Es gibt nichts Unschuldiges mehr, kein unbeschwertes Glück unter der Sonne, denn alles ist mit allem verwoben. Dürfen wir überhaupt noch Spaß haben? Dürfen wir glücklich sein? Konnten wir überhaupt je glücklich sein? Und können wir dafür dankbar sein? Anlass genug für Erik Müller-Zähringer, ein wenig Begriffsarbeit zu leisten und ganz grundsätzlich nach Glück und Dank in der Moderne zu fragen.
Verlorene Unschuld
Im Frühjahr 2022 huldigte Rebecca Casati in der Wochenzeitung „Die ZEIT“ in ihrer Geschichte des Swimming-Pools selbigem als Sehnsuchtsort der Unbeschwertheit. Der Pool beschwört die „Herrlichkeiten, die für alle gleich unvernünftig oder nicht zu bewahren sind. […] Ein Stück kindliche Sorglosigkeit – wohl mittlerweile der größte Luxus überhaupt.“1
Viele sehnen sich derzeit – mitunter melancholisch-sentimental2 – nach der Leichtigkeit und dem Glück vergangener Tage: Corona-Krise, Demokratie-Krise, Finanz-Krise, Hunger-Krise, Kirchen-Krise, Klima-Krise, Ukraine-Krise … Wir träumen eskapistisch von sorglosen Auszeiten, wir wollen, wenigstens für einen Augenblick, heraus aus dem nicht enden wollenden Krisenmodus, wollen genau dies: „Naives Herumliegen. Narzisstisches Nichtstun. Zu langes Sonnenbaden. Eiscreme am Morgen. Alkohol ab Mittag. Trägheit, Exzess und Laster … und irgendwie auch die sofortige Reinwaschung davon.“3 Und wissen doch: Unsere Leichtigkeit ist unerträglich geworden, unser ehemals scheinbar sorgloses Glück angefragt. Liegt man auch am Pool und genießt die Sonne: um uns wird geschossen und gestorben, gehungert und gefroren. Unser westlicher Wohlstand – errichtet auf der Ausbeutung anderer und auf Kosten nachfolgender Generationen. Und alles ist mit allem verwoben und verstrickt. Die moralische Tat zeitigt indirekt unethische Folgen, die Mitgliedschaft in einer Institution zu gutem Zweck finanziert finstere Machenschaften … Und über allem liegt der heiße Schatten der Klimakrise.
Es gibt nichts Unschuldiges mehr: vom Urlaub am Pool bis zum Fußball in der Wüste, vom Flug zur Klima-Konferenz bis zum Gang in die Kirche. Wir sind angefragt, angeklagt. Allezeit, jede und jeder. Auch für das Glück vergangener Tage.
Gnadenloser Rechtfertigungsdruck
Von einer „Übertribunalisierung“ der Menschenwelt hatte der Philosoph Odo Marquard bereits 1978 gesprochen.4 Bereits seit Beginn der Neuzeit, bewusst seit Mitte des 18. Jh. wird der Mensch je länger desto mehr gedacht als alleiniger Urheber seines Geschicks. Der Mensch bzw. die Gattung der Menschheit tritt damit gedanklich an die Stelle Gottes. Folglich wird er auch umfassend verantwortlich für den Lauf der Welt. Noch das Gewaltigste: Klima-Veränderungen und Umwelt-Katastrophen – kein schicksalhaftes Verhängnis mehr oder göttliche Zumutung, sondern unsere Tat und die Konsequenz unserer Vermeidungsverweigerung!5
Dadurch wird der Mensch auch an anderer Stelle Erbe der göttlichen Position und Funktionen. An Gottes statt wird nunmehr der Mensch „wegen der Übel der Welt absolut Angeklagter [… Er gerät; EMZ] unter absoluten Rechtfertigungsdruck, unter absoluten Legitimationsdruck“6. Der Mensch als Angeklagter? So neu klingt das nicht. Wird nicht auch im Christentum der Mensch „absolut – nämlich durch den Absoluten: durch Gott – angeklagt: wegen der Sünde“7? Ja, so Marquard, aber „diese absolute Anklage ist christlich zugleich absolut ermäßigt: durch die göttliche Gnade“8. Dagegen trifft seit der Moderne „die absolute Anklage wegen der Übel der Welt den Menschen gnadenlos“ und setzt ihn „gnadenlos unter totalen Rechtfertigungsdruck“9. In der Folge wird sie „menschlich unaushaltbar und unlebbar“10: „Mit welchem Recht gibt es dich überhaupt und nicht vielmehr nicht, und mit welchem Recht bist du so, wie du bist, und nicht vielmehr anders? […] Zum exklusiven menschlichen Lebenspensum wird: vor einem Dauertribunal, bei dem jeder Mensch zugleich als Ankläger und Richter agiert, die Entschuldigung dafür leben zu müssen, daß es ihn gibt, und nicht vielmehr nicht, und daß es ihn so gibt, wie es ihn gibt, und nicht vielmehr anders.“11
Mit welchem Recht haben wir (so viele) Kinder? Mit welchem Recht verbrauchen wir die Ressourcen dieses Planeten, vernichten andere Arten? Wäre es nicht besser, zum Wohle des Planeten auszusterben? Mit welchem Recht waren wir glücklich? Dürfen wir überhaupt noch Spaß haben? Spaß ist nur, wenn alle Spaß haben – synchron wie diachron! Dürfen wir also, durften wir also glücklich sein? Konnten wir überhaupt glücklich sein? Ja, waren wir überhaupt glücklich? Und können wir dafür dankbar sein? Anlass genug, von Vorne zu beginnen, ein wenig Begriffsarbeit zu leisten und ganz grundsätzlich nach Glück und Dank in der Moderne zu fragen.12
Im Glück sein
Mit dem Glück scheint es seltsam: Hat man’s, merkt man’s nicht. Und merkt man’s, hat man’s nicht, nicht mehr. Überhaupt hat man kein Glück. Hans hat kein Glück. Hans ist im Glück. Sein statt Haben also. Das ist das Urbild des Glücks: Im Glück zu sein. Vollkommen, ganz eins, differenzlos, reflexionslos. Das Bewusstsein des Glücks kommt dem Glück gegenüber stets zu spät. Es bleibt: ihm gegenüber. Bei dem Philosophen Theodor W. Adorno klingt das eben Gesagte so:
„Mit dem Glück ist es nicht anders als mit der Wahrheit: Man hat es nicht, sondern ist darin. Ja, Glück ist nichts anderes als das Umfangensein, Nachbild der Geborgenheit in der Mutter. Darum aber kann kein Glücklicher je wissen, daß er es ist. Um das Glück zu sehen, müßte er aus ihm heraustreten: er wäre wie ein Geborener. Wer sagt, er sei glücklich, lügt, indem er es beschwört, und sündigt so an dem Glück. Treue hält ihm bloß, der spricht: ich war glücklich.“13
Zum Glück ist das auch bei Adorno nicht das letzte, nicht das einzige Wort zum Glück (wie sollte es bei einem dialektischen Denker auch anders sein). Wie ist es dann aber bestellt aus philosophischer Sicht um das Verhältnis von Glück und Reflexion? Bleiben beide, das Glück und die Reflexion, das Glück und das Bewusstsein des Glücks, notwendig voneinander getrennt? Bleibt es bei der Gegenüberstellung: reflexionsloses Glück hier, glücklose Reflexion dort?
Reflexionsloses Glück
Dem reflexionslosen Glück hat die Philosophie zu großen Teilen, vor allem in der Moderne, ohnehin stets misstraut, auch Adorno14: zu wenig Reflexion. In der Tat: Ist das reflexionslose, bewusstlose Glück nicht „der bloße Schein von Glück, dumpfes Hinvegetieren, dürftig wie das Dasein der Tiere. Im besten Falle wäre es die Absenz des Bewußtseins von Unglück“15? Ähnelt es nicht allzu sehr dem „Glück der Rauschgifte“16? Adorno umkreist diese Gedanken in der gemeinsam mit Max Horkheimer verfassten Dialektik der Aufklärung tatsächlich im Blick auf ein „Rauschmittel“, im Blick auf jene Lotophagen nämlich, jene „Lotos-Esser“, aus dem IX. Gesang von Homers Odyssee:
„Wer nun die Honigsüße der Lotosfrüchte gekostet,
Dieser dachte nicht mehr an Kundschaft oder an Heimkehr,
Sondern sie [also Odysseus’ Gefährten; EMZ] wollten stets in der Lotophagen Gesellschaft
Bleiben und Lotos pflücken und ihrer Heimat entsagen.“17
Dem Lotos-Esser soll also – so Adorno und Horkheimer – „nichts Übles bereitet sein … Nur Vergessen soll ihm drohen und das Aufgeben des Willens“18. Nichts Übleres droht ihm also als ein differenzloses, reflexionsloses, bewusstloses Sein im Glück in einer vergangenheitslosen und zukunftslosen Gegenwart. Ohne Erinnerung, aber damit auch ohne Bewusstsein von einstig erlittenem und verursachtem Leid. Ohne Sehnsucht, und damit auch ohne Willen und Verlangen nach etwas anderem. Reines Glück, Glück in der Dauer eines reinen Augenblicks.
Glück? Wohl doch nicht, doch nicht so richtig. So betrachtet, im Kontext der Lotophagen-Stelle, scheint ein solches Sein im Glück tatsächlich eher „der bloße Schein von Glück, dumpfes Hinvegetieren, dürftig wie das Dasein der Tiere. Im besten Falle … die Absenz des Bewußtseins von Unglück.“ Und auch an anderer Stelle betonen Horkheimer und Adorno: „Damit Glück substantiell werde, dem Dasein den Tod verleihe, bedarf es identifizierender Erinnerung, beschwichtigender Erkenntnis, … kurz des Begriffs. Es gibt glückliche Tiere, aber welch kurzen Atem hat dieses Glück! Die Dauer des Tiers, vom befreienden Gedanken nicht unterbrochen, ist trübe und depressiv.“19
Kurz: Wirkliches Glück bedarf auch des Bewusstseins, des Begriffs, und damit: der Differenz, der Reflexion, etc. Denn – ganz bündig mit Adorno: „Was bloß identisch ist mit sich, ist ohne Glück.“20 Glück bedarf all dessen, was das Glück doch angeblich ausschließt, jedenfalls nach der eingangs erörterten Überlegung zum Sein im Glück. Vielleicht bedarf es eines neuen, eines erweiterten Glücksbegriffs? Dies deutet sich hier bereits an. Aber zuvor bedarf es eines zweiten Anlaufs mit einer weiteren Akzentsetzung.
Glücksfähigkeit
Überhaupt hat man kein Glück, habe ich eingangs geschrieben. Ja, Glück ist nicht zu haben, schon gar nicht als fester Besitz. Man hat kein Glück. Glück gibt sich, schenkt sich, schickt sich zu – flüchtig, fluid, frei, unverfügbar, kontingent. Freilich bedarf es dazu der entsprechenden Einstellung auf der Seite des Empfängers, der subjektiven Bereitung, Disposition. Man muss glücksfähig sein, empfänglich für das Geschenk des Glücks. Glück stellt sich ein bei entsprechender Einstellung. Es bedarf objektiver Möglichkeit wie subjektiver Bereitung. Ein wenig theologischer gefärbt (hier wird die enge Verzahnung zwischen den Themen Glück und Gnade sichtbar): zum Glück, zum Augenblick der Gnade, gehört die Gnade des Augenblicks wie die Gnade des rechten Blicks, das heißt die Gnade rechter Disposition. Aber auch letztere ist nicht frei von einem unverfügbaren Gnadenmoment.
Glückszwang
Hierin liegen einige der Schwierigkeiten von Neuzeit und Moderne mit dem Glück. Dieter Thomä hat das Glück „als geheimes Zentrum der Moderne“21 identifiziert und als einen ausgezeichneten „Anhaltspunkt …, um mit der Frage, wie es um die Moderne steht, zu Rande zu kommen.“22
In der Tat „dreht sich auch ein Gutteil der Kontroversen, die um die Bilanz der Moderne ausgefochten werden, um nichts anderes.“23 Folgt man gängigen Lesarten von Neuzeit und Moderne, lassen sie sich als des Menschen Versuch verstehen, Verfügungsgewalt zu erlangen über die Bedingungen seines Glücks – und damit über das Glück selbst, gar sein Heil. Nicht nur wird das Streben nach Glück, the pursuit of happiness, zum verfassten Recht. Der moderne Mensch, das Kollektivsubjekt Menschheit sucht seines eigenen Glückes Schmied zu sein. Folgt man Hans Blumenberg, so tut er dies in Revolte, im Aufstand gegen die Gnade24, das heißt: auch gegen das Gnadenhafte des Glücks. Glück soll machbar sein: von uns für uns. In Konsequenz wird es vom Jenseits aufs Diesseits verlagert. Wenn es von uns für uns machbar sein soll, muss es in dieser Welt machbar sein.
Nach gängiger Lesart der Moderne ist das Ergebnis bekannt: Das Verlangen, sein Glück machen zu können, wurde zum Zwang, sein Glück verbürgen zu müssen. Auf dem Altar des Glücks wurden den Glücksversprechen, ja Glückszwängen in den Sozialexperimenten der Moderne Millionen Menschen geopfert – auf dem Weg zur klassenlosen Gesellschaft, zum Reich der Freiheit etc. Die Konsequenz: Neuzeit und Moderne sind mit ihren Verheißungen in die Krise geraten.25
Glück auf Kosten anderer
In der Mitte des 20. Jh. reifte die Erkenntnis: Selbst wenn sich die Weltgeschichtsphilosophien, „Weltbeglückungspläne“26 und Sozialutopien der Moderne von Menschen verwirklichen ließen, folgte ihnen der Schatten des Leids und der Schuld. Angenommen, es gäbe eine Generation von Menschen, die miteinander in vollkommener Harmonie im Reich der Freiheit, in der klassenlosen Gesellschaft etc. lebten. Wie wäre dann – mit Helmut Peukert – „ihr Verhältnis zu den vorausgehenden Generationen zu bestimmen? Sie muß in dem Bewußtsein leben, daß sie ihnen, also den Unterdrückten, den Erschlagenen, den Opfern des vorangegangenen Befreiungsprozesses, alles schuldet. Von ihnen hat sie alles geerbt und lebt nun auf deren Kosten. Die Ausgebeuteten sind nicht mehr die gleichzeitig Lebenden, sondern die Vorangegangenen. Das Glück der Lebenden besteht in der Expropriation der Toten. Ist Glück unter diesen Voraussetzungen überhaupt denkbar?“27
In der Mitte des 20. Jh. reifte, vor allem im Kontext marxistischer Theoriebildung, die Erkenntnis, dass sich das mögliche Glück der Lebenden den Untergegangenen verdankt, aber auch der Enteignung und Ausbeutung der weniger glücklichen Zeitgenossen. Nur wenige Jahrzehnte später kam die Einsicht dazu, dass sich das partielle Glück der heute Lebenden auch der Expropriation der Noch-nicht-Geborenen verdankt und auf Kosten der Nachfolgenden genossen wird28.
Man mag all dies verdrängen, aber ein solches vergangenheits- und zukunftsloses, ahistorisches „Sein“ im Glück wäre der „bloße Schein vom Glück. Im besten Falle … die Absenz des Bewußtseins von [früherem und späterem] Unglück“. Es wäre objektiv die Unwahrheit und bliebe subjektiv angekränkelt. Ein solch vorgebliches Glück würde das vergangene, gegenwärtige – und mögliche zukünftige – Leid verdrängen, dem es sich zugleich verdankt. Ein solches Glück gliche der Hölle, die C.S. Lewis in seinem Werk Die große Scheidung bedenkt: „Jedes Sich-Verschließen des Geschöpfs in dem Verlies seines eigenen Gemüts – ist am Ende die Hölle.“29 Noch einmal mit Adorno: „Was bloß identisch ist mit sich, ist ohne Glück.“ Deshalb bestehen Horkheimer und Adorno bei ihrer Analyse der Lotophagen-Episode darauf: „Glück … enthält Wahrheit in sich. Es ist wesentlich ein Resultat. Es entfaltet sich am aufgehobenen Leid.“30 Es bedarf der Erinnerung und der Reflexion, der Anamnese und der Antizipation. Es bedarf des Bewusstseins, dass es sich anderen verdankt: Vergangenen und Kommenden. Und auch den Zeitgenossen.
Dank – Begleiter des Glücks
Auch mit dem Dank scheint es seltsam: Er kostet nichts, aber das Unvermögen, wahrhaft danken zu können, kostet uns das Glück. Dank ist der Begleiter des Glücks und erinnert an dessen Geschenkcharakter, dessen Gnadenmoment. Mit Thomas Nisters: „Dankbarkeit setzt ihrem Wesen nach ungeschuldetes Wohltun voraus.“31 Dies ist auch ein Grund, warum der Mensch, vor allem der moderne Mensch, der sein Glück machen wollte, sich mit dem Dank so schwer tut. Überall dort, wo eine umfassende Selbstbestimmung beschworen wird, wie in der Moderne, scheut man – mit Thomas Nisters –, „was uns als leidend, ohnmächtig, hilflos entlarvt. Dank aber antwortet oft genug auf Wohltat und Beistand in Not, Hilflosigkeit, ja Verzweiflung. Wer dankt, war vielfach nicht Herr der Lage, sondern ausgeliefert und angewiesen auf das, was außer seiner Verfügung liegt.“32
Wer statt der Autonomie Autarkie anstrebt, wer Selbstmächtigkeit um jeden Preis anzielt, wer es nicht leiden kann, dass er zu seinem Glück, ja, zu seinem Heil, auf die Gnade, auf ein freies Geschenk angewiesen ist, auf etwas, was er nicht beeinflussen kann, der versucht sich und den anderen diesen Skandal zu verbergen. Ihm wird noch der Dank zum Versuch, die verlorene Selbstmacht zurückzugewinnen. Das hat schon Aristoteles in der Nikomachischen Ethik gesehen. Der Großgesinnte – schreibt er – „vermag wohlzutun, scheut sich aber, Wohltaten zu empfangen. Denn jenes tut der Überlegene, dies der Unterlegene. Er [d.h. der Großgesinnte; EMZ] erwidert Wohltaten durch größere; denn so wird der, der begonnen hat, ihm verpflichtet und wird der Beschenkte sein. … Denn der Empfänger steht unter dem Geber, der Großgesinnte will aber überlegen sein.“33
Der Skandal der Gnade
Auch Friedrich Nietzsche hat dies Menschliche, Allzumenschliche mit der ihm eigenen Schärfe und Unbestechlichkeit bloß gelegt – in einem Aphorismus über, so der Titel, „Dankbarkeit und Rache“: „Der Grund, weshalb der Mächtige dankbar ist, ist dieser. Sein Wohlthäter hat sich durch seine Wohlthat an der Sphäre des Mächtigen gleichsam vergriffen und sich in sie eingedrängt: nun vergreift er sich zur Vergeltung wieder an der Sphäre des Wohlthäters durch den Act der Dankbarkeit. Es ist eine mildere Form der Rache. Ohne die Genugthuung der Dankbarkeit zu haben, würde der Mächtige sich unmächtig gezeigt haben und fürderhin dafür gelten. Deshalb stellt jede Gesellschaft der Guten, das heisst ursprünglich der Mächtigen, die Dankbarkeit unter die ersten Pflichten. – Swift hat den Satz hingeworfen, dass Menschen in dem selben Verhältnis dankbar sind, wie sie Rache hegen.“34
Dass wir unser Glück, ja, unser Heil, nicht selbst machen können, ist bereits unerträglich. Aber wo es uns geschenkt wird, ist dies umso unerträglicher. Es erinnert uns an unsere Ohnmacht, die Einschränkung unserer Selbstmacht. Auch erzeugt das frei gegebene Ge-schenk bei ihrem Empfänger ein – wohlgemerkt: außermoralisches – Schuldgefühl, das Gefühl einer Verpflichtung, die ebenfalls nur schwer zu ertragen ist. Beständig sind wir versucht, das unverdiente, freie Geschenk uns vorauseilend oder nachlaufend doch noch zu verdienen, es (und seine/n Spender/in!) damit wieder ein wenig unserer Verfügungsmacht zu unterstellen. Vorauseilend, im Vorhinein: das ist sozusagen die katholische Versuchung; nachlaufend, im Nachhinein: die evangelische.
Kurz: Der Skandal des Geschenks, das Skandalon der Gnade ist uns unerträglich. Noch der Dank wird davon überlagert und vergiftet – oder wie das Glück in die Logik des Tausches hineingezogen: „Schenkst Du mir ein wenig Glück, bin ich Dir dankbar“; „Sie sind mir zu Dank verpflichtet“ … Dadurch werden beide entstellt. Mit Adorno: „Als ob nicht ein Glück, das sich der Spekulation auf Glück verdankt, das Gegenteil von Glück wäre“35; als ob nicht ein Dank, der an der Spekulation krankt, das Gegenteil von Dank wäre! Wahres Glück ist – wie der Dank auch – frei, unökonomisch, der Tauschlogik entzogen.36
Glück und Dank – ein Fazit
Menschliches Glück lässt sich kaum hinreichend als bloßes In-Sein, als reflexionsloses, bewusstloses Im-Glück-Sein, als differenzloses Glück der Tiere beschreiben. Auch verträgt es sich nicht mit historischer Amnesie oder mangelnder Solidarität. Vielmehr bedarf es der anamnetischen und antizipierenden Solidarität im Blick auf jene und deren Leiden, denen es sich auch verdankt. Über das „Glück erster Ordnung“, das Sein im Glück, hinaus bedarf es offenbar eines weiteren, eines emphatischen Begriffs, eines „Glücks zweiter Ordnung‘. Ein Glück zweiter Ordnung aber setzte Differenz und Reflexivität voraus – und besäße somit einen unaufgebbaren Bezug zur Erinnerung. Es schlösse das solidarische Eingedenken, die Erinnerung an die Opfer der Geschichte mit ein. Aber auch die Verantwortung für gegenwärtig Leidende wie mögliche kommende Generationen.
Wie aber verhielten sich dann Glück und Reflexion, Glück und Bewusstsein bei einem solchen Glücksbegriff zweiter Ordnung? Oder blieben sie doch im Letzten voneinander getrennt: die glücklose Reflexion und das reflexionslose Glück? Nun – so noch ein Versuch mit Adorno: „Das einzige Verhältnis des Bewußtseins zum Glück ist der Dank: das macht dessen unvergleichliche Würde aus.“37
Aber ist nicht auch Dankbarkeit eine Form des Glücks? Ist nicht das Glück selbst ein Verhalten des Bewusstseins in Gestalt des Danks? Menschliches Glück, emphatisches Glück, das Glück zweiter Ordnung wäre dann beschreibbar als das Verhalten des Bewusstseins zum Glück erster Ordnung in Gestalt eingedenkenden Danks. Solche Dankbarkeit weiß ihr Glück verdankt – und erhebt gerade aus der reflektierten, anfänglichen Erfahrung geschenkten Glücks Einspruch gegen ökonomische Kosten-Nutzen-Rechnungen im Bereich des Glücks. Sie verträgt sich weder mit der „Expropriation der Toten“, noch mit der Expropriation Noch-nicht-Geborener. Sie sperrt sich gegen die Instrumentalisierung vergangener, gegenwärtiger und zu befürchtender künftiger Opfer der Geschichte, denen wir unser Glück verdanken. Sie geht einher mit anamnetischer und antizipatorischer Solidarität: mit einem rettenden Eingedenken im Protest gegen die Abgeschlossenheit der Vergangenheit begleitet von verantwortungsvollem Handeln in der Gegenwart im Blick auf die Zukunft – in der Hoffnung auf Gottes größere Möglichkeiten.
Waren wir glücklich? In freier Anlehnung an eine Formulierung Walter Benjamins38: Dankbarkeit wäre das Vermögen, sich ohne Schrecken seines Glücks inne zu werden. Die Fähigkeit, ein frei geschenktes, ein verdanktes Glück in Freiheit anzunehmen – diese Dankbarkeit wäre das Glück. „Nicht bloß die objektive Möglichkeit – auch die subjektive Möglichkeit“ dazu gehört womöglich „erst der Freiheit“39, ja, der Erlösung und der Ordnung der Gnade an.
Anmerkungen
1 Casati, Rebecca: Wasser in seiner schönsten Form, in: Die ZEIT, online: https://www.zeit.de/2022/11/swimmingpool-geschichte-hollywood-statussymbol (abgerufen am 22.11.2022, 12:24 Uhr).
2 Unser Privilegiertsein ist dabei oft „der Grund unserer Furcht. Wir* sind materiell reich und werden sozial immer ärmer. Unsere Empfindlichkeit ist selten durch Sensibilität geprägt, aber häufig durch Sentimentalität. Wir* tun uns leid. Wir* haben mehr Mitleid mit uns als mit der Welt“ (Manemann, Jürgen: Revolutionäres Christentum. Ein Plädoyer, Bielefeld 2021, 17f; vgl. ebd., 18, Anm. 12 zum „wir*“, von dem er sensibilisierend Gebrauch macht, gerade um die Gefahr, „die Unzulänglichkeit und das Ärgernis, die jeder Verallgemeinerung immanent sind, anzuzeigen“).
3 Casati: Wasser in seiner schönsten Form.
4 Marquard, Odo: Der angeklagte und der entlastete Mensch in der Philosophie des 18. Jahrhunderts, in: ders.: Abschied vom Prinzipiellen. Philosophische Studien, Stuttgart 1981, 39-66, hier 40.47.50.51 u.ö.
5 Zum misslungenen Plan der Aufklärung von der Abschaffung des Schicksals und zur triumphalen Rückkehr desselben als von uns selbst erzeugt und doch nicht geschaffen: Vgl. Müller-Zähringer, Erik: Sieben für Theben. Eine kleine philosophische Heldengeschichte in der alternden Moderne, in: Grillmeyer, Siegfried/Müller-Zähringer, Erik/Rahner; Johanna (Hg.): Peterchens Mondfahrt – Peter Sloterdijk, die Religion und die Theologie, Würzburg 2015, 9-58, hier 9ff.
6 Marquard: Der angeklagte und entlastete Mensch, 49 (im Original kursiv).
7 Ebd.
8 Ebd.
9 Ebd., 50.
10 Ebd. – und schreit daher nach Entlastung und Entschuldung. Marquard deutet „jene Neuphilosophien“ des 18. Jh. (die Geschichtsphilosophie, die philosophische Anthropologie und die philosophische Ästhetik) in der Folge als kompensatorische „Philosophien des Ausbruchs in die Unbelangbarkeit“ und erörtert – „ohne Vollständigkeitsprätentionen“ – sieben einschlägige Befunde dafür. Überzeugende Beispiele der versuchten Abwehr der zugemuteten dauerhaften Fundamentalanklage lassen sich gegenwärtig umso mehr finden. Einmal ganz küchenpsychologisch gefragt: Wenn sich sog. „Querdenker“ auf Demonstrationen in abscheulicher Weise gelbe Sterne an ihre Kleidung heften, tun sie dies vielleicht auch deshalb, um sich identifizierend zu dem zu stilisieren, was in ihren Augen in unserer Gesellschaft als Sinnbild des unschuldigen Opfers gilt, um allen weiteren zugemuteten Anfragen und Anklagen nach ihrem Anteil an Klima und Seuche etc. auszuweichen? So wird die Stilisierung zum Opfer zur Entschuldung und Entlastung. Oft flankiert vom Bekenntnis der eigenen Ohnmacht: Man könne ja eh nichts tun! Adornos Diktum „Es gibt kein richtiges Leben im falschen“ (Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben (Gesammelte Schriften, 4), Darmstadt 1998, 43) kann dann weiter zur moralischen Aufladung der entschuldenden Verdrängung dienen: Man kann ja eh nichts Richtiges tun! „Es ist besser, nicht zu regieren, als falsch zu regieren“!? Was es bedeutet, in einem unauflösbaren Unheilszusammenhang leben und handeln zu müssen und zu können, dazu hätte die Theologie viel zu sagen. Es ist gesellschaftspolitisch (!) tragisch, dass christliche sünden- und gnadentheologische Überlegungen im öffentlichen Diskurs nahezu keine Rolle spielen. Und kirchenpolitisch unverzeihlich, denn der gleiche Ausfall ist bei den Debatten um innerkirchliche Reformprozesse zu konstatieren.
11 Ebd., 50f.
12 Der Kern des Folgenden geht zurück auf meinen Festvortrag zur Examensfeier der Absolvent*innen der Lehramtsstudiengänge Religion am Institut für Kath. Theologie der Universität Kassel im Jahr 2015. Allen Ehemaligen und zurzeit dort Studierenden, aber auch den Lehrenden, sei dieser Beitrag als Dank meinerseits für die wundervollen, glücklichen Stunden gemeinsamen Denkens und Lernens gewidmet.
13 Adorno: Minima Moralia, 126.
14 Nachdenklich andersartig dagegen Walter Benjamins kurzer Text: Das Glück des antiken Menschen, in: ders.: Aufsätze. Essays. Vorträge (Gesammelte Schriften, II.1), Frankfurt/M. 1991, 126-129. Vgl. dazu Duckheim, Simon: Auf der Suche nach der versprengten Spur. Glück und Hoffnung bei Benjamin und Adorno, (Epistemata: Reihe Philosophie, 549), Würzburg 2014, 152ff.
15 Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W.: Dialektik der Aufklärung, in: Horkheimer, Max: „Dialektik der Aufklärung“ und Schriften 1940-1950 (Gesammelte Schriften, 5), Frankfurt/M. 2003, 3. Aufl., 11-290, hier 86. Ist es nicht allzu sehr dem Tod verschwistert (vgl. in umgekehrter Fragerichtung ebd., 57)?
16 Ebd.
17 Verse 94-97; hier in der Übertragung von Johann Heinrich Voss.
18 Horkheimer/Adorno: Dialektik der Aufklärung, 86.
19 Ebd., 279.
20 Adorno, Theodor W.: Sexualtabus und Recht heute, in: ders.: Kulturkritik und Gesellschaft II. Eingriffe. Stichworte. Anhang (Gesammelte Schriften, 10.2), Darmstadt 1998, 533-554, hier 538.
21 Thomä, Dieter: Vom Glück in der Moderne, Frankfurt/M. 2003, 15.
22 Ebd. (Kursivierung im Original).
23 Ebd., 13.
24 Vgl. Blumenberg, Hans: Die Legitimität der Neuzeit, erneuerte Ausgabe, Frankfurt/M. 1996, 135-259; vgl. dazu Müller-Zähringer: Sieben für Theben, 54, Anm. 247.
25 Kleine Klammerbemerkung hierzu: Die Moderne mag – mit Peter Sloterdijk – von Beginn an „[e]in Experiment auf einer schiefen Ebene“ gewesen sein (Du mußt dein Leben ändern. Über Anthropotechnik, Frankfurt/M. 2009, 11). Doch was Dieter Thomä für das Glück fordert: „Man soll das Glück nicht mit dem Blutbad ausschütten“ (Vom Glück in der Moderne, 14; Kursivierung im Original) – das gilt auch für die Moderne: Man sollte die Moderne nicht mit dem Blutbad ausschütten. Auch nicht, gerade nicht als Theologin bzw. Theologe. Was es der Moderne gegenüber braucht, ist keine abstrakte Negation, sondern den bestimmten Widerspruch. Andernfalls bleibt, wer meint, diese Moderne einfach hinter sich lassen zu können, in ihr gefangen; dazu verdammt, sie, womöglich ihre Blutbäder, dauernd zu wiederholen. Gleiches gilt freilich für die unkritische Affirmation der Moderne.
26 In Bezug auf die Skepsis Odo Marquards diesen gegenüber: Hacke, Jens: Bürgerlichkeit aus dem Geist der Skepsis. Dem Philosophen Odo Marquard zum 80. Geburtstag, in: Die Politische Meinung Nr. 461 (April 2008), 70-72, hier 70.
27 Peukert, Helmut: Wissenschaftstheorie – Handlungstheorie – Fundamentale Theologie. Analysen zu Ansatz und Status theologischer Theoriebildung, Frankfurt/M. 2009, 309.
28 Beim nüchternen Blick auf die aktuellen gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen scheint dann auch keine Beruhigung mehr in dem Gedanken zu liegen, dass eine „für die Freiheit ihrer Nachfahren“ kämpfende Generation „ihren Dank gegenüber der Vorwelt dadurch zu erstatten versuchen [kann], daß sie für das Glück der Nachwelt arbeitet“ (Peukert: Wissenschaftstheorie – Handlungstheorie – Fundamentale Theologie, 308f).
29 Zit. n. Balthasar, Hans Urs: Was dürfen wir hoffen? Einsiedeln/Trier 1989, 2. Aufl., 45f.
30 Horkheimer/Adorno: Dialektik der Aufklärung, 86f.
31 Nisters, Thomas: Dankbarkeit, Würzburg 2012, 10.
32 Ebd., 11. Bei Nisters ist die Aussage bezogen auf eine „Ethik aktiv zugreifender Lebensgestaltung“, der es schwer falle, „den Begriff der Dankbarkeit angemessen zu fassen. … Eine Ethik kraftvoller Selbstmächtigkeit und freier Unabhängigkeit mag es nicht leiden, auf die schwache Bedürftigkeit von uns Menschen zu blicken“ (ebd.).
33 EN 1124b 9ff; hier zit. n. Nisters: Dankbarkeit, 11; dazu vgl. ebd.
34 Nietzsche, Friedrich: Menschliches, Allzumenschliches. Zweites Hauptstück. Zur Geschichte der moralischen Empfindungen. Aph. 44 „Dankbarkeit und Rache“, in: ders.: Kritische Studienausgabe, herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Bd. 2, München 1999, 66f.
35 Adorno: Minima Moralia, 69f.
36 All dies bedenkend ergibt sich auch ein kritischer Blick auf die Sankt Martins-(Lieder-)Tradition, die nur auf die Demut des Martin blickt, aber nicht auf den Bettler: Was bedeutet es für den Bettler, wenn ihm (ein literarischer) Martin die Möglichkeit zum Dank verweigert: „Sankt Martin aber ritt in Eilá¾½ hinweg mit seinem Mantelteil“? Verweigert ihm Martin (vor allem auf mittelalterlichen Martinsbildern in Gestalt des Almosen gebenden, mildtätigen Herren, hoch zu Ross) mit dem frei gegebenen Dank nicht gerade die Subjektwerdung und legt den Bettler auf seine unterlegene Bedürftigkeit fest?
37 Adorno: Minima Moralia, 126.
38 Benjamin, Walter: Einbahnstraße, in: ders.: Kleine Prosa Baudelaire-Übertragungen, (Gesammelte Schriften, IV.1), Frankfurt/M. 1991, 89-148, hier 113: „Glücklich sein heißt ohne Schrecken seiner selbst inne werden können.“
39 Adorno: Minima Moralia., 102.
Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 7/2023