allen Ernstes ermittelt mit Items wie „Es gibt Menschen, die durch Wahrsagen die Zukunft wirklich voraussehen können“ oder „Die Stellung des Mondes und der Planeten kann uns anzeigen, wann im Leben es die richtige Zeit ist, etwas Bestimmtes zu tun.“ Hier haben sich die Autoren der Studie nicht einmal im Ansatz die Mühe gemacht, die vielfältigen Formen von individualisierter Religiosität zu erfassen, die in einer dreistelligen Zahl qualitativer Studien in den letzten 25 Jahren eindeutig nachgewiesen wurde. Eine der Pointen dieser Studien (unter Anwendung des funktionalen Religionsbegriffs) ist, Religion auch bei solchen Menschen nachweisen zu können, die sich selbst gerade eben nicht als religiös bezeichnen. Religiös ist nach Auffassung der Autoren offenbar vor allem, wer an Hexen und Horoskope glaubt oder fleißig in die Kirche geht. Tertium non datur! Dass bei einem solchen Fragesetting das Wesentliche dunkel bleibt, ist offen­sichtlich.

Ebenso ist die Frage einer Selbsteinschätzung als „religiös“ aus o.g. Gründen nicht geeignet, um das Phänomen Religion vollständig zu erfassen.

Kirchlichkeit und Religiosität

Maßgebliche Folge der unzureichenden Fragestellung ist, dass als Ergebnis der Studie herauskommt, dass Kirchlichkeit und Religiosität hoch miteinander korrelierten. Dies ist wenig überraschend, wenn die Studie so angelegt ist, dass die Befragten gar keine Chance haben, anders oder gar differenziert zu antworten.

In dem Zusammenhang wirkt es ausgesprochen irritierend, wenn der in früheren qualitativen Untersuchungen eindeutig festgestellte Unterschied zwischen (schwindender) Kirchlichkeit und (ungebrochen vorhandener) Religiosität pauschal diffamiert wird, dahingehend dass die Feststellung dieses Unterschiedes daran liege, dass man eben kirchliche Personen befragt habe (10). Ein Beleg für diese steile Behauptung wird nicht erbracht.

 

Methodische Mängel

Einzelne Teilergebnisse der KMU.VI sind durchaus interessant und ungeachtet der o.g. Umstände zu würdigen. Allerdings lassen sich neben der gesamten Anlage der Studie auch methodische Mängel hinsichtlich bestimmter Teilergebnisse feststellen. Im Folgenden eine Auswahl:

Die Menschen sind nicht weniger religiös, sondern weniger kirchlich.

Die KMU.VI bestätigt die Ergebnisse der KMU.V, dass der Bevölkerungsanteil der kirchlich-religiösen schrumpft, und zwar generationell abnehmend (25). Wäre hier die Chance gewesen, nach Motiven zu fragen, wird diese von der KMU.VI sogleich wieder vertan. Aus dem Umstand, dass kein Abfluss von kirchlicher Religiosität an alternative Religiosität (z.B. Esoteriker) mehr passiert, schließen die Autoren, dass die Menschen weniger religiös seien. Belegt wird das mit der schwindenden Zustimmung zur Selbsteinschätzung als „religiös“. Irrtum! Das Einzige, was sich hier folgern lässt: Die Menschen sind weniger kirchlich.

Ideologeme aus der Mottenkiste der Säkularisierungstheorie

Als Deutung findet sich nach dem Eingeständnis, dass man keineswegs erklärt habe, warum der Prozess der Entkirchlichung stattfinde: „Ob man für ihn [diesen ­Prozess; KJ] den Begriff „Säkularisierung“ wählt, kann als unwesentliche Begriffsfrage dahingestellt bleiben. Für die strategische Ausrichtung kirchlichen Organisationshandelns ist zentral, den beschriebenen Sachverhalt als empirisches Faktum wirklich ernst zu nehmen“ (26).

Zunächst ist diese Begriffsfrage ganz und gar nicht unwesentlich – falsche Begriffe führen zu fehlerhaften Erkenntnissen. Mir will zudem scheinen, dass in dem Anspruch, die Begriffsfrage als unwesentlich abzutun, eine besondere Chuzpe liegt – denn genau dieses Faktum lässt sich mit den gewählten Mitteln gerade eben nicht empirisch belegen. Dies wiegt besonders schwer, weil in der KMU.VI im Kern überhaupt keine neuen Ergebnisse vorliegen (die gar bestimmte Begriffsdiskussionen ­überflüssig machten), sondern lediglich altbekannte Ideologeme aus der der Mottenkiste der Säkularisierungstheorie.

Ferner: Ebensowenig wie die mangelnde Religiosität sich aus dem einzigen Item der Selbsteinschätzung als religiös schließen lässt, lässt sich die Behauptung, bei Religion handele es sich lediglich um ein kulturelles Phänomen (27) aus diesem Item schließen. Auch hier verliert die Studie jegliche gebotene Zurückhaltung bei der Interpretation ihrer Ergebnisse.

Kircheninterne Zirkelschlüsse

Der nächste Zirkelschluss lässt nicht lange auf sich warten: Kirchlichkeit korreliere mit Werten wie der „Orientierung an der Bibel“ oder dem „Glauben an Gott“. Eine Überraschung ist weder dieser Befund, noch dass der nahezu auf jeder Seite vorgetragene Irrtum, Kirchlichkeit und Religiosität seien das Gleiche, auch hier wiederholt wird (27). Zwar gehen die Autoren auf diesen Vorwurf ein (28), um ihre These dann sogleich mit einem abenteuerlichen Argument zu wiederholen: Weil unter den Kirchlichen der Glaube an eine höhere Macht deutlich höher sei als unter Konfessionslosen (wen wundert das?), korreliere Religiosität und Kirchlichkeit. Auch dies ist ein Zirkelschluss: Dass Menschen in der Kirche mit höherer Wahrscheinlichkeit an kirchliche Dogmen glauben, ist banal und ohne Aussagekraft.

 

Ein Zwischenfazit

Die Liste dieser Zirkelschlüsse ließe sich lange fortsetzen. Es bleibt aber immer das gleiche Problem: Der weitreichende Schluss (auf die Identität von Religiosität und Kirchlichkeit), der – kennt man die Publikationen der Mehrheit der Autoren, die genau diese Thesen seit Jahren unter vorsätzlicher Ausblendung der zigfach belegten Fakten vortragen – lässt sich a) nicht aus einem einzigen Item erheben, das zudem b) für die Messung genau dieses Umstandes aus o.g. Gründen völlig ungeeignet ist. Es entsteht hier und an unzähligen Stellen der fatale Eindruck, dass das Ergebnis der KMU.VI bereits von vornherein feststand und das Fragesetting bewusst so gewählt wurde, dass es auch sicher herauskommt. Dafür spricht eine weitere Beobachtung: c) die Fragen, die Probanden vorgelegt wurden, um Religion im Sinne Luckmanns zu messen (29), sind reine Alibi-Fragen, die vor allem belegen, dass Luckmanns Ansatz nicht verstanden wurde (Luckmanns und in seiner Weiterentwicklung Bergers Verständnis von individualisierter Religion zielt eben nicht auf „heilige Mächte“ oder „übernatürliche Kräfte“, die Gegenstand der Fragen waren, sondern auf die Bewältigung von Alltagskontingenzen und Erleben von Alltagstranszendenzen).

Darüber hinaus relativieren die Autoren diesen Fragekomplex, indem sie behaupten, die hier festgestellte Religiosität habe „eine geringere biografische Relevanz“ (29); auch diese wurde nur mit dem Schlagwort „Religiosität“ und einer Selbsteinschätzung ermittelt, weswegen dann auch hier das von den Autoren gewünschte Ergebnis eintrat. Die selbst in dem ungeeigneten Forschungssetting nicht mehr wegzuleugnenden Elemente individueller Religiosität werden bis zur Unkenntlichkeit relativiert, denn sie umfassten angeblich „nur ein kleines Segment“ (30)

Ergo: Es kann nicht sein, was nicht sein darf; der Alibi-Charakter dieses Fragekomplexes entlarvt sich hier selbst.

 

Kritik an kirchlicher Praxis? – Fehlanzeige

Betrachtet man weitere Ergebnisse der Studie, wird man bei unvoreingenommener Herangehensweise zu einem ganz anderen Bild kommen: Aus dem Umstand, dass gerade einmal ein Drittel der Kirchenmitglieder ein auf Jesus Christus bezogenes Gottesbild akzeptiert, könnte man auf die Insuffizienz der Predigt klassischer christlicher Theologumena für das Leben der Menschen schließen. Dazu passt auch, dass eine erhebliche Anzahl von Kirchengliedern den Austritt aus dieser Institution, die eine Sprache spricht, die ihnen nichts (mehr) sagt, erwägt.

Die sich anschließende Frage wäre, wie das Wording oder diese Theologumena verändert werden könnten (freilich ohne den Kern des Christentums aufzugeben). Zwar reden die Autoren in der Tat auch davon; sie schlagen beispielsweise vor, sich auf „nützliche Fiktionen“ einzulassen (hier einer der raren Sterne in der Untersuchung), der Kernduktus ist aber ein anderer: An der Spitze empfehlen die Autoren, dass die Kirche „davon ausgehen solle, dass Religion aus Gesellschaften verschwinden“ könne (38) – sprich: Man soll sich wohl mit einem unabänderlichen Prozess arrangieren. Doch dazu unten mehr.

Zunächst sind noch weitere Einzelergebnisse zu betrachten, bei denen eine quantitative Herangehensweise teilweise sinnvoll ist und die an diesen Stellen durchaus beachtenswerte Erkenntnisse bietet bzw. bieten könnte, wenn die sachgerechte Interpretation nicht durch die Vorannahmen der Autoren vernebelt worden wäre.

 

Individualisierung von Religiosität?

So stellen die Autoren fest, dass nur 2,5% der Menschen in Deutschland die Konfession in ihrem Leben gewechselt haben. Dies deuten sie als Beleg dafür, dass die Individualisierungs­these insuffizient sei (42). „Ein Wechsel zwischen verschiedenen Religionsgemeinschaften müsste viel häufiger stattfinden, wenn sich Menschen mit individualisierten religiösen Orientierungen entsprechende Angebote mit der höchsten Passung aussuchen“ (ebd.).

Auch hier zeigt sich, dass die Autoren die Individualisierungsthese nicht verstanden haben: Individualisierung von Religiosität meint ja gerade, dass die Menschen sich von Formen der Religiosität abwenden, die „von oben“ in Religionsgemeinschaften aller Art praktiziert werden. Bei unvoreingenommener Betrachtung hätten die Autoren auch selbst darauf kommen können: Die überwältigende Mehrheit der Menschen stimmt dem Item zu, dass sich Kirche verändern müsse, wenn sie eine Zukunft haben wolle (48). Wohl wahr! Eben genau, weil sich diese Menschen in ihrer Religiosität von den Kirchen nicht mehr vertreten fühlen.

 

Zunehmende Konfessionslosigkeit

Es bleibt das (allerdings auch schon vorher unzweifelhaft bekannte) Faktum der zunehmenden Konfessionslosigkeit. Interessant ist hier, dass auch Freikirchen kaum eine höhere Bestandshaltung ihrer Mitglieder gelingt als beispielsweise der katholischen Kirche (43) – das vermeintliche Erfolgsmodell, das freikirchliche Kreise zuweilen für sich reklamieren, hält den Daten nicht stand.

Ebenso interessant, wenngleich auch nicht neu, ist der Umstand, dass sich ostdeutsche Kirchenmitglieder ihrer Kirche stärker verbunden fühlen, als westdeutsche. Anders als die Autoren behaupten, konnte dieser Unterschied bereits in der KMU.V (teilweise von ihnen selbst) festgestellt werden (Vernetzte Vielfalt, Gütersloh 2015, dort S. 153 und zahlreiche andere). Die naheliegende Erklärung für diesen Umstand ist, dass in Ostdeutschland nur noch die wirklich Überzeugten übrig sind; ein Prozess, der Westdeutschland mutmaßlich in den nächsten Jahren bevorsteht.

 

Erwartbare Ergebnisse

Erwartbar war, dass die überwältigende Mehrheit der Menschen in Deutschland der Auffassung ist, dass der Zölibat abzuschaffen sei oder die Kirchen homosexuelle Partnerschaften segnen sollten; ebenso erwartbar war, dass von den Kirchen eine engere Zusammenarbeit gefordert wird und dass demokratische Führungsstrukturen gewünscht werden (49-52).

So erwartbar diese Ergebnisse waren, liegt dennoch in der KMU.VI hier durchaus ein Verdienst: Das sind tatsächlich Fragen, die sich quantitativ erforschen lassen und die Bestätigung des Erwartbaren hat hier einen Wert, wenngleich sich die Forderungen vor allem an die katholische Kirche richten (in der evangelischen Kirche gab es nie einen Zölibat, die Segnung von Homosexuellen ist seit Jahren in allen Landeskirchen gängige Praxis ebenso wie das synodale Prinzip mit demokratischen Wahlen der Führungsebene). Hier wäre die Schlussfolgerung, dass die evangelische Kirche das, was sie ohnehin vertritt (teilweise seit Jahrhunderten), selbstbewusst nach außen tragen sollte.

 

Die zukünftige Ausrichtung der Kirchen

Problematisch hingegen ist ein anderer Fragekomplex, der zwar von großer Wichtigkeit ist, aber unvollständig angegangen wurde, so dass die Schlussfolgerungen aus den Ergebnissen wertlos sind. Es geht um die Frage nach der zukünftigen Ausrichtung der Kirchen. Das Item dazu war: „Die Kirchen sollten sich auf die Beschäftigung mit religiösen Fragen beschränken“; es wird von einer Mehrheit der Konfessionslosen bejaht, von einer 2/3-Mehrheit der Kirchenmitglieder aber abgelehnt (52). Auch wird der Einsatz für Geflüchtete von einer großen Mehrheit der Kirchenmitglieder und die Unterhaltung von Kindergärten immerhin von einer 2/3-Mehrheit der Kirchenmitglieder bejaht (54).

Auch diese Ergebnisse sind interessant. Dennoch sind sie, wie schon angedeutet, problematisch: Das Item, dass sich Kirchen auf religiöse Fragen beschränken sollten, lässt sich ohne weitere Nachfragen nicht sinnvoll deuten.

Die offen gebliebene Frage ist, was die Kirche nach Auffassung derer, die meinen, dass die Kirche mehr als religiöse Fragen bearbeiten solle, zusätzlich tun solle. Hier wäre zu unterscheiden nach sozialem und nach politischem Engagement der Kirche. Es besteht der dringende Verdacht, dass die Ergebnisse beider Bereiche erheblich auseinanderfallen würden: Während das soziale Engagement der Kirchen von Mitgliedern wie auch von Konfessionslosen weitgehend goutiert wird (dies ist auch das Ergebnis anderer Items der KMI.VI), ist dies beim politischen Engagement nicht selbstverständlich – hier waren die Kirchen in der letzten Zeit durchaus der Kritik konservativer Medien ausgesetzt, und es wäre damit zu rechnen, dass sich hier ein differenzierteres Meinungsbild zeigen würde. Das einzige Item, das in diese Richtung geht, beschäftigt sich mit dem Einsatz für Geflüchtete (53).

In diesem Zusammenhang suggerieren die Autoren, dass nur eine Minderheit der Menschen (Mitglieder wie Konfessionslose) Probleme mit dem konkreten politischen Engagement der Kirchen hat. Dies lässt sich aber erstens nicht aus einem einzigen Item folgern, das zudem offen lässt, ob es um das soziale oder das politische Engagement geht (anders, als der Text auf S. 53 behauptet, wurde beispielsweise gerade nicht danach gefragt, ob die Kirche ein Seenotrettungsschiff unterhalten solle, so dass die Antwort auf die anders gestellte Frage nicht seriös als Beleg der der Befürwortung der Seenotrettung genommen werden darf).

Hätte man hier sinnvolle Ergebnisse produzieren wollen, hätte differenziert nach bestimmten Bereichen politischen Engagements der Kirchen gefragt werden müssen. Es hätte unterschieden werden müssen zwischen dem allgemeinen Einsatz für Flüchtlinge und der Seenotrettung, zwischen dem Einsatz für die Bewahrung der Schöpfung und dem Applaus für Klimakleber usw. All diese Differenzierungen wurden nicht geleistet. Schlussendlich hätten die Antworten der Kirchenmitglieder, die sich gegen den Einsatz für Flüchtlinge aussprechen mit den Antworten auf die Fragen nach Verbundenheit mit der Kirche und nach Austrittserwägungen gekreuzt werden müssen, um eine Auskunft darüber zu erhalten, ob die Kirchen mit ihrem politischen Engagement einen Teil einer im Grunde loyalen Gruppe zunehmend verprellen – was sowohl die Sinus-Kirchen-Studie von 2012 sowie die bereits oben genannte mediale Kritik in Zeitungen wie vor allem der WELT oder NZZ nahelegen.

Der Umstand, dass 25% sagen, dass die Kirche zur Vermeidung von Austritten sich „stärker auf religiöse Fragen konzentrieren“ solle (58) ist ein deutliches Indiz in diese Richtung. Wie die Autoren darüber hinaus zu dem Urteil kommen, dass die Kirche eine Steigerung ihrer Attraktivität über religiöse Aktivitäten nicht erlangen könne (66) ist angesichts der von ihnen selbst publizierten Daten vollkommen schleierhaft.

Hier wurde eine große Chance vertan, die für die strategische Ausrichtung der Kirchen höchste, vielleicht sogar existenzielle Bedeutung hätte haben können. Zur Erinnerung: In den Sinusstudien zur Kirchenmitgliedschaft wurde 2012 sehr eindeutig festgestellt, dass das sozialökologische Milieu weniger als 10% der Bevölkerung erreicht und sich die Verengung der Kirchen auf dieses Milieu insofern auswirkt, als dass andere kirchentragende Milieus (konservativ-etabliert, liberal, bürgerliche Mitte, Traditionelle) dadurch verprellt werden. Hier wäre es wichtig gewesen, wie sich dieses 2012 festgestellte Faktum entwickelt hat. Zu mutmaßen ist, dass sich die Situation (sich ausschließender Charakter der Milieus) eher sogar verschlimmert hat, hat doch offensichtlich die politische Spaltung der Gesellschaft zugenommen. Aber leider erfährt man in dieser wichtigen Frage von der KMU.VI rein gar nichts.

 

Perspektiven des Religionsunterrichts

Ein aus der Perspektive des Religionspädagogen spannendes Kapitel ist das zum Religionsunterricht. Zunächst seien die Ergebnisse referiert: Der schulische RU sei durch 20 Items untersucht worden, wovon in der Erstveröffentlichung drei vorgestellt werden (55). Es habe sich „ein bemerkenswerter Wandel in der Wahrnehmung des Religionsunterrichts vollzogen“ (56). Von Generation zu Generation werde er als weniger konfessionsbezogen und als pluraler empfunden. Freie Diskussionen hätten großen Raum eingenommen und je größer diese gewesen seien, umso relevanter werde der Religionsunterricht für das eigene Leben empfunden. Dieser Wandel sei von den Befragten ausdrücklich begrüßt worden. Hier hätte man gern die genauen Fragen und Ergebnisse gelesen, aber man muss sich auf de Hauptveröffentlichung gedulden.

Dem Duktus der bisherigen Kapitel treu bleibend, haben sich die Autoren leider entschlossen, die genannten positiven Aspekte nicht genauer zu würdigen, sondern die negativen (die also ins Konzept passen) ausführlich zu referieren. Diese sind, auch wenn die Motivation ihrer Auswahl deutlich ist, allerdings alarmierend: Die Mitwirkung der Kirche an der Gestaltung des RU wird über alle Altersklassen hinweg mit Ausnahme der kirchlich-religiösen mehrheitlich abgelehnt (56). Die Forderung nach Abschaffung des RU finde allerdings keine Mehrheit (56, hier leider keine genauen Zahlen).

 

Erosion der Legitimität des Religionsunterrichts

Was darüber hinaus zu denken geben sollte: Das Item: „Das Schulfach Religion sollte neutral über alle Religionen informieren, ohne sich einer bestimmten religiösen oder weltanschaulichen Richtung verpflichtet zu fühlen“, wird von 85% der Bevölkerung bejaht, auch von über 80% der evangelischen Kirchenmitglieder. Auf ähnliche Zustimmung stoße das Item: „Im Schulfach Religion sollten Schulkinder unterschiedlicher Religionszugehörigkeit gemeinsam unterrichtet werden“.

Diese Aussagen spiegeln eine Erosion der Legitimität des Religionsunterrichts wider, die durchaus auch Anhalt an der von zahlreichen Religionslehrkräften berichteten Realität hat. Dennoch: So alarmierend diese Aussagen sind, so unvollständig ist die Analyse. Wie verträgt sich die Kritik an der kirchlichen Mitwirkung mit den als positiv empfundenen Aspekten des RU? Zielt die Aussage, dass Kinder unterschiedlicher Religionszugehörigkeit gemeinsam unterrichtet werden sollten (an der überwältigenden Mehrheit der Schulen mit Ausnahme der Gymnasien in Baden-Württemberg seit 20 Jahren Alltag) tatsächlich auf eine Kritik des RU oder ist sie eine Bestätigung der Veränderungen in den letzten 20 Jahren?

Und: Kennen die Probanden die Alternativkonzepte? Kennen sie die auch seit rund 20 Jahren die religiöse Pluralität ernstnehmenden Bildungspläne? Zielt ihre Kritik auf diese oder auf bestimmte Vorurteile, die sie vom RU haben? Sind die kirchlich-religiösen Menschen mit dem RU zufrieden? All das sind offene Fragen, für die man sich auch die Mühe einer qualitativen Untersuchung hätte machen müssen; zumindest hätte man hier noch Nachfragen stellen müssen: So alarmierend die Antworten auf den ersten Blick sind, so wenig lassen sich aus ihnen irgendwelche Handlungsoptionen ableiten, weil die Bezüge vollkommen unklar bleiben.

 

Die Bedeutung religiöser Sozialisation

Interessant, aber auch kaum über längst bekannte Studien hinausgehend, ist die Bestätigung der Bedeutung der religiösen Sozialisation in der Kindheit für die spätere religiöse Einstellung (59ff). Tatsächlich neu ist die Erkenntnis, dass die kirchliche Jugendarbeit, z.B. der Konfirmandenunterricht, offenbar eine noch größere Rolle für die spätere religiöse Einstellung hat, als die Impulse durch die Mutter. An dritter Stelle steht der schulische RU, an vierter der Vater.

Wenn sich eine leichte Schlussfolgerung aus dieser These ableiten lässt, dann, dass die kirchliche und schulische Arbeit tatsächlich Menschen beeinflusst, sie folglich nicht vergebens ist (so auch die Schlussfolgerung der Autoren auf S. 65, der zuzustimmen ist). Dass ihr Anteil im Vergleich zu dem der Eltern an Gewicht gewinnt, dürfte an der sinkenden religiösen Sprachfähigkeit vieler Eltern liegen. Insgesamt steht dieser Befund aber im Kontrast zu den scharfen negativen Formulierungen zum RU – auch hier hätte weiter nachgefragt werden müssen.

 

Ökonomische Lage und Bildung

Der letzte Teil der KMU.VI befasst sich mit tatsächlich quantitativ Abfragbarem, wie dem Gebetsverhalten (keine signifikanten konfessionellen Unterschiede, 76f), Unterschieden zwischen den Generationen (je älter, je religiöser, 80f) und Geschlechtern (Unterschiede schwinden bis zur Unkenntlichkeit (79). Diese Ergebnisse sind durchaus valide, waren aber auch angesichts zahlreicher früherer Studien erwartbar, so dass sie wenig spektakulär sind.

Interessanter wird der Teil zur ökonomischen Lage und Bildung: Die KMU.VI bestätigt, dass die These, dass ökonomischer Wohlstand und Bildung mit schwindender Religiosität einhergingen (die Autoren schreiben diese These zwei Autoren von 2004 anstatt dem ansonsten als Stammvater ihrer Vorannahmen dienenden Max Weber zu, der sie schon vor 100 Jahren hatte), falsch ist (82f). Was die KMU.VI hier feststellt, ist nicht neu: Bereits die o.g. Sinus-Studie von 2012 hatte herausgearbeitet, dass Religion, insbesondere der Protestantismus, mehr und mehr zu einer Oberschichtreligion, also zu einer Religion der Wohlhabenden und Gebildeten werde. Es liegt ein Wert darin, dass die KMU.VI dieses bekannte Wissen zehn Jahre später noch einmal bestätigt, denn aus dieser Erkenntnis hat die Kirche in den letzten zehn Jahren kaum Konsequenzen gezogen. Dass sich die Protestanten soziologisch mehr und mehr aus dem Bildungsbürgertum zusammensetzen, sich also ein echter Kulturprotestantismus im Sinne einer „Religion mit Stil“ (Korsch 1997) gebildet hat, wird sowohl von den Machern der Studie wie auch leider weitgehend von kirchlichen Kreisen ignoriert.

Sieht man sich diese Ergebnisse an, wird man traurig zurückschauen: Um die Jahrtausendwende war man mit der sachgerechten Diagnose des cultural turn deutlich weiter (Gräb, Huizing, U. Barth, Drehsen und auch die EKD-Denkschrift „Kirche der Freiheit“; später im Sinne des iconic turn weiterdenkend wieder Gräb, Huizing und neu in erfrischender Klarheit M. Krüger). Die Chancen, die sich aus diesen Impulsen ergeben hätten, hat die Kirche leider weitgehend vertan.

 

Fazit: Datenmüll, Fehlurteile und Selbstbestätigung

Dies leitet zum Fazit über. Man könnte eine Studie, die so gravierende fachliche Mängel aufzeigt und in einer ins Groteske gehenden Art ein Dokument der Selbstbestätigung der bereits vorher feststehenden (Fehl-)Urteile ihrer Autoren ist, belächeln. Man könnte sie ignorieren – es ist nicht die erste Studie, bei der das Selbstbewusstsein im Duktus nicht verdecken kann, dass ihr letztlich Datenmüll zugrundeliegt; und es wird auch nicht die letzte sein. Ob nun Unkenntnis oder Chuzpe bei den Autoren vorliegt, mögen andere entscheiden – bei einigen Passagen mutet es jedoch merkwürdig an, dass die durch hunderte und besser betriebene Studien belegte Realität und die aus ihr folgende wissenschaftliche Debatte vollkommen spurlos an den Autoren vorbeigegangen zu sein scheint. Aber auch darüber mögen andere entscheiden.

Problematisch ist, dass das Ganze offenbar mit kirchenamtlicher Absegnung passiert. Die mit der KMU.VI erneut behauptete Säkularisierungsthese (explizit S. 38) hat fatale Folgen: Die Studie nimmt an, dass sich Religiosität aufgrund gesellschaftlicher Modernisierungsprozesse, auf die die Kirche letztlich keinen Einfluss habe, in einem stetigen Abnahmeprozess befinde. Das aber führt in der Kirche zu Fatalismus und Defätismus: Man wird sich mit dieser Studie in der Hand in Kerngemeindekonzepten einigeln. Zwar scheuen die Autoren der Studie vor dieser Konsequenz zurück und es sei anerkennend erwähnt, dass sich hier auch die seltenen Lichtblicke finden (ebenfalls S. 38), der Subtext ist aber klar: Wenn man abnehmende Religiosität mit einer sich den Anschein der Wissenschaftlichkeit gebenden Studie zur gesellschaftlichen Realität erklärt, dann hat man damit das Futter für die Kapitulation vor der gesellschaftlichen Veränderung. Es bleibt dann eine Studie übrig, die das traurige Gründungsdokument einer Kirche ist, die sich mit der eigenen Bedeutungslosigkeit abgefunden hat, ja mehr noch: diese mutlos kultiviert.

Die alternativen Konzepte liegen, wissenschaftlich gut begründet und in der Praxis erprobt, seit Jahren auf dem Tisch; oben wurde eine Auswahl benannt. Die Kirche steht jetzt vor der Wahl: Der point of no return ist bald erreicht. Die für die Kirchen lebensentscheidende Frage ist, ob man es sich in der Komfortzone der Säkularisierungstheorie bequem macht und damit all jenen Recht gibt, die diese Kirche nicht mehr benötigen, oder ob man sich die Mühe macht, die religiösen Bedürfnisse der Menschen erstens zu ermitteln und zweitens dann auf diese einzugehen. Das bedarf aber nicht nur erheblicher Anstrengungen, sondern auch eines Paradigmenwechsels in den Köpfen der Kirchenleitungen. Mit Vorlage der KMU.VI haben sich das Sozialwissenschaftliche Institut der EKD und die ihm zuarbeitenden Menschen jedenfalls irreparabel blamiert. Will die Kirche Zukunft haben, braucht sie andere Propheten.

 

Anmerkung

1 Wie hältst du’s mit der Kirche. Zur Bedeutung der Kirche in der Gesellschaft, Leipzig 2023; die folgenden Seitenzahlen beziehen sich auf diese Publikation. Im Folgenden ist summarisch von „Autoren“ die Rede, was hier – da in der Publikation nicht gekennzeichnet ist, wer für welchen Teil verantwortlich ist – summarisch alle Macherinnen und Macher der Studie bezeichnen soll.

 

Über die Autorin / den Autor:

Dr. theol. Karsten Jung, Studiendirektor und Fachberater für Evang. Religion am Zentrum für Schulqualität und Lehrerbildung Freiburg, zuständig für die Qualitätsentwicklung im Religionsunterricht, Unterrichtsfächer: Evang. Religion und Geschichte an einer Beruflichen Schule in Walds­hut, religionspädagogische Lehraufträge an zwei Hochschulen, Autor zahlreicher religionspädagogischer Arbeiten, Schulbücher, Unterrichtshilfen und Grundsatzbeiträge.

 

Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 3/2024

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