Blaise Pascal ist in theologischen Kreisen vor allem wegen seiner sogenannten „Wette“ und dem berühmten „Mémorial“ bekannt. Doch der jung gestorbene Physiker und Autor der „Pensées“ wartet noch mit anderen Anregungen auf. Thomas Schleiff erinnert an ihn anlässlich seines 400. Geburtstags.

 

Hektopascal und Pascal

Man kann heute offenbar keinen noch so unverfänglichen theologischen Aufsatz schreiben – man stößt allemal auf das „Klima“. Sogar bei Blaise Pascal, der am 19. Juni 1623 geboren wurde, also vor 400 Jahren. Was hat Blaise Pascal mit dem „Klima“ zu tun? Ich zitiere aus dem „Wetter- und Klimalexikon“ des Deutschen Wetterdienstes: „Die Standard-Maßeinheit für den Luftdruck ist das Hektopascal (hPa). 1 hPa entspricht dabei 1 mbar, einer der früher verwendeten Einheiten für den Luftdruck.“ Ja, und dieser Pascal aus dem Hektopascal, das ist eben jener Blaise Pascal, der heute in der Christenheit als Autor der „Pensees“ (Gedanken) noch immer begeistert gelesen wird.

Das Wort „Hektopascal“ begleitet mich seit meiner Kindheit. Ich habe es immer wieder im Wetterbericht und besonders im Seewetterbericht gehört – und bin darüber gestolpert, weil es doch recht rätselhaft klingt.

Ungefähr genauso lange wie ich die Maßeinheit „Hektopascal“ kenne, kenne ich Blaise Pascal, den französischen Physiker und Philosophen. Aber ich bin Jahrzehnte lang nicht darauf gekommen, dass Hektopascal nach Blaise Pascal benannt sein könnte. Aber wie kann man auch vermuten, dass der Autor dieser geistreichen Aphorismen etwas mit dem Luftdruck zu tun hat?

Die Liste der naturwissenschaftlichen Entdeckungen und Beschäftigungen Pascals ist lang. Die Luftdruckmessungen gehören dazu. Dabei hat er auch mit Quecksilber experimentiert. Und es ist durchaus möglich, dass dessen Ausdämpfungen eine Ursache der Krankheiten gewesen sind, an denen er sein kurzes Leben lang gelitten hat.

 

Der Schmerzensmann

Schon in seinen ganz jungen Jahren hatte Blaise Pascal unter Schmerzen und Krankheiten zu leiden. In seinen späteren Jahren (er wurde nur 39 Jahre alt) spitzte sich das Leiden noch einmal zu. Er litt vor allem unter Bauch-, Kopf- und Zahnschmerzen. Pascal wusste, wovon er sprach, als er dieses Gebet formulierte, das in der christlichen Tradition sehr bekannt geworden ist:

„Herr, ich bitte dich weder um Gesundheit noch um Krankheit, weder um Leben noch um Tod, sondern verfüge du über meine Gesundheit und über meine Krankheit, über mein Leben und über meinen Tod zu deiner Ehre, zu meinem Seelenheil und zum Nutzen der Kirche … Du hast mir Gesundheit gegeben, damit ich dir diene, und ich habe einen ganz unheiligen Gebrauch davon gemacht. Du sendest mir jetzt die Krankheit, um mich zu bessern: erlaube mir nicht, dass ich sie missbrauche durch meine Ungeduld …“ (im Anschluss daran ist das Gebet 930 im EG formuliert, s. Attali, 315)

Pascal hat an sich selbst erlitten und durchgefochten, dass wir als Menschen beides sind: Geist von Gottes Geist und doch als Leib allen Bedürfnissen, Lüsten und Schmerzen der Materie unterworfen. Insbesondere in den letzten Lebensjahren war er wegen Schwäche und Schmerzen zu geistigen Tätigkeiten immer weniger in der Lage.

Die Erfahrungen mit seiner eigenen Leiblichkeit machten Pascal sensibel für Beobachtungen auf diesem Gebiet. 1658 ist Cromwell gestorben, wohl an einer Verstopfung des Harnleiters. Pascal: „Cromwell wollte schon die ganze Christenheit zerstören … Rom sollte schon vor ihm erzittern, … wenn es nicht ein kleines Sandkorn gegeben hätte, das sich im Harnleiter festsetzte … aber daran ist er gestorben“, und alles wurde anders als er geplant hatte (176). Die geistreiche Ironie dieses Aphorismus würde noch einem Schriftsteller unseres Jahrhunderts zur Ehre gereichen. Aber der würde vermutlich noch eine Frage hinzufügen: „Warum hat Gott Hitler nicht so ein Sandkorn in seinen Harnleiter geschickt?“

 

Über alles in der Welt“

„Durch den Raum erfasst mich das Weltall und verschlingt mich wie einen Punkt, durch das Denken erfasse ich das Weltall.“ (348) Auch den Menschen der Antike ist der Kosmos natürlich „gewaltig“ groß vorgekommen. Wie „wahnsinnig“ die Ausmaße tatsächlich sind, kann uns die moderne Astronomie in Zahlen vorführen. Das schüchtert die Menschen natürlich ein: „Wie klein bin ich …“. Von „Wie klein …“ zu „Wie unbedeutend sind wir Menschen“ ist es manchmal nur ein kleiner Schritt. Manche Denker scheinen die Marginalisierung des Menschen geradezu zu genießen. Der Mensch sei eben nicht „das Ebenbild Gottes“, sondern eine kosmische Randerscheinung.

Pascal sagt zu diesem Thema: So klein der Mensch auch immer sei, er umfasst in seinem Denken das ganze Weltall. Und so ist es in der Tat. Der Mond ist sicherlich ein paar Millionen Mal „größer“ als „ich“ – aber ist er darum bedeutender, gewichtiger, wertvoller? Der Mensch denkt, der Mensch hat Geist, hat eine Seele, Gefühle – und das stellt ihn „über alles“ in der Welt. Wie eine Mutter über ihr Kind in ihrem Schoß sagt: „Ich würde dich nicht um alles in der Welt hergeben.“

Wenn wir das Weltall auf die eine Seite der Waage legen und auf die andere Seite den Menschen – auf welcher Schale liegt das größere Gewicht? Pascal: „Nur ein Schilfrohr, das zerbrechlichste in der Welt, ist der Mensch, aber ein Schilfrohr das denkt. … Wenn das All ihn vernichten würde, so wäre der Mensch doch edler als das, was ihn zerstört, denn er weiß, dass er stirbt und er kennt die Übermacht des Weltalls über ihn; das Weltall aber weiß nichts davon.“ (347) Die Schale auf der Seite des Menschen ist gewichtiger – und nicht nur um ein paar Gramm, sondern um eine schiere Unendlichkeit.

 

Atheismus

Pascal lebte gut 100 Jahre nach Luther. Das ist nicht viel. Aber wenn ich Luther lese, spüre ich den großen Abstand der Zeiten. Wenn ich Pascal lese, habe ich das Gefühl, ich lese einen Zeitgenossen wie aus dem 20. oder 21. Jh. Auch Luther spricht mich natürlich innerlich an. Aber doch wie aus einer viel ferneren Zeit! ­Warum ist das so?

Die Zeit war eine völlig andere geworden. Und das zeigt sich z.B. daran, dass der Begriff und das Thema „Atheismus“ bei Pascal schon eine ganz selbstverständliche Rolle spielen. Pascal ist 1662 gestorben; im Jahre 1659 ist in Frankreich die erste dezidiert atheistische Schrift von einem anonymen Autor erschienen. Aber das Thema hatte wohl schon länger in der Luft gelegen. Im Zeitalter der Reformation hatte noch gegolten, dass alles Reden über Gott ein Reden vor Gott und im Angesichte Gottes ist. In der Mitte des 17. Jh. begann die Atheismus-Diskussion: ein Reden über Gott quasi wie über einen beliebigen anderen Sachverhalt oder Gegenstand. Es war nicht mehr selbstverständlich, dass der Mensch vor Gott lebt.

Und der fromme Pascal nimmt den Atheismus ernst: „Atheismus ist Kennzeichen eines starken Geistes, aber nur bis zu einem gewissen Grade.“ (225) Aber Pascal lehnt es doch entschieden ab, über die Gottesfrage wie über ein beliebiges anderes philosophisches Thema zu sprechen. Bei der Gottesfrage geht es „um alles“. Es geht um den Sinn, um mich selbst, um die Ewigkeit. Über Gott kann man nicht lässig und unbeteiligt sprechen. Es geht dabei um unser eigenes Leben und um unseren eigenen Tod.

So sehr Gott für Pascal existentielle Notwendigkeit war, so sehr er sich nach ihm sehnte und so sehr er ihn brauchte – Gott war für ihn keine Selbstverständlichkeit mehr wie für Luther und seine Zeitgenossen. Er hat um Gewissheit gerungen. Es war ihm wichtig, „dass die Religion der Vernunft nicht widerspricht“ (187).

 

Der ernst genommene Tod

Ich erinnere mich noch genau, wie ich 1965, als 15-Jähriger, mit einem Freund auf dem Schulhof über den Tod diskutiert habe. Ich war damals schon zum Theologiestudium entschlossen und versuchte, meinen Freund zu überzeugen, dass der Tod das „eigentliche Problem des Menschen“ sei. Mein Freund sagte nur, das interessiere ihn nicht. Er wolle Physik studieren und etwas Sinnvolles machen. Ich habe über dieses Gespräch noch oft nachgedacht: Habe ich, altklug und lebensängstlich, das typische „Todesargument“ des Theologen vorgetragen? Oder hat er, überheblich und jugendlich unerfahren, den Lebenstüchtigen markiert?

Mein Freund, der heute in Amerika lebt, möge mir verzeihen, aber ich glaube, Pascal würde sich auf meine Seite stellen. Im Aphorismus 194 schreibt er: Wer bei der Frage nach Leben und Tod, bei der Frage nach der Unsterblichkeit der Seele, gleichgültig bleibt, muss „jegliches Gefühl eingebüßt haben“. Und weiter schreibt er: Es gibt so viele Menschen, die sich über alle möglichen Nichtigkeiten aufregen und die andererseits bei dem Gedanken an den Tod nicht mit der Wimper zu zucken scheinen. Pascal kommentiert: „Das ist eine unbegreifliche Verzauberung und eine übernatürliche Einschläferung, die eine allmächtige Gewalt offenbart, die sie verursacht.“ Der Tod ist das NEIN zu unsrem Leben. Wer meint, zu diesem NEIN „JA“ sagen zu können, betrügt sich selbst – oder er hat „jegliches Gefühl eingebüßt“.

Die Lässigkeit gegenüber dem Sterben hat Pascal eine „befremdende Verkehrung im Wesen des Menschen“ genannt, mehr noch: er sieht in ihr eine „unbegreifliche Verzauberung und eine übernatürliche Einschläferung“. Kann man den Tod, die Endlichkeit, das Sterben akzeptieren? Pascal: Nein, das kann man nicht! Es ist „unnatürlich“, wenn man den „Verlust des Daseins“ akzeptiert (194b). Oder anders gesagt: Man kann seine eigene Verneinung (den Tod) nicht bejahen. Wer das tut, der weiß selbst nicht, was er tut. Er schauspielert. Er spielt den Helden. Aber nichts ist alberner, als „den Helden vor Gott zu spielen“. Dies ist unsere Lage als Menschen: „Man stelle sich eine Anzahl von Menschen vor, in Ketten gelegt und alle zum Tode verurteilt, von denen immer einige Tag für Tag vor den Augen der anderen erdrosselt werden; so dass die, die zurückbleiben, ihre eigene Lage in der ihresgleichen sehen und voller Schmerz und ohne Hoffnung aufeinander schauen und warten, dass die Reihe an sie komme. Das ist ein Bild der Lage der Menschen.“ (199)

 

Die Wette

Pascal nimmt den Tod ernst. Von daher gewinnt auch seine berühmte Wette ihre Durchschlagskraft. Das Argument der Wette geht in etwa so: Man kann Gott nicht beweisen. Man kann über ihn nichts sicher wissen. Aber das ist ja der Reiz. Man kann darauf „wetten“, dass es ihn gibt. Man kann so leben, „als ob“ es ihn gibt. Ist es sinnvoll, diese Wette zu wagen? Ja! Warum? Weil wir nichts verlieren können. Wenn wir auf „diese Welt setzen“, auf „dieses diesseitige Leben“ dann können wir nur verlieren. Denn, dass wir sterben, ist gewiss. Und wenn wir sterben, ist Lust und Macht dahin und von dem eventuellen Nachruhm haben wir nichts mehr. Aber, wenn wir es wagen, zu glauben und Gott zu vertrauen, dann können wir die Ewigkeit gewinnen. „Können“, denn es bleibt ein Risiko. Der Glaube ist ein Risiko. Deswegen ist die „Wette“ auch ein gutes Bild für den Glauben. Wir können Gott nicht berechnen und beweisen. Es geht darum, mit der eigenen Existenz für Gott einzutreten. Glauben ist ein Wagnis – und das soll er sein und das macht seine Würde aus.

Die Gottesbeweise hat Pascal kritisch gesehen: „Es ist bemerkenswert, dass keiner der Verfasser der heiligen Schriften sich je der Natur bediente, um Gott zu beweisen.“ (243) Dabei ist ein kritischer Gedanke zu den Gottesbeweisen sozusagen „typisch“ Pascal, er steht in 543. Ich spitze zu: Die Gottesbeweise könnten ja richtig sein. Aber erstens seien sie so kompliziert, dass nur wenige sie begreifen können. Und zweitens seien sie so schwierig, dass selbst die klügsten Köpfe sie schon nach einer Stunde wieder vergessen haben. Dieses Widereinander zwischen den Höhenflügen des Geistes (den Gottesbeweisen) und der Gebrechlichkeit unserer Natur (der Schwäche unseres Gedächtnisses) ist ein Gedanke, der bezeichnend für Pascal ist.

Also bleibt das Wagnis der Wette das letzte Wort? Aber was, wenn das Wochenende naht und meine Lottozahlen wieder mal die falschen waren? Wette hin, Wette her – man kann eine Wette auch verlieren. Und beim Lotto verliert man sogar meistens. Pascal hat sich dieser Ungewissheit gegenüber nach Gewissheit gesehnt. Eine extreme, nächtliche mystische Erfahrung im Jahre 1654 hat er als den Durchbruch zur Gewissheit erlebt. Nach längerem Nahrungsentzug und intensiver biblischer Lektüre wurde er gegen Mitternacht am 23. November von einer Art Feuer hingerissen, das seine Zweifel sozusagen verbrannt hat und aus dem er mit Gewissheit und Glaubensfreude hervorging. Pascal hat dieses Ereignis unmittelbar nach dem Widerfahrnis schriftlich dokumentiert. Dieses Dokument, „Mémorial“ genannt, ließ er in das Futter seiner Weste einnähen. Es sollte ihn immer an den Durchbruch zur Gewissheit erinnern. In ihm steht auch der bekannte Satz: „Gott Abrahams, Gott Isaacs, Gott Jakobs, nicht der Philosophen und Gelehrten.“

 

Der Menschenkenner

Pascal fängt mit „P“ an und Pascal hatte es mit dem „P“: Er war Physiker und philosophischer Schriftsteller, er war oft Patient, auf Ärzte angewiesen und Schmerzen unterworfen. Er war aber auch ein Menschenkenner und Psychologe. Sein psychologischer Scharfsinn sei hier an einigen Beispielen gezeigt:

Anerkennung, Ruhm, Stolz, Eitelkeit. Nach Pascals Erfahrung leben fast alle Menschen aus der Anerkennung, die sie von anderen bekommen. 151: „Alles verdirbt die Bewunderung, schon von Kindheit an. Oh, wie schön er das gesagt hat, oh, wie schön er das gemacht hat …“ Pascal gibt zu bedenken, dass man die Kinder an diesen Stachel des Ehrgeizes und des Ruhmes nicht gewöhnen sollte. Das ist tatsächlich eine uralte Frage: das Kind braucht sicherlich Lob. Aber kann Lob auch schädlich sein?

Oder 152: „Meist will man etwas nur kennen, um davon reden zu können. Wenn man niemals davon reden könnte …, würde man nicht … reisen.“ Da hat Pascal schon etwas geahnt von der modernen Angeberei („Ich war in Amerika …“).

148: „So dünkelhaft sind wir, dass wir wünschen, die ganze Welt möge uns kennen …“ Mag das auch etwas übertrieben sein, das berühmte Körnchen Wahrheit dürfte darin stecken.

In 150 wird es ganz vertrackt, denn hier wendet Pascal diese Kritik der Eitelkeit auf sich selbst an: „Und die Philosophen, die gegen die Eitelkeit schreiben, wollen den Ruhm, gut geschrieben zu haben …“ Da fühlt man sich doch mächtig erwischt, wenn man auch so einer ist, der schreibt, z.B. im „Deutschen Pfarrerinnen- und Pfarrerblatt“. So gibt uns Pascal einiges Anschauungsmaterial für Luthers „homo incurvatus in se“.

Langeweile und Zerstreuung. Meine Katze hat den ganzen Tag nichts zu tun, aber komischerweise hat sie keine Langeweile. Und das Pferd steht treuherzig auf der Weide. Aber braucht es Zerstreuung? Der Mensch jedoch spürt ohne Zerstreuung „seine Nichtigkeit, seine Verlassenheit, sein Ungenügen, … seine Leere.“ (131) Der Mensch ohne Gott braucht immer etwas, um sich abzulenken. Er kann den unverstellten Blick auf seine Nichtigkeit und Sterblichkeit nicht aushalten. Der Mensch ohne Gott sucht die Betriebsamkeit, weil er die Besinnung nicht aushält (139). Pascal nennt Beispiele dieser Zerstreuung: das Spiel, die Jagd, den Erfolg. Aber letzten Endes kann auch die Arbeit eine Art Zerstreuung sein. In der Zerstreuung versucht der Mensch die Ruhe durch die Unruhe zu finden. Aber das ist eben nicht die wahre Ruhe, die wir nur in einem Leben mit Gott finden.

Allerdings zeigt Pascal in diesem Punkte einen Anflug von Nachsicht. „Zerstreuungen“ können durchaus akzeptiert werden, wenn man sich nur nicht einbildet, dass sie wirklich glücklich machen. Ich sehe das als eine Erlaubnis, weiterhin die Bundesliga im Fernsehen anzuschauen, wenn ich mir nur nicht einbilde, dass ich dadurch glücklich werde. – Ein glückliches und erfülltes Leben gibt es nur in der Gemeinschaft mit Gott. Der Ungläubige muss seinem Unglück durch die Zerstreuung entfliehen.

Was ist das Ich? Was ist das eigentliche Ich? Wenn ein Mann eine Frau wegen ihrer Schönheit liebt, liebt er dann „das eigentliche Ich“? „Nein, denn die Pocken, die die Schönheit töten werden, aber nicht den Menschen, werden bewirken, dass er sie nicht mehr lieben wird … Wo ist also dieses Ich?“ (313)

 

Brüderchen und Schwesterchen

Pascal wuchs mit zwei Schwestern als Sohn eines wohlhabenden höheren Beamten auf. Zu seiner Schwester Jacqueline hatte er von Kind auf ein inniges Verhältnis. Es war eine geistige und seelische Liebe. Die andere Schwester Gilberte beschreibt das Verhältnis von Blaise und Jacqueline so: „Er sprach mit ihr ohne Vorbehalt über alles, er war in allem ohne Ausnahme mit ihr einverstanden; ihre Gefühle waren einander so ähnlich, dass sie in allem übereinstimmten, und ihre Herzen ­waren bestimmt nur ein Herz, und der eine fand im anderen einen Trost … es war eine Liebe, in der alles beglückend war.“ (nach Attali, Übersetzung geringfügig geändert)

Pascal selbst blieb unverheiratet. 1553 trat Jacqueline in das Kloster Port-Royal ein. Die Aufnahmezeremonien verfolgte Blaise mit Tränen in den Augen. Es tat ihm weh, dass er nun weitgehend von seiner Schwester getrennt sein würde. Vor der Aufnahme ins Kloster versprach Jacqueline übrigens, ihrer bisherigen Leidenschaft, Gedichte zu schreiben, zu entsagen. Aus Demut schicke es sich, zumal für eine Frau, nicht, mit solchen Talenten öffentlich hervorzutreten. Niemand bestritt ihr besonderes Talent. Es ging nur darum, mit diesem ­Talent nicht zu prahlen.

Das Kloster Port-Poyal war von der sog. „jansenistischen“ Lehre geprägt. Durch den Eintritt Jacquelines in das Kloster kam auch Blaise der Lehre der Jansenisten nahe. Merkmal dieser Lehre war eine kritische Sicht der Beichte, die als oberflächliches Zeremoniell angesehen wurde. Auf jeden Fall durfte der Beicht-Formalismus nicht die ernste Gewissenserforschung ersetzen. Bei den Jansenisten war der „Gewissenslenker“ wichtiger als der Beichtvater. In der Prädestinationslehre vertraten die Jansenisten einen Determinismus, der an Calvin erinnert. Insgesamt waren sie auch in der Lebensführung recht rigoros. Der geistige Vater des Jansenismus, Saint-Cyran, hat den wenig erfreulichen Satz formuliert: „Sich erniedrigen und leiden, darin liegt die Bedeutung des ganzen christlichen Lebens.“ Er ging sogar soweit, dass er es ablehnte, Blumen im Garten zu haben. Pascal konnte, schon wegen seiner Liebe zur Naturwissenschaft, das nicht in jeder Hinsicht unterschreiben. Aber seine Lehre und sein Leben trägt doch auch sehr asketische Züge. Auch die skrupulöse Gewissenserforschung verbindet Pascal mit dem Jansenismus. So hat er z.B. in einem ganz ähnlichen Sinne über das Thema „Demut“ nachgedacht wie oben am Beispiel von Jacquelines Dichtkunst beschrieben.

Pascal hat energisch für Port-Royal und den Jansenismus Partei ergriff, als dieser von kirchlicher Seite verboten werden sollte. Bei Pascal kam ein weiteres „P“ dazu. Er wurde zum Pamphletisten und hat in den „Briefen in die Provinz“ für die Jansenisten Stellung bezogen. Mit diesen Pamphleten wurde „er das erste Beispiel eines Intellektuellen, der sich gegen Zensur, Totalitarismus und Lüge erhob“. Das könnte man freilich auch von Luther sagen. Doch Luther war eben nicht im modernen Sinn ein „Intellektueller“ wie Pascal.

Die Auseinandersetzungen um Port-Royal zogen weite Kreise. Es ging auch um die Autorität von Papst und Kirche. So trat schließlich noch ein „P“ in der Biografie Pascals auf: die Polizei. Die Polizei besetzte 1661 die Abtei von Port-Royal, um gewisse Maßnahmen zu erzwingen. Die staatliche und kirchliche Autorität setzte sich durch. Im Zuge dieser zermürbenden Aufregungen ist Jacqueline im Oktober 1661 im Alter von 35 Jahren gestorben. Sie war ja eine führende Gestalt unter den Nonnen von Port-Royal. Blaise war quasi nur „intellektueller Sympathisant“. Aber er hat sich voll für das Kloster und die jansenistische Lehre eingesetzt. Die im Leben so stark Verbundenen blieben auch im Sterben verbunden. Blaise starb nur ein knappes Jahr nach seiner Schwester, im August 1662, im Alter von 39 Jahren.

 

Literatur

Die Zahlen im Text sind die Fragmentnummerierungen nach: Blaise Pascal, übertragen und herausgegeben von Ewald Wasmuth, Heidelberg 1972.

Meine biografische Quelle ist: Jacques Attali, Blaise Pascal, dt. 2006.

Ich widme diesen Aufsatz Prof. Dr. Dr. Hans-Georg Geyer, der vor fast 50 Jahren mit liebender Geduld meine theologische Examensarbeit über Blaise Pascal begleitet hat.

 

Über die Autorin / den Autor:

Pastor Dr. Thomas Schleiff, Jahrgang 1950, von 1979 bis 2015 Pastor an der St.-Jürgen-Kirche in Heide, humoristisch-theologischer Autor ("Der Vogel mit dem Doktorhut", "Verse über die Ferse", "Ein Uhrmacher im Himmel" (alle im Steinkopf-Verlag).

Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 6/2023

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