„Abbruch“, „Umbruch“, „Aufbruch“ – wie soll die gegenwärtige Situation der Kirche und des christlichen Glaubens in unserer Gesellschaft umschrieben werden? Vielleicht am besten mit allen drei Begriffen, indem man nach den „hausgemachten“ Ursachen des Traditionsabbruchs fragt, einen Umbruch im Verständnis des christlichen Glaubens beschreibt, der sich seit längerem vor allem in Europa und in den USA vollzieht, und indem man Überlegungen zu einzelnen Themen und Feldern kirchlicher Arbeit als notwendige und mögliche Schritte eines Aufbruchs im christlichen Glauben formuliert. In seinen Thesen hat Günther R. Eisele zwar vorwiegend die evangelische Kirche im Blick, aber prinzipiell und strukturell lassen sie sich auch auf die katholische Kirche beziehen.

 

A. Vom Abbruch der christlichen Glaubenstradition

These A 1: Die hausgemachten Ursachen des Abbruchs: Beharrungssünden

Im Blick auf den Auszug vieler Menschen aus der Kirche werden die Ursachen vorwiegend in der fortschreitenden Säkularisierung der Gesellschaft gesucht und wahrgenommen. Die Ursachen, die im Festhalten der Kirchen an überholten Glaubensvorstellungen und Arbeitsformen liegen, werden weithin ausgeblendet und verdrängt.

These A 2: Das Beharren auf einem unhistorischen Verständnis der Bibel

Nachdem Martin Luther und die anderen Reformatoren den Glauben „allein auf die Schrift“ gegründet haben, haben die protestantischen Kirchen trotz der Erkenntnis der historischen Forschung in der Zeit der Aufklärung, dass es sich in der Bibel wie in jedem anderen religiösen Text um Menschenwort handelt, darauf beharrt, dem Wort der Bibel als „Wort Gottes“ eine höhere Bedeutung zuzumessen als den nachfolgenden Glaubenszeugnissen und theologischen Schriften. Dieses Beharren hat dazu geführt, dass in den Gemeinden das Bewusstsein einer zwangsläufigen geschichtlichen Veränderung von Glaubensvorstellungen aufgrund je neuer Welt- und Lebenserkenntnis bis heute weithin verhindert wurde. Und es hatte die praktische Folge, dass die Predigttexte im Gottesdienst bis heute auf biblische Texte beschränkt sind (Perikopenordnung).

These A 3: Das Beharren auf biblischen Predigttexten hat die Konzentration auf heutige Glaubens- und Lebensfragen weitgehend verhindert

In den ca. 350 Jahren seit der Aufklärung hat man versucht, den „garstigen Graben“ zwischen der biblischen und der je gegenwärtigen Zeit durch die „Übersetzung“ des Textes (Hermeneutik) in die jeweilige Zeitsituation zu überbrücken. Das erfordert jedoch einen Spagat zwischen altem Text und neuer Situation, der nach beiden Seiten „hinkt“: entweder dominiert die – oft auch historisch-kritische – Erklärung des Textes oder es rücken heutige Lebensfragen und -probleme in den Mittelpunkt, ohne diese mit heutigen Glaubenserfahrungen, -vorstellungen und -zweifeln zu verbinden.

These A 4: Das Beharren auf einer objektivierenden Rede von Gott

Das weithin herrschende Beharren auf einer objektivierenden Rede von Gott in der Predigt wie auch in kirchlichen Stellungnahmen nimmt die gegenwärtigen Fragen und Zweifel in Bezug auf die Gottesvorstellung nicht ernst. Man sagt, als ob es das Selbstverständlichste in der Welt wäre: Gott weiß, sieht, liebt, begleitet, geht mit uns usw. Der Austritt aus der Kirche dokumentiert sowohl die „Glaubensabsage“ säkularer Menschen, wie auch die Verschärfung der Gottesfrage in zweifacher Hinsicht. Erstens: Kann man sich Gott als Schöpfer angesichts der Evolution des Kosmos und des wissenschaftlichen Denkens vorstellen, und wenn ja, wie? Zweitens die zeitlose „Hiob-Frage“: Wenn Gott die Welt „gut“ geschaffen hat und die Menschen liebt, wie die Kirche sagt, warum gibt es dann unverschuldetes Leiden, Unrecht, Gewalt, überhaupt das Böse?

Zu der grundsätzlichen Frage, ob die Gottesvorstellung in unserer Zeit für den christlichen Glauben noch konstitutiv sein kann, sagt der Theologe Helmut Fischer: Solange die Kirchen das übliche gottbezogene Religionsverständnis übernehmen und in ihrer … Theologie den Eindruck erwecken, dass Religiosität und Religion das Bekenntnis zu einem allgemeinen Gott voraussetzen, … solange verhindern sie selbst, dass die Botschaft Jesu als Antwortpotenzial auf Lebensfragen jedweden weltanschaulichen Hintergrunds wahrgenommen werden kann. (In: Religion ohne Gott? Heute vom Glauben reden, TVZ Zürich 2017, 83)

These A 5: Das Beharren auf einer objektivierenden Rede von Jesus Christus

Das Beharren auf einer objektivierenden Rede vom „auferstandenen und gegenwärtigen Christus“ verschärft die Gottesfrage. Wie kann man sich den lebendigen und wirkenden Christus als „wahren Gott“ vorstellen? Wie kann man sich die durch ihn bewirkte Erlösung vorstellen, wenn sie weder im Verhalten gläubiger Christen noch in den politischen und sozialen Verhältnissen der Welt eindeutig erkennbar ist? Und welche Bedeutung hat Jesus als „wahrer Mensch“ für den Glauben heute?

These A 6: Das Beharren auf einer nebulösen Rede vom Heiligen Geist

Gott wird im Glaubensbekenntnis auch als „Heiliger Geist“ repräsentiert, ebenso wie als „Schöpfer“ und als „Erlöser“ (Christus). Wirkweise und Wirkungen des Heiligen Geistes sind in der Theologie- und Predigtgeschichte höchst unterschiedlich und oft schwer verständlich erklärt worden. Eine „Geist-Kraft“ (als „Kraft Gottes“) können sich heutige Menschen zwar vorstellen, eine Überzeugung von Gottes Wirken kann sie jedoch nur werden, wenn „Früchte“ dieser Kraft als Erfahrungen von Liebe erlebt werden.

These A 7: Die beharrliche Verdrängung einer brüchig gewordenen Gebetspraxis

Unklarheit und Unsicherheit in der Gottesfrage haben auch zu einer mangelnden Klarheit im theologischen Verständnis und in der Praxis des Gebets geführt, d.h. in der Sprache von früher: zu einer „Gebetsnot“. Auf der einen Seite sagen Menschen, dass sie sich Gott nur als Person vorstellen können oder wollen, weil sie sonst nicht zu ihm beten könnten. Auf der anderen Seite sagen andere, die sich Gott als „geistige Kraft der Liebe“ vorstellen, dass sie angesichts dieser Kraft in der Stille ihr Herz sprechen lassen können von ihrer Dankbarkeit, ihrer Ehrfurcht (Anbetung) und ihren Wünschen für sich und andere (Bitte und Fürbitte).

These A 8: Das Beharren auf einer überholten Gottesdienstform

Die vielerlei Experimente seit den 1970er Jahren bis in die 1990er Jahre, die versuchten, die Gottesdienstform zeitgemäß und attraktiv zu gestalten, sind seitdem versandet. Seit längerem herrscht allgemein die traditionelle Gottesdienst-Agende wieder vor. Trotz aller ernsthaften Bemühung der Pfarrer*innen verliert der Gottesdienst immer mehr seine Anziehungs- und Überzeugungskraft. Das betrifft vor allem die Predigt, aber auch die wesentlichen liturgischen Elemente, die Lesungen, den Umgang mit der Liedtradition und die Gebete.

These A 9: Das Beharren auf der Verbindung von Kindertaufe und Mitgliedschaft

Die Kirche hält seit der Trennung von Staat und Kirche nach dem Ersten Weltkrieg an der im „landesherrlichen Kirchenregiment“ verordneten Verknüpfung der Kindertaufe mit der rechtlich gültigen Kirchenmitgliedschaft fest, obwohl die theologische Rechtfertigung der Kindertaufe durch den Wunsch der Eltern, und durch das Glaubensgelübde der 14jährigen Konfirmand*innen unrealistisch und unglaubwürdig war und ist. So urteilten nicht nur Kirchenkritiker, sondern auch Amtsträger schon seit langem: Man konfirmiert sie hinaus.

These A 10: Das Beharren auf einer akademisch-theoretischen Pfarrer*innen-Ausbildung

Trotz mancher Reformversuche im vorigen Jahrhundert beharrt die theologische Ausbildung auf ihrer traditionellen Struktur, d.h. auf dem Erlernen der drei alten Sprachen (Hebräisch, Griechisch, Latein), sowie auf dem Vorrang der historischen Fächer (Bibelkunde und -auslegung, Kirchen- und Dogmengeschichte), und der Systematischen Theologie gegenüber der Praktischen Theologie (Gottesdienst, Seelsorge, Unterricht, Gemeindeleitung). Durch den Vorrang der historischen Fächer und der theoretischen systematischen Theologie und wegen des begrenzten Anteils an der Studienzeit kann die Praktische Theologie keine „praktische“ Grundlegung für den Beruf leisten. Diese ist jedoch für die ersten Schritte im Vikariat unabdingbar!

 

B. Umbruch im Glaubensverständnis

These B 1: Umbrüche in zentralen Glaubensvorstellungen und -aussagen als Herausforderung für die Kirche

Die Dringlichkeit eines Umbruchs in den Kirchen zeigt sich in der gegenwärtigen Situation, in der immer weniger Menschen – nicht nur außerhalb, sondern auch innerhalb der Kirche – zentrale traditionelle Glaubensaussagen verstehen können. Dies erfordert von der Kirche, Glaubensvorstellungen und -aussagen zu finden, die heute verstehbar sind und eine existentielle Orientierung geben.

These B 2: Umbruch in meinem persönlichen Verständnis von Gott

Ausgehend von der heutigen Erkenntnis von der Entstehung des Kosmos und der Evolution kann ich mir nicht mehr vorstellen, dass „Gott als eine Person“ dies hervorgebracht hat, sondern nur, dass eine „Energie“ den Anfang und die weitere Entwicklung bewirkt hat. Ob und wie man mit dieser Erkenntnis heute weiterhin von Gott dem Schöpfer und von Gottes Liebe sprechen kann, wird in der These B 5 bedacht.

Und ich kann nicht zustimmen, wenn es im ersten Schöpfungsbericht heißt, dass Gott die Welt „sehr gut“ geschaffen hat, wie es dort heißt (1. Mos. 1,1-2,4 bes. 1,31). Denn nach heutiger Erkenntnis herrschte von Anfang an die „Todeswirklichkeit“ und dadurch die Angst, nicht erst am Ende des Lebens zu sterben, sondern vielleicht jederzeit durch Krankheit, Naturkatastrophen oder Mord! Diese Sicht der Todeswirklichkeit im Leben von Pflanzen, Tieren und Menschen führt zu einem Umbruch im Verständnis des Bösen und der Sünde.

These B 3: Umbruch im Verständnis des Bösen und der Sünde

a) Woher kommt das Böse?

Wenn Gott alles geschaffen hat (und alles „regiert“), dann also auch das, was der Mensch als „böse“ erfährt, eben die genannte Todeswirklichkeit in der „Schöpfung“, und auch den Menschen, der Böses tut. Wie kann ich das zusammenbringen mit dem Glauben an einen „Gott der Liebe“? (s. 1. Joh. 4,16). Zwar fragt Amos: Geschieht etwa ein Unglück in der Stadt, und der Herr hat es nicht getan? (Am. 3,6) Aber tut Gott wirklich auch alles Böse? Das AT „braucht“ zur Erklärung Luzifer, den gefallenen Engel, Jesus im NT die „Dämonen“ als Ursache von Krankheit und Sünde. Hat Gott auch den Teufel geschaffen? Auf jeden Fall erfährt der Mensch Unglück, Krankheit, frühen Tod als „unverdientes Böses“ (Hiob!). Und wie ist das Böse, das der Mensch selber tut, seine Sünde, seine Schuld zu verstehen?

b) Woher kommt die Sünde?

Die „kluge“ Erklärung von Philosophen und Theologen, Gott habe dem Menschen die Freiheit geschenkt, und dies schließe auch die Freiheit ein, Böses zu tun und schuldig zu werden, klingt für mich wie eine eiskalte Rationalisierung angesichts des abgrundtiefen Menschen und Umwelt vernichtenden Bösen, zu dem Menschen fähig sind.

Auch die atl. Erklärung, wir hätten unsere „Fähigkeit“ zum Bösen, zur Sünde durch den Verstoß von Adam und Eva gegen Gottes Gebot „geerbt“ (Erbsünde!), kann aus heutiger Sicht nicht überzeugen. Vielmehr ist diese „Fähigkeit“ eine Wirkung der Todeswirklichkeit, die von Anfang an alles Leben bedrohte und bis heute bedroht. Diese bewirkt die Angst vor möglichem frühen Tod, und auch die Angst, im Leben zu kurz zu kommen, weil es anderen besser geht – gesundheitlich, wirtschaftlich und im Ansehen von Gott und Menschen! Dagegen wehren wir uns, im Notfall eben auch mit Lügen, Betrug, Gewalt und Mord, wie von Anfang an Kain und Abel! (1. Mos. 4,3-8) So gilt: Die Todeswirklichkeit in unserem Leben bewirkt Sünde, also umgekehrt als es Paulus sagt. Nicht: „der Sünde Sold ist der Tod“ (Röm. 6,23a), sondern: die Sünde ist des Todes Sold!

These B 4: Umbruch in der Art von Glauben begründenden Erfahrungen

Im AT beruht der Glaube des Volkes Israel vor allem auf drei Erfahrungen: auf der Errettung aus der Sklavenschaft in Ägypten, auf der Gabe der zehn Gebote, sowie auf der Erfahrung der Schöpfung. Im NT erfahren die ersten Christen die Liebe Gottes in der Sendung seines Sohnes Jesus und dessen Erlösungstat durch Kreuzestod und Auferstehung. Diese Erfahrungen waren für die Menschen mit ihrem damaligen Weltbild vorstellbar, also real, wie immer wir sie heute in historischer Sicht verstehen und deuten.

Im Laufe der Geschichte des christlichen Glaubens wurde der Empfang der Gnade Gottes im Sakrament (katholisch) und in der Verkündigung (evangelisch) nach kirchlicher Lehre zur entscheidenden Glaubenserfahrung und -begründung. Seit der Aufklärung verliert diese jedoch durch den zunehmenden Verlust der Autorität von Kirche, Bibel und Gottesdienst an Stärke und Relevanz. Daher kann sich Glaube als Vertrauen in die Realität und den Sinn der Liebe (Gottes) heutzutage in zunehmendem Maße nur auf die persönliche Erfahrung von sinngebender Liebe gründen.

These B 5: Die Erfahrung von Liebe begründet Vertrauen in (Glauben an) den Sinn der Liebe (Gottes)

Die Erfahrung von (Gottes) Liebe erlebe ich der trinitarischen Struktur entsprechend in dreifacher Gestalt. Erstens in den guten Gaben der Natur, leiblich als Ernährung und seelisch als Wunder und Schönheit. Zweitens in Jesu Worten und Taten, mit denen er sich nicht nur kranken, verachteten und schuldig gewordenen Menschen zuwendet, sondern auch dem gesetzlichen Glaubensverständnis der religiösen Autoritäten seines jüdischen Glaubens widerspricht (Pharisäer, Schriftgelehrte, Hoher Rat, s. Mt. 5,17-48, Mk. 2,27f). Dafür nimmt er den Tod auf sich! Drittens in der Wirkung des Heiligen Geistes, der durch Güte, Gerechtigkeit und Wahrhaftigkeit tragende Gemeinschaft unter Menschen stiftet (s. „Frucht des Lichtes und des Geistes“ in Eph. 5,9b, Gal. 5,22f).

These B 6: Umbruch im Verständnis von sinnvollem Leben

Ich kann theologischer oder kirchlichen Lehre, die den „wahren Glauben“ am Bekenntnis des „rechten Glaubens“ misst, nicht mehr zustimmen, denn die sog. Rechtgläubigkeit ist weder ein Erweis, noch eine Garantie für ein Leben in der Nachfolge Jesu. So sagt Jesus: An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen. Und gleich im nächsten Vers: Es werden nicht alle, die zu mir sagen: Herr, Herr!, in das Himmelreich kommen, sondern die den Willen tun meines Vaters im Himmel (Mt. 7,16a, 20f, s.a. den ganzen Abschnitt 7,15-23). Jesu Ruf in die Nachfolge höre ich als sein Versprechen, das heute wie damals gilt: „In meiner Nachfolge, im Nehmen und Geben von Liebe findest du einen tragenden Lebenssinn!“ Dieser Lebenssinn begründet auch die christliche Hoffnung, die der ehemalige tschechische Präsident Vaclav Havel m.E. zutreffend so versteht: Hoffnung ist nicht die Überzeugung, dass etwas gut ausgeht, sondern die Gewissheit, dass etwas Sinn hat, egal wie es ausgeht.

 

C. Zehn notwendige und mögliche Schritte eines Aufbruchs im christlichen Glauben und in der Kirche

These C 1: Der wichtigste Auftrag der Kirche: Einladung zur Nachfolge Jesu

In Zukunft halte ich die Einladung und Ermutigung zur Nachfolge Jesu, die ein sinnvolles Leben verspricht für den wichtigsten Auftrag der Kirche. Obwohl der Ruf in die Nachfolge in der Kirchengeschichte eine wichtige Rolle spielte, lag von Anfang an bis heute das Gewicht meist auf dem Versprechen der Auferstehung und eines ewigen Lebens. Wir sind jedoch heute an einem Punkt angekommen, an dem die christologischen Aussagen von Erlösung, Auferstehung und ewigem Leben so schwer und fern geworden sind – wie D. Bonhoeffer schon 1944 geschrieben hat –, dass sie für viele Menschen unverständlich, fremd und nicht mehr überzeugend sind. Daher kehren in unserer Zeit nach meiner Wahrnehmung immer mehr Theolog*innen, wie auch kirchlich oder säkular geprägte Menschen „zurück“ zu den Worten und Taten Jesu und versuchen nach dem Gebot der Liebe zu handeln und zu leben.

These C 2: Seelsorge als Hauptaufgabe im Pfarrberuf: Begleitung der Menschen auf ihrem Lebensweg in der Nachfolge Jesu

In der Nachfolge Jesu machen Menschen Erfahrungen mit gelingender und mit scheiternder Liebe. Gelingende Liebe im Empfangen und Geben von Liebe bringt Freude, nicht gelingende jedoch Leiden, konkret: Enttäuschung, Entmutigung, Trauer, Zorn, Schuld, Zweifel, Verzweiflung. Solche Erfahrungen rufen Fragen hervor nach der Wahrheit, der Tragfähigkeit und dem Verständnis des Glaubens als Vertrauen in den Sinn der Liebe. Und ich halte es für die Hauptaufgabe im Pfarrberuf, Menschen in ihren glücklichen und in ihren schweren seelischen, gesundheitlichen, familiären, beruflichen und gesellschaftlichen Erfahrungen seelsorgerlich zu begleiten, im Sinne des Pauluswortes: Freut euch mit den Fröhlichen, weint mit den Weinenden (Röm. 12,15).

These C 3: Das Ernstnehmen der konfessionslosen Menschen ist Voraussetzung von Gemeindearbeit und Predigt

Will man konfessionslose Menschen ernst nehmen, darf „missionarische Kirche“ nicht bedeuten, sie von traditionellen Glaubensvorstellungen überzeugen zu wollen, und sie dadurch zurückzugewinnen, denn von diesen Vorstellungen haben sich viele von ihnen bewusst verabschiedet. Mitarbeiter*innen und Mitglieder der Kirche müssen vielmehr im Gespräch herausfinden, in welcher Sprache sie welche Botschaft vertreten können, die Konfessionslosen eine verständliche und überzeugende Lebens- und Glaubenshilfe sein kann. Für dieses Gespräch gibt es m.E. zwei Brücken: Zuerst ist wichtig wahrzunehmen und anzuerkennen, dass sich viele zwar von traditionellen Glaubensvorstellungen verabschiedet haben, weder in ihrem Denken noch Handeln jedoch von der griechisch-jüdisch-christlichen Ethik, die sie meist als „humanistische Ethik“ verstehen. Zum andern bieten die existentiellen Grundfragen, die konfessionslose Menschen genauso betreffen wie Christen, eine Gesprächsbasis. Die Fragen also: Warum ist überhaupt etwas? Wie will ich wozu leben? Auf was kann ich vertrauen? (u.ä.) Christen verstehen diese Fragen als religiöse Fragen, wenn sie jedoch die heute angemessene Bezeichnung „existentielle Fragen“ anerkennen, ist damit eine Gesprächsbrücke gewonnen.

These C 4: Erneuerung der Predigt, oder: Vom Sinn und Ziel der Predigt

Predigten weisen in unserer Zeit häufig zwei inhaltliche Schwächen auf: eine besteht darin, dass die Auslegung eines 2000 Jahre alten Bibeltextes zwar oft gründlich, anschaulich und lebendig gepflegt wird, dabei aber die heutige Lebenswirklichkeit der Menschen und die darin begründeten Glaubensfragen und Glaubenszweifel zu wenig in den Blick kommen. Eine zweite Schwäche besteht darin, die „frohe Botschaft des Evangeliums“ als Glaubenszuversicht und -hoffnung meist am Ende der Predigt in behauptenden und beteuernden Sätzen zu verkünden. Das lautet dann so: Trotz allem Bösen in der Welt: Gott geht immer mit uns, ist immer da, nimmt uns bedingungslos an usw., ohne zu sagen, wo und wie wir Liebe (Gottes) in unserer Zeit und in einer Welt von Ungerechtigkeit, Lüge, Naturkatastrophen, Terror und Krieg „trotz alledem“ konkret erfahren können. Ohne dies immer wieder zu sagen, verkommen Glaubens- und Hoffnungsbeteuerungen zu „reiner Lehre“ (Leere), zu „billiger Gnade“! Und dies wiederum befördert die sowieso grassierende Tendenz zur „Wellness-Frömmigkeit“!

Ein formales Problem der Predigt besteht heute in ihrer monologischen Vortragsform. Dem muss mit einer „dialogischen Redeweise“ energisch entgegengewirkt werden. In Zukunft ist es geboten, den Predigtmonolog durch ein Gespräch mit Einzelnen oder mit einer kleinen Gruppe vor der Gemeinde – mindestens alternierend – abzulösen.

These C 5: Erneuerung des Gebets und einer Kultur der Stille im Gottesdienst

Das Beten ist im Gottesdienst nach wie vor „selbstverständlich“, während es im privaten Bereich nicht nur bei Gottesdienstbesucher*innen, sondern auch bei Pfarrer*innen und anderen kirchlichen Mitarbeiter*innen schon lange in eine Krise geraten ist. Diese Krise wird jedoch weithin ausgeblendet, d.h. weder als Problem noch als pastorale Aufgabe in Theorie und Praxis gesehen und angegangen. Sie fordert sowohl zu einer theologischen Klärung des Gebetsverständnisses als auch zur Einübung einer heute möglichen Gebetspraxis heraus. Dies gilt für die Arbeit mit Kindern wie für Erwachsene. Nur so kann es wieder zu einer vitalen, wirksamen und sinnvollen Gebetspraxis kommen.

These C 6: Gottesdienst als „Christliche Lebensfeier im Geiste Jesu“

Aufgrund des bisher Gesagten kann und muss m.E. heute Gottesdienst verstanden und benannt werden als Christliche Lebensfeier, also als Feier des Lebens im Geiste Jesu. Sie soll Menschen stärken auf ihrem Weg der Nachfolge. An diesem Verständnis müssen sich alle Elemente der Christlichen Lebensfeier ausrichten, also Predigt, Lesungen, Singen, Musik, Gebet. Darin muss vor allem der Dank zum Ausdruck kommen dafür, dass Jesus einen Weg gewiesen hat, auf dem wir ein sinnvolles und erfülltes Leben finden trotz des Bösen in der Welt und trotz eigener Begrenztheit und eigenen Versagens.

These C 7: Taufe und Segensfeier

Aufgrund des in These A 9 Gesagten ist es geboten, für Kleinkinder neben der Taufe eine Segensfeier anzubieten und die Eltern zwischen beidem wählen zu lassen. Dies wird z.T. schon praktiziert, vor allem auch in der katholischen Kirche. Eine Segensfeier ist rechtlich nicht mit der Mitgliedschaft in der Kirche verbunden und entspricht dem Wunsch und der Vorstellung derjenigen Eltern, die sich für die Geburt ihres Kindes eine Dank- und Segensfeier wünschen. Die rechtliche Mitgliedschaft, über die Jugendliche selber entscheiden, halte ich frühestens mit 16 Jahren für verantwortbar, also noch nicht mit 14 Jahren bei der Konfirmation. (Welche Rechte und Pflichten Kinder und Jugendliche vor der Mitgliedschaft haben sollen, muss in einem altersgerechten Sinn geregelt werden, wie es von Reforminitiativen schon seit Jahrzehnten gefordert wird, z.B. Verhältnis von Taufe, Segensfeier, Konfirmation, Teilnahme am Abendmahl u.a.).

Ein Mitgliedschaftsrecht erst mit 16 Jahren fordert die Gesamtkirche und die einzelnen Gemeinden dazu heraus, die Gewinnung von Mitgliedern als neue und wichtige Aufgabe zu verstehen, die man sich bisher aufgrund des „automatischen“ Nachwuchses ersparen konnte.

These C 8: Entlastung im Gemeindepfarramt

Dass die Vielzahl von unterschiedlichen Aufgaben und Rollen Gemeindepfarrer*innen zeitlich und gesundheitlich überlasten, haben nicht erst die seit den 1990er Jahren zunehmenden Burnout-Fälle erwiesen. Das Problem wird von vielen schon seit langem erkannt und beschrieben. Und seit den 1970er Jahren versucht man Abhilfe zu schaffen, z.B. durch Pfarramtssekretärinnen, Laien-Vorsitz im Kirchengemeinderat, Schwerpunktbeauftragungen u.a. Das Problem wurde dadurch jedoch nicht gelöst, sondern hat sich bis heute eher noch verschärft. Allein die vier klassischen Aufgaben von Gottesdienst und Kasualien, Unterricht, Seelsorge und Gemeindeleitung haben schon immer eine zeitliche und kräftemäßige Überforderung bedeutet. Und etwa seit Mitte des letzten Jahrhunderts sind weitere Aufgaben in Gestalt von Organisation, Leitung und Begleitung spiritueller, sozialer und kultureller Gruppen dazugekommen. Eine Lösung ist nicht in Sicht, allenfalls im Modell der jüdischen Gemeinden, in denen es einen nichttheologischen Gemeindeleiter gibt. Und angesichts der rasch zunehmenden Digitalisierung ist es vielleicht denkbar und finanzierbar, dass ein hierfür qualifizierter Gemeindeleiter die Verwaltung und Organisation von mehreren Gemeinden übernehmen kann. Eine Entlastung im Gemeindepfarramt ist auf jeden Fall dringend erforderlich, denn die Überlastung schadet der Gemeindearbeit und damit der ganzen Kirche.

These C 9: Die zukünftige Ausbildung von Theolog*innen muss ein starkes Gewicht auf die berufsbezogenen Anforderungen legen

Ein neues Ausbildungsmodell für Theolog*innen ist aus zwei unterschiedlichen Gründen geboten. Erstens ist grundsätzlich zu fragen, wie lange die Kirchen die staatliche Finanzierung der Theologenausbildung noch in Anspruch nehmen wollen und können angesichts des Tatbestands, dass inzwischen mehr als die Hälfte der Bevölkerung konfessionslos ist. Zweitens ist ausgehend von dem in den Thesen C 2, 4, 5, 6 Gesagten deutlich, dass angehende Pfarrer*innen nicht erst in der Vikarsausbildung, sondern schon im Grundstudium in viel stärkerem Maße auf die Aufgaben im Pfarramt vorbereitet werden müssen, als dies bisher der Fall ist. Das erfordert, dass die Disziplin Praktische Theologie ein sehr viel stärkeres Gewicht erhält als bisher.

These C 10: Ausbildung an der Universität und an einer Kirchlichen Hochschule

Den in These C 9 genannten zwei Gründen für eine zeitgemäße Reform des Theologiestudiums kann in einem Zweistufenmodell an der Universität (Bachelor) und an einer Kirchlichen Hochschule (Master) Rechnung getragen werden: Im Bachelorstudium können die historischen theologischen Fächer studiert werden, also Archäologie, Bibelwissenschaft, Kirchengeschichte, Dogmengeschichte und Philosophie. Die staatliche Finanzierung des Bachelorstudiums ist aufgrund der geistesgeschichtlichen und kulturellen Bedeutung des Christentums auch in Zukunft gerechtfertigt. Für die berufs- und praxisbezogene Ausbildung von Pfarrer*innen in einem Masterstudium ist die Kirche finanziell und rechtlich zuständig. Dieses müsste sich m.E. auf sechs Schwerpunkte konzentrieren:

(1) Systematische Bestimmung der Bedeutung des christlichen Glaubens für die Menschen, die Gesellschaft und die Weltgemeinschaft in Gegenwart und Zukunft

(2) Gottesdienst- (Christl. Lebensfeier) und Predigtlehre (Rhetorik und Sprachschulung)

(3) Theoretische und praktische Ausbildung in Spiritualität

(4) Pastoralpsychologie sowie Kirchen- und Gemeindesoziologie

(5) Kommunikationstraining, für verschiedene Aufgaben und Rollen im Pfarramt

(6) Studienbegleitender Seelsorgekurs (einem 6-Wochenkurs KSA entsprechend), alternativ: Selbsterfahrungsgruppe in 2 Semestern (1x wöchentlich)

Diese wesentlich praktischen Themen und Aufgaben sind m.E. keine verfrühte Vorwegnahme dessen, was heute in der zweiten Ausbildungsphase (Vikariat) gelehrt und gelernt werden soll, sondern eine notwendige praxisorientierte Vorbereitung auf die ersten Berufserfahrungen im Vikariat. Die gemeinsame Reflexion dieser Erfahrungen wird im Vikariat mit einer vertieften Einübung der konkreten Aufgaben verbunden.

Ich bin überzeugt, dass das dargestellte Verständnis des Berufs Gemeindepfarrer*in auf der Basis eines berufsbezogenen Studiums junge Menschen in der Zukunft für diesen Beruf gewinnen kann.

 

Über die Autorin / den Autor:

Pfarrer i.R. Günther R. Eisele, Jahrgang 1936, 1966-1973 Pfarrer an der Psychiatrischen Privatklinik Christophsbad Göppingen, 1973-1982 Leiter des Seelsorgeseminars Stuttgart, 1982-1987 Pfarrer an der Albert-Schweitzer-Kirche Tübingen, 1987-1993 Geschäftsführender Studienleiter am Prakt.-Theol. Ausbildungsinstitut (Predigerseminar) Berlin-West, 1993-1998 Supervisor am Seelsorge-Seminar in Berlin-Pankow und Krankenhausseelsorger an der Charité.

Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 3/2023

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