Wenn man als Christ und religiös Interessierter auf die Hitlerzeit (Manfred Gailus bevorzugt diesen Begriff) zurückblickt, erscheint einem diese mit der Errichtung eines grausamen totalitären Staats, der Auslösung des 2.Weltkriegs und der Verfolgung und Vernichtung der europäischen Juden als eine zutiefst gottlose und unmenschliche Zeit. Es war die Zeit eines alle christlich-religiösen und humanitären Standards in Frage stellenden Zivilisationsbruchs, der sich in nur 12 Jahren vollzog. Ein Zivilisationsbruch in einer Gesellschaft, die nominell christlich war. Denn 95% der deutschen Bevölkerung gehörten in der Hitlerzeit einer der beiden großen Kirchen an.

Das ist ein Grund, warum Manfred Gailus sein Buch über Religiosität im Dritten Reich überraschend „Gläubige Zeiten“ nennt. Es ist ein gründliches und materialreiches Buch, das auf umfangreichen neueren Forschungsergebnissen beruht (die Literaturliste umfasst über 100 Titel). Zwar war bekannt, dass der „nationale Aufbruch“ im Jahr 1933 Züge religiöser Begeisterung hatte. Aber Gailus macht deutlich, dass man die gesamte Hitlerzeit als „gläubige Zeiten“ beschreiben kann.

 

Nationalsozialistische Bekenntnisse und christliche Tradition

95% der Deutschen gehörten, wie gesagt, den Kirchen an. Zur gleichen Zeit gab es Millionen Männer und Frauen, die ab 1930 die Hitlerpartei wählten und nach 1933 in die Partei eintraten, ohne aus der Kirche auszutreten (mit Ausnahme der sog. „Gottgläubigen“, „gottgläubig“ konnte ab 1936 als Religionszugehörigkeit bei den Standes- und Steuerämtern angegeben werden).

Glaube in vielen Schattierungen hatte hohe Konjunktur. Von Gott, wahlweise auch vom Herrgott, vom Allmächtigen, vom Schöpfer oder der Vorsehung und von Glaube und Bekenntnis war ungewöhnlich häufig die Rede. Es gab viele religiöse Glaubensbekundungen und christliche Standortbestimmungen, auch von prominenten Theologen (Althaus, Grundmann, Hirsch, Kittel ua.). „Aus dieser doppelten Zugehörigkeit zu christlichen Konfessionen einerseits und zur totalitär herrschenden Partei andererseits resultierte bei vielen christlichen Zeitgenossen die uns heute seltsam anmutende Haltung einer doppelten Gläubigkeit (…) Nationalsozialistische Bekenntnisse und christliche Tradition verschränkten sich in zeittypischen religiösen Gemengelagen.“ (10)

In der neueren Forschung wird diese Haltung mit Begriffen wie „religiöser Doppelglaube“, „multiple Gläubigkeit“ oder „hybride Doppelgläubigkeit“ bezeichnet (heute gibt es sie, statistisch unauffällig, z.B. in der Gestalt, dass nominell den Kirchen angehörende Christen sich buddhistischen oder anderen Meditationspraktiken zuwenden).

Gailus gliedert seine Untersuchung in vier Kapitel. Das erste behandelt die Haltung der christlichen Konfessionen zum Nationalsozialismus. Besonders das Jahr der Machtergreifung 1933 wurde als religiöses Erlebnis wahrgenommen und inszeniert. Das zeigte „der Tag von Potsdam“ am 21.März 1933 mit seinem Festakt in der Garnisonskirche, bei dem Generalsuperintendent Otto Dibelius predigte und der neue Reichskanzler Hitler vom Reichspräsident Hindenburg mit Handschlag gewissermaßen den Segen erhielt. Es gab viele Wiedereintritte in die Kirche, kirchliche Massentrauungen und Sammeltaufen. Die völkisch eingestellten Deutschen Christen versuchten in Anpassung an die Nazi-Ideologie ein arisches Christentum durchzusetzen. Auch der Clerus Minor, die auf dem deutschen Diakonentag in Hamburg versammelten 1000 sozialpädagogisch und katechetisch tätigen Diakone, angeredet von Pastor Schirrmacher als „SA Jesu Christi“, sahen Chancen für ihre volksmissionarischen Tätigkeiten und sandten eine Ergebenheitsadresse an den Führer und Reichskanzler (was Gailus nicht erwähnt!), „den Führer unseres Volks und Retter unseres Vaterlands vor dem Untergang im Bolschewismus“ (M. Häusler, Dienst an Kirche und Volk. Die deutsche Diakonenschaft zwischen beruflicher Emanzipation und kirchlicher Formierung, Stuttgart 1995, 240). Die Diakone wurden von ihren Vorstehern aufgefordert, in die SA einzutreten. Ein kurzer Aufschwung, der schnell von der NS-Führung abgebremst wurde. Ihr Ziel war ja die Entkonfessionalisierung des öffentlichen Lebens, die dann in Gleichschaltungsprozessen auch weitgehend umgesetzt wurde.

Im zweiten Kapitel skizziert Gailus die neuen Glaubensbewegungen im Dritten Reich: neben der Glaubensbewegung „Deutsche Christen“ gab es die „Deutsche Glaubensbewegung“, sodann die „Gottgläubigen“, die die Kirchen verließen, von deren Rändern sie kamen, darunter besonders viele SS-Mitglieder, Parteifunktionäre, Beamte, Lehrer. (Auch mein Großvater, von Beruf Lehrer, war gottgläubig und zwang seine Tochter, meine Mutter, zum Austritt aus der Kirche).

 

Protestantische Dissonanzen

Gailus nennt die Protestanten im Jahr 1933 einen „vielstimmigen dissonanten Chor“. Die Katholiken waren aufgrund ihrer kirchlichen Verbandskultur zwar nicht so anfällig für die völkische Verführung. Aber Gailus weist darauf hin, dass in den Gebieten, die rein katholisch waren, das gesamte nationalsozialistische Führungspersonal katholisch war und seine Funktionen nationalsozialistisch treu bis zum Ende erfüllte.

Der Erfolg der völkischen Glaubensbewegung Deutsche Christen bei den Kirchenwahlen im Juli 1933 rief bekanntlich erst die Gegenbewegung der Bekennenden Kirche hervor. Diese erste Zeit des Kirchenkampfes ist gut erforscht und wird mit dem von Karl Barth und Hans Asmussen formulierten Barmer theologischen Bekenntnis vom Mai 1934 immer zur Ehrenrettung der Kirche in der NS-Zeit herangezogen. Aber die BK versagte fast vollständig vor den großen Herausforderungen der Zeit, dem Eintreten für Verfolgte und Ausgegrenzte. Sie sagte nichts zu der Ausgrenzung der Juden, schwieg – bis auf wenige Ausnahmen – in der Pogromnacht, als jüdische Synagogen zerstört, Geschäfte geplündert und 30.000 jüdische Männer in Konzentrationslager eingeliefert wurden. Es gab unter den 18.000 evangelischen Pfarrern nachweislich nur drei namentlich bekannte Prediger, die darauf kritisch eingingen, wie Gailus in dem Kapitel „Juden, Antisemitismus und ‚Kristallnacht‘“ zeigt. Gailus erwähnt auch die Lehrerin Elisabeth Schmitz, die die Kirchenleitung der BK vergeblich zu einem Protest aufrief. Das Unheil der Vernichtung vorausahnend schrieb sie an Helmut Gollwitzer im November 1938: „Mit dem letzten (deportierten) Juden verschwindet auch das Christentum aus Deutschland.“ Leider zitiert Gailus diesen Satz nicht, der für mich bis heute das Versagen der Kirchen deutlich macht.

Wie schon vorher gab es auch angesichts der schrecklichen „Kristallnacht“ keine gemeinsamen Aktionen der Protestanten und der katholischen Bischöfe. Die jahrhundertelange konfessionelle Gegnerschaft war stärker als die Bereitschaft zu einem gemeinsamen Eintreten für die an Leib und Leben bedrohte jüdische Minderheit.

 

Das Versagen der Kirchen angesichts des Holocausts

Im vierten Kapitel „Krieg, Christen und Holocaust“ zeigt Gailus, wie beschämend die Vorläufige Kirchenleitung der DEK sich anlässlich des Kriegsausbruchs und der erfolgreichen Feldzüge in Polen und Frankreich in ihren Verlautbarungen dem Regime andiente. Der deutsche Vernichtungskrieg im Osten wird im katholischen Milieu vielfach als ein christlicher Kreuzzug gegen den „gottlosen Bolschewismus“ interpretiert und akzeptiert, wie Berichte katholischer Wehrmachtgeistlicher zeigen. „Nach ihrer Konfessionszugehörigkeit handelte es sich bei der deutschen Wehrmacht 1939 um eine christliche Armee“ (136), schreibt Gailus zuspitzend. Allein 5 bis 6 Mio. Katholiken dienten in den Jahren 1939 bis 1945 in Hitlers Armeen. Gailus zitiert die Briefe eines katholischen Soldaten, in denen wenig von Gott, Glaube und Religion die Rede ist, dafür aber von Hitler als allmächtigem Führer der Deutschen. Hier zeigt sich die Wirkung der nationalsozialistischen Sozialisation in HJ und Arbeitsdienst trotz Zugehörigkeit zur katholischen Kirche.

Auch gab es eine „nationalsozialistische Gottgläubigkeit im Krieg“, die sich besonders in den Lebensfeiern zeigte, den Übergangsriten des neuen Glaubens bei Geburt, Eheschließung und Tod. Dieser Glaube begann aber bereits zwei, drei Jahre vor Kriegsende zu bröckeln, als die Siege ausblieben und die Niederlage sich trotz aller Durchhalteappelle abzeichnete. „Die von der Hitlerpartei projektierte religiöse Transformation der Deutschen stockte.“ (151)

Die Endlösung der Religionsfrage wurde verschoben, aber die Endlösung der Judenfrage weiter massenmörderisch betrieben. Gailus weist auf den einzigen Fall hin, in dem ein evangelischer Pfarrer im öffentlichen Gottesdienst gegen den Antisemitismus und für die Juden eingetreten ist. Das war der reformierte Pfarrer Helmut Hesse am 6. Juni 1943 in Wuppertal. Er wurde zwei Tage später verhaftet und im November in das KZ Dachau eingeliefert. Dort starb der gesundheitlich geschwächte junge Theologe im Alter von nur 27 Jahren am 24. November 1943. „Er war der einzige Theologe beider christlicher Konfessionen, der so klar und deutlich von der Kanzel zur Kriegszeit den grassierenden Antisemitismus und den Judenmord verurteilte.“ (154) Dabei war das Wissen um den Holocaust, auch durch den Augenzeugenbericht des SS-Obersturmführer Kurt Gerstein, in kirchlichen Führungskreisen zunehmend bekannt geworden. Aber man verzichtete auf öffentlichen Protest, aus übertriebener Sorge um das Wohlergehen der Kirche und beschränkte sich auf eine vertrauliche Eingabenpolitik (wie schon angesichts der Krankenmorde mit der Ausnahme des Bischofs von Münster, Graf Galen). So am deutlichsten Bischof Wurm am 16. Juli 1943 in seiner Eingabe an Hitler, die aber nichts bewirkte. Das Versagen der Kirchen bis hin zum Papst war groß.

 

Die Kirchen sind beschädigt bis heute

Gailus konstatiert knapp: „Die Vernichtung fand statt. Sie wurde aus einer christlichen Gesellschaft heraus vollzogen. Protagonisten und Hauptakteure des Genozids stammten aus christlichen Familien, waren indessen Anhänger eines neuen Glaubens geworden, den sie nationalsozialistische Weltanschauung nannten (…) Positiv formuliert bekannten sich deren Protagonisten zu einem völkisch-rassisch motivierten Gottesglauben, der in ihren Augen das Judentum als Volk und Religion auslöschen und das Christentum als nicht artgemäße Religion ablösen sollte.“ (164) Aber das Wissen um die systematische Vernichtung, die in den Konzentrationslagern im Osten geschah, war bruchstückhaft. Die mehrheitlich christliche Gesellschaft stand gegen den Massenmord nicht auf. Das ist die „unermessliche Schande der Kirche“ (Alfred Andersch), die auch nach dem Krieg, ich sage: bis heute, nicht in ihrer ungeheuren Dimension einbekannt wurde. Ich nenne sie „beschädigte Versöhnung“ (so der Titel meines Buchs von 2021 mit dem Untertitel „Die Folgen des Versagens der Kirchen in der Nazizeit“).

Zwar haben die Kirchen nach dem Krieg als scheinbar widerständige und intakte Institutionen noch einmal eine Renaissance erlebt, aber das nur halb zugestandene Versagen hat mittelfristig ihrer Überzeugungskraft geschadet und, verstärkt durch die rasante Säkularisierung in der Wohlstandsgesellschaft und schließlich durch den Missbrauchsskandal, zu einer Austrittsbewegung geführt, die die Kirchenmitgliedschaft in der Bundesrepublik unter 50% sinken ließ.

Man muss Manfred Gailus dankbar sein, dass er die religiösen Grundlagen und Ausdrucksformen der Gläubigkeiten der Nazizeit auf der Basis der neuesten Forschungsergebnisse aufgearbeitet und konzis dargestellt hat. Es kam ihm darauf an, den christlich wie nationalreligiös bestimmten Doppelglauben aufzuzeigen und seine These von den „gläubigen Zeiten“ zu belegen. Das ist ihm erschreckend überzeugend gelungen. Der nationale Aufbruch von 1933, antiwestlich und antiliberal, war kein religious revival, sondern der Auftakt zu einem Zivilisationsbruch ungeheuren Ausmaßes, der von einem deutschen Gottglauben getragen wurde, den viele Christen mit den Nazis teilten. Man wollte irgendwie christlich bleiben und bekannte sich gleichzeitig in gläubiger Emphase zum Nationalsozialismus. Dieser endete in einem radikalisierten religiösen Fanatismus der Naziführung, der die Endlösung der Judenfrage zur großen heroischen Tat verklärte und technisch-administrativ als Genozid umsetzte. Für einige Verschwörer vom 20. Juli 1944 war ihr Wissen vom Völkermord an den Juden Motiv für ihr Handeln, so für Dietrich Bonhoeffer. Das deutsche Christentum, evangelisch wie katholisch, war gegen seinen völkischen Missbrauch nicht gefeit; das Schreckliche ist, dass viele Christen ihn doppelgläubig selbst betrieben haben.

 

Literatur

Manfred Gailus: Gläubige Zeiten. Religiosität im Dritten Reich, Freiburg 2021, 223 S.

 

Hans-Jürgen Benedict

 

Über die Autorin / den Autor:

Prof. Dr. theol. Hans Jürgen Benedict, ­Jahrgang 1941, 1980-1991 Pfarrer in Hamburg, 1991-2006 Prof. für Diakonische Theologie an der Evang. Hochschule für Soziale Arbeit und ­Diakonie Hamburg.

Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 1/2024

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