Jan Amos Comenius ist vor allem als pädagogischer Reformer bekannt, doch sein pädagogischer Ansatz ist ohne seine Verwurzelung in einer reformatorischen Theologie nicht verständlich. Zugleich hat Comenius sich für einen protestantisch motivierten Humanismus geöffnet, der ihn hinsichtlich politischer und interreligiöser Überlegungen höchst aktuell macht, wie Friedrich Goedeking zeigt.

 

Comenius stellt sich selber mit folgenden Worten vor: „Ich bin von Geburt an ein Mähre, der Sprache nach ein Böhme, von Beruf ein Theologe“.1 Lange Zeit aber war Comenius als Theologe kein Thema. Man hat ihn als genialen Pädagogen gefeiert, obwohl er selber bekannte: „Was ich für die Jugend geschrieben habe, habe ich nicht als Pädagoge, sondern als Theologe verfasst“.2 Auch in seinen pädagogischen Schriften verweist Comenius immer wieder auf Aussagen der Bibel. Er selber bekennt: „Wenn mich jemand nach meiner Theologie fragt, so will ich, wie es sterbend Thomas von Aquin tat (und ich muss ja auch bald sterben), die Bibel ergreifen und mit Herz und Mund sprechen: ‚Ich glaube, was in diesem Buche geschrieben steht.‘“3

Erst in den letzten Jahrzehnten wird Comenius wieder als Theologe gewürdigt. Zu den Autoren, die diese Wende mit eingeleitet haben, gehören u.a. der Theologe Jan M. Lochmann, der Religionspädagoge Karl Ernst Nipkow und der tschechische Brüdertheologe Rudolf ­Rican.

 

Zur Biografie des Comenius

Jan Amos Comenius (1592-1670), war der letzte Bischof der Böhmischen Brüder. Zugleich war er ein Universalgelehrter, der als Theologe, Philosoph, genialer Pädagoge und Visionär einer friedlichen Welt ein umfangreiches Werk von über 150 Schriften hinterlassen hat.

Comenius ist1592 im ostmährischen Nivnice als Sohn eines Mitglieds der Brüderunität geboren. Die Brüderunität wird 1457 im böhmischen Dorf Kunvald gegründet. Wie die Utraquisten, die dafür eintraten, dass die Laien beides, Brot und Wein, beim Abendmahl erhielten und den radikalen Taboriten, waren sie aus dem Hussitentum hervorgegangen. Höchste Autorität hatte für sie die Bibel und ein Leben in Glauben, Liebe und Hoffnung.

Rückblickend beschreibt Comenius sein Leben mit folgenden Worten: „Mein Leben war ein Wandern, eine Heimat hatte ich nicht. Es war ein ruheloses, fortwährendes Umhergeworfenwerden, niemals und nirgends fand ich einen festen Wohnsitz.“4 Sein Leben ist geprägt von schweren Schicksalsschlägen. Er verlor schon als Kind beide Eltern. Erst mit 16 Jahren konnte er die Lateinschule in Prerov besuchen, wo er durch seine große Begabung auffiel und zum Theologiestudium an die reformierte Hochschule in Herborn und die Universität Heidelberg geschickt wurde.1614 kehrte er als 22jähriger zu Fuß in seine mährische Heimat zurück. In Prerov wurde er zum Rektor der Lateinschule ernannt. 1618 wurde er als Pfarrer nach Fulnek berufen. Gleichzeitig wurde ihm das Amt des Rektors der Brüderschule übertragen.

Mit dem Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges beginnt für Comenius eine Zeit des Leidens und der Schicksalsschläge. Nach dem Sieg der katholischen Habsburger am Weißen Berg bei Prag führte der Kaiser Ferdinand eine Zwangskatholisierung in Böhmen und Mähren durch. Die überwiegend evangelischen Einwohner, die sich nicht zur katholischen Kirche bekennen wollten, mussten auswandern. Eine halbe Million Menschen verließen ihre Heimat. Comenius musste in den Untergrund und ins Exil flüchten. Seine erste Frau kam mit ihren Kindern durch die Pest um. 1628 musste er mit seiner zweiten Frau Mähren verlassen und mit Tausenden anderer Vertriebener ins Exil ins polnische Lissa flüchten.

Der inzwischen durch seine Schriften berühmt gewordene Comenius verbringt als Pädagoge mehrere Jahre im damals schwedischen Elbing und in Ungarn und kehrt von dort nach Lissa zurück. 1648 stirbt seine zweite Frau. Polnische Katholiken erobern 1656 Lissa und stecken die Stadt in Brand. Comenius kann mit seiner dritten Frau entkommen, ein Großteil seiner Handschriften allerdings wird verbrannt. Comenius flüchtet nach Amsterdam, wo er am 15. November 1670 im Alter von 76 Jahren stirbt.

 

Die Welt als chaotisches Labyrinth

Im Laufe der Jahre hat Comenius ein optimistisches Menschbild entwickelt. Dennoch hat er das Versagen von Menschen in der Gesellschaft, der Politik und auch den Kirchen gerügt und von chaotischen Zuständen gesprochen. 1623 erscheint seine Schrift „Das Labyrinth der Welt und das Paradies des Herzens, in der er schonungslos das Versagen von Menschen in allen Berufsgruppen und auch der Kirche beschreibt.

„Das Labyrinth der Welt“ ist eine seiner berühmtesten Schriften. Darin schildert er den Weg eines Pilgers, der erfüllt von der Sehnsucht nach einer besseren Welt durch die Straßen einer Stadt geht und dabei von zwei Gestalten wie dem „Alleswisser“ und der „Verblendung“ begleitet wird, die die korrupten Zustände schönreden. Auf Schritt und Tritt begegnet er dem Lug und Trug einer selbstgefälligen, korrupten Gesellschaft. Besonders hart kritisiert er die Christen, die sich nach dem Gottesdienst „in Saufgelage und Händel stürzten, Unzucht trieben, Diebstahl und Raub verübten … Sie fraßen und soffen, haderten und rauften, beraubten und quälten einander mit Gewalt und List“.5 Entsetzt erkennt der Pilger, dass auch die Christen ein zügelloses Leben führen, wie er es schon in den verschiedenen Berufsgruppen erlebt hat. Aus diesem Labyrinth gibt es nach Meinung des Pilgers kein Entrinnen. Er ist entschlossen, diese verdorbene Welt zu verlassen, als er plötzlich eine Stimme hört, die ihm zuruft: „Kehre um! Kehre dorthin zurück, von wo du hergekommen bist, nämlich in die Kammer deines Herzens. Und schließe die Tür hinter dir zu.“6 In dieser Kammer seines Herzens kann er die Stimme Christi hören. Der Pilger flieht in die Innerlichkeit und zieht sich von der Welt zurück. In seinen Frühschriften war der Weg in die eigene Herzensfrömmigkeit und der Rückzug aus der Welt für Comenius die einzig mögliche Lösung.

 

Gottes Seelenarznei

Wie aber konnte Comenius seine Verzweiflung überwinden, als er als Verfolgter im Untergrund ausharren musste, als seine Frau und seine Kinder zu Tode kamen, ohne dass er ihnen hätte beistehen können? Er schreibt selbst darüber: „Als die finstere Katastrophe anwuchs (1623) und als es schien, dass keinerlei Hoffnung mehr übrigblieb auf menschliche Hilfe oder Ratschlag, als ich von unbeschreiblichen Ängsten und Versuchungen geschüttelt wurde, da mitten in der Nacht, die ich bereits seit einigen vorhergehenden Nächten ohne Schlaf verbrachte, wurde ich von einer ungewöhnlichen Glut ergriffen. Ich rief zu Gott, ich sprang vom Lager, ich ergriff die Bibel und betete, ob, da ein menschlicher Trost nicht ausreichte, mich Gott nicht in sein Inneres lasse. Als erstes las ich Jesaja, und wie ich mich mit Jammern in ihn hineinlas, da begann ich zu spüren, wie sich durch das Lesen mein Kummer verzog. Und ich ergriff die Feder und ich begann für mich selbst, wenn das Grauen zurückkehrte, oder für andere Arme, die Angst, die ich durchgemacht hatte, aufzuzeichnen, mich mit Gottes Arznei zu trösten, jener göttlichen Sonne, die aufging und die Dunkelheit vertrieb. Dann fuhr ich fort mit den anderen Propheten bis zu den letzten Büchern von Gottes Gesetz. Nie in meinem Leben empfing ich süßere Speise als damals diese Sammlung von Gottes Trost. … Schließlich kam Christus: Er erklärte das Geheimnis seiner Passion, er erzählte, wie wohltuend es dem Menschen ist, gedemütigt, verletzt, erniedrigt und vernichtet zu werden im Angesicht Gottes, und damit kehrte endlich in die Seele volle Ruhe, Trost und Freude wieder ein.“7

Jetzt kann Comenius bekennen: „Jedes Verzweifeln ist eine Beleidigung Gottes.“8 Die Erfahrung einer außer sich geratenen Welt entmutigt ihn nicht, sondern im Gegenteil: Sie mobilisiert seinen Willen und seine Reformenergie. Er erkennt die Gefahr einer einseitigen Innerlichkeit und überwindet seine Resignation. Er findet zu einem neuen Verhältnis gegenüber der Welt. Er bleibt zwar bei seiner Absage an die falsche und gottlose Welt, zugleich aber wird sein Denken immer mehr davon bestimmt, nach Wegen zu suchen, die Welt und Mensch verbessern zu können.

In ihm reift die Erkenntnis, dass der Mensch als Gottes Ebenbild geschaffen worden ist und dass der Mensch bei allem Versagen zumindest Spuren der Gottesebenbildlichkeit in sich trägt. An diese Spuren gilt es anzuknüpfen, wenn es zu einer Erneuerung der Welt und des Menschen kommen soll. Die Lehre von der Erbsünde, wonach der Mensch seit dem Sündenfall Adams und Evas als Sünder geboren wird, lehnt Comenius ab: „Wenn einer sagt, wir sind aber doch verdorben, so antworte ich folgendermaßen: 1. Wir sind aber auch erneuert durch den neuen Adam. 2. Es ist uns aufgegeben zu verbessern, was verdorben ist.“9 „Schimpflich und ruchlos ist es und ein offenbares Zeichen der Undankbarkeit, dass wir immer die Verderbnis beklagen, von der Wiederherstellung aber schweigen, wohl die Macht des alten Adam in uns anerkennen, die Macht des neuen Adam Christus aber nicht erproben. Ach, hüten wir uns doch, die Gnade Gottes einzuengen, die er auf uns höchst freigebig auszuschütten bereit ist.“10

Hinzu kommt bei Comenius der unerschütterliche Glaube, dass Christus bald wiederkommen wird, um dann auf Erden ein tausendjähriges Friedensreich zu errichten. Aufgabe des Menschen ist es aber, schon jetzt die Wiederkunft Christi vorzubereiten und an der Verbesserung der Welt mitzuarbeiten. Dafür entwirft Comenius sein Programm einer universalen Reformation der Kirche, der Schule und der Gesellschaft.

 

Erziehung und Bildung als Voraussetzung einer vollkommenen Reformation

Eine Voraussetzung für die Verbesserung des Menschen und der Welt ist für Comenius die Erziehung und die Bildung. Die Bildung soll nicht bloß theoretisches Wissen vermitteln, sie erschöpft sich nicht im sturen Auswendiglernen. Er verknüpft die Bildung mit der Moral und der Religion. Mehrmals betont er, dass die Bildung den Menschen zu Christus führen soll. Die Schule ist für Comenius der Ort, der die Menschen befähigt, sich ihrer ursprünglichen Bestimmung als Gottes Ebenbild und als Mitarbeiter Gottes bewusst zu werden. „Der Mensch“, stellt Comenius fest, „muss gebildet werden, wenn er denn wieder Mensch im Sinne der Schöpfungsabsicht Gottes werden soll.“11 Comenius plädiert darum für ein lebenslanges Lernen von der Kindheit bis zum Greisenalter. Das Lernen darf nie mit Zwang oder gar Gewalt und Strafen verbunden sein. Schulen sollen keine Tretmühlen sein, sondern mit Spiel und Vergnügen den Kindern Freude am Lernen bereiten.

Eine Erziehung zur Menschlichkeit ist nicht vereinbar mit Vorurteilen. Comenius fragt: „Warum verachten wir denn einander? Wir sind alle Bürger einer Welt, im Grunde ein Blut. Einen Menschen hassen, weil er anderswo geboren ist, weil er eine andere Sprache spricht, weil er anders über Dinge denkt, weil er mehr oder weniger als du versteht, welche Unüberlegtheit! Hören wir damit um Himmels willen auf! Denn Menschen sind wir alle.“12 Ausdrücklich werden die Kinder darauf verwiesen, Behinderte nicht zu verspotten.

Comenius hat entschieden für die Gleichheit aller Menschen plädiert. Noch heute sind seine folgenden Sätze von großer Aktualität: Es gibt für ihn keinen Grund, Mädchen und Frauen von der Bildung auszuschließen, das gilt für den Unterricht in der Muttersprache, aber auch für das Erlernen der lateinischen Sprache: „Denn Mädchen und Frauen sind in gleicher Weise Gottes Ebenbilder, in gleicher Weise der Gnade und des Reiches künftiger Zeiten teilhaftig, in gleicher Weise, ja oft mehr als unser Geschlecht, die Männer, mit einem lebhaften und für die Weisheit empfänglichem Geist begabt; ihnen steht gleichermaßen der Zugang zu Höchstem offen, denn Gott selbst hat sie oft herangezogen zur Herrschaft über Völker, zur Heilkunde und zu anderen der Menschheit heilsamen Zwecken, auch zum prophetischen Amt und zur Ermahnung von Priestern und Bischöfen.“13

 

Frieden …

Comenius erlebt den Dreißigjährigen Krieg, der für die Menschen unsagbares Leid bedeutet. Ein Leben lang beschäftigt ihn die Frage, wie wieder Friede zwischen den Völkern und Religionen hergestellt werden kann. Europa war in weiten Teilen zerstört. Um die Auseinandersetzungen zwischen den einzelnen Konfessionen des Christentums und den Staaten zu beenden und eine bessere Welt zu erschaffen, waren für ihn Erziehung und Bildung von größter Bedeutung. Sein Motto lautete: „Alles fließe von selbst, Gewalt sei ferne den Dingen.“14 Für Comenius führt der Weg zur Gewaltlosigkeit und zum Frieden über die Bildung, die den anderen Menschen respektiert und ihn als Gottes Ebenbild wahrnimmt.

Um eine weltweite Verbesserung der menschlichen Verhältnisse auf dieser Welt zu erreichen, braucht es nach Comenius drei internationale Gremien: 1. das Kollegium des Lichtes, das die Wissenschaft und die Bildung fördern soll; 2. ein Weltkonsistorium, das die religiösen Konflikte friedlich klären soll; 3. das Friedensgericht, das die politischen Streitigkeiten regelt. Diese drei internationalen Gremien sollen die wahre Weisheit in der Wissenschaft vorantreiben, ebenso wie den Frieden in der Politik und die wahre Gottesverehrung in der Theologie. Am Ende steht das goldene Zeitalter: „Dies wäre, sage ich, ein wahrhaft goldenes Zeitalter, in dem der Glanz wahrer Weisheit das Denken aller Menschen durchdringt. Das Band des wahren Friedens würde alle Völker der Welt verbinden und fesseln. Die wahre Verehrung wahrer Göttlichkeit würde das Herz aller Menschen erfüllen.“15

 

und soziale Gerechtigkeit

Wirklicher Friede kann nur dann herrschen, wenn in der Gesellschaft auch soziale Gerechtigkeit herrscht. In einer seiner ersten Schriften, die er noch in Fulnek verfasst, übt Comenius harte Kritik an der Habgier der Reichen. Vermutlich waren in Fulnek die sozialen Unterschiede besonders groß. In seiner Schrift „Die Briefe an den Himmel“ ergreift Comenius Partei für die Armen und die Unterdrückten. Die Armen klagen, dass die Reichen „volle Scheuern und Speisekammern haben, so dass die Vorräte von den Mäusen gefressen werden, wir dagegen sterben vor Hunger.“16 Als Ursachen für die soziale Not nennt Comenius hohe Steuern für die Armen, den sklavischen Frondienst, zu dem sie gezwungen werden, den Wucherzins, der die Armen, wenn sie den Reichen das geliehene Geld nicht mehr zurückzahlen können, zwingt, ihr übrig gebliebenes Hab und Gut den Reichen zu opfern.

So zutreffend auch die Analyse der sozialen Not ist, bietet Comenius keine Lösungen an, sondern vertröstet die Armen auf die nahende Wiederkunft Christi. In seinem Spätwerk fordert er aber die Verwirklichung der sozialen Gerechtigkeit für die Gegenwart. Er deckt „zwei grundlegende Mechanismen des entstehenden Kapitalismus auf, seine ausbeuterische Grundstruktur mit der Anhäufung von Reichtum auf der einen und der Verschärfung von Armut auf der anderen Seite.“17 In seiner Schrift „Mahnruf des Elias“ fordert er: „Überall soll den Monopolen Einhalt geboten werden. Sie sind eine besondere Art des Diebstahls und der Räuberei.“18

Comenius besteht darauf, dass der soziale Friede weltweit verwirklicht wird. Deshalb scheut er sich nicht, England und die Niederlande, von denen er sich immer Unterstützung gegen die katholischen Habsburger erhofft hat, wegen ihres Kolonialismus zu kritisieren. Er fragt: „Was nutzt es, dass sich Europa mit afrikanischem Gold, mit asiatischen Perlen und Edelsteinen angefüllt hat? Was haben uns die Edelsteine, die Perlen, die rein seidenen Stoffe eingebracht? Verschwendung, Hochmut, Weichlichkeit und leeren Tand.“19 Beide Seemächte begehen Raub. Sie missachten, dass es außerhalb von Europa hunderte von Völkern gibt, die die gleichen Rechte wie die Europäer haben. Wie sollen die Menschen in Indien und Afrika begreifen, dass sie als Geschöpfe Gottes ein Recht auf ein friedliches und gewaltfreies Leben haben? Comenius war einer der Ersten, der den Kolonialismus und den Rassismus thematisiert und verurteilt hat.

 

Zum Dialog mit den Weltreligionen

Comenius drängt auf einen universalen Weltfrieden. Dazu gehört für ihn auch der Dialog mit den Weltreligionen. Er schlägt ein weltweites Konzil vor, bei dem Vertreter aller Religionen sich beteiligen sollen. Man soll sie alle anhören, um zu sehen, was sie Gutes zu sagen haben, „ohne Rücksicht darauf, ob einer Christ oder Mohammedaner, Jude oder Heide sei, und welcher Sekte auch immer er angehört.“20 Auch die in seinem Lehrbuch Orbis pictus (Die Welt in Bildern) abfällig dargestellten „Mohammedaner“ sind ausdrücklich unter den Gruppen genannt, die sich auf diesen Weg machen können. Das Judentum beurteilt Comenius überaus positiv. Seine theologischen Aussagen begründet er häufig mit Zitaten aus der hebräischen Bibel. Auch was die katholische Kirche betrifft, bemüht Comenius sich in seinen Spätschriften darum, die Reformversuche einiger Päpste hervorzuheben. Es geht Comenius bei diesem Konzil um ein gegenseitiges Verstehen und Zusammenwirken aller Religionen.

 

Comenius und Luther?

Comenius lobt die deutschen und die schweizerischen Reformatoren des 16. Jh, weil sie nur die alleinige Autorität der Bibel anerkannten und sich damit von der päpstlichen Autorität der katholischen Kirche losgesagt haben. Gegen das Papsttum nimmt er bereits in einer seiner frühesten Schriften, nämlich „Die Rettung vor dem Antichristen“ von 1617 Stellung.

Doch auch die Kirchen der Reformation werden von Comenius kritisiert. Die jüdische Religion wertet Comenius als eine wichtige Quelle der Offenbarung Gottes. Antisemitische Äußerungen, wie sie Luther in seiner Schrift „Von den Juden und ihren Lügen“ von 1543 gemacht hat, finden sich bei Comenius nicht. Vor allem kritisiert Comenius Luthers Lehre von der Rechtfertigung. Luther, so Comenius, habe die Sündhaftigkeit des Menschen in den Mittelpunkt gestellt und die Erlösung des Menschen allein durch die Gnade Gottes vertreten, dabei aber die tätige Nachfolge des Menschen zu wenig betont und die Kirchenzucht außer Acht gelassen. Dabei sei die Mitwirkung des Menschen am Heil der Welt nicht thematisiert worden, sondern allein das Heil des Individuums. Comenius betont, dass „eine Kenntnis Christi ohne Nachfolge Christi und ein Sich-im-Evangelium-Freuen ohne Bewahren des Gesetzes der Liebe, zu dem doch das Evangelium führt, nichts ist, nur ein böser Missbrauch des Evangeliums und eine Verführung und Täuschung.“21 Außerdem habe Luther an der Lehre von der Erbsünde festgehalten und die Vernunft, die für eine Verbesserung der menschlichen Verhältnisse unerlässlich sei, radikal abgelehnt.

Für Comenius offenbart sich die göttliche Weltordnung dagegen in drei Bereichen: einmal in der Natur, die Gottes Schöpfung ist, dann in der Bibel und schließlich in der Vernunft, die den Menschen durch die Bildung befähigt, an der Verbesserung der Welt als Gottes Mitarbeiter mit zu wirken. Für Comenius haben Bibel, Glaube und Vernunft denselben Spender, nämlich Gott selbst. Und das, was er spendet, kann für Comenius nicht gegeneinander stehen. „Gott hat sich nicht nur in der Bibel geoffenbart, er offenbart sich auch in seiner Schöpfung und im menschlichen Geist oder Gewissen … Die Erkenntnis Gottes ist aus allen drei Büchern möglich.“22 Im Gegensatz zu Luther, für den allein die Heilige Schrift zählt, ist Comenius der Überzeugung, dass die Bibel nicht angemessen zu begreifen ist, wenn nicht die anderen Bücher zu ihrem Verständnis herangezogen werden, die menschliche Vernunft und die Naturerfahrung. Ein Widerspruch kann sich hierbei für Comenius nicht auftun, da alle drei Bücher Gottes Handschrift tragen. Zur Vernunft sagt Comenius: Wer sich vom Wort Gottes leiten lässt, der erkennt die hohe Bedeutung der Vernunft. Für ihn besteht die Sünde nicht so sehr in einem sittlichen Versagen, sondern in der Passivität und Unfähigkeit des Menschen, sich als Gottes Ebenbild für eine Verbesserung der Welt einzusetzen.

 

Comenius und die Reformationen

An Calvin schätzt Comenius, dass für ihn die Kirchenzucht wichtig war. Aber er wirft Calvin die Neigung zur theologischen Spekulation vor und lehnt dessen Lehre von der Prädestination entschieden ab, wonach Gott die Menschen in eine Gruppe von Auserwählten und Nicht-Auserwählten geteilt habe. Diese Entscheidung, so Calvin, habe Gott schon vor der Erschaffung der Welt getroffen. Der Mensch selber könne diese Entscheidung Gottes durch sein Verhalten nicht beeinflussen. Dagegen war Comenius der Überzeugung, dass der Mensch als ein Ebenbild Gottes aufgerufen ist, sich aktiv an der Besserung der Welt zu beteiligen. Im Unterschied zu Comenius betont der Calvinismus vor allem die Sündhaftigkeit des Menschen. Der reformierte Heidelberger Katechismus von 1563 spricht vom Elend des sündigen Menschen, der „von Natur aus geneigt ist, Gott und seinen Nächsten zu hassen.“ (Frage 5)

Die bisherigen Reformationen vergleicht Comenius mit der Heilung eines Blinden, wie sie Mk. 8,22-26 überliefert ist. Jesus legt seine Hand auf die Augen des Blinden und, als er ihn fragt, ob er etwas sähe, antwortet der Blinde: „Ich sehe die Menschen, als seien sie Bäume.“ Erst nachdem Jesus ihm noch einmal über die Augen streicht, kann der Blinde klar sehen. Die bisherigen Reformationen entsprechen für Comenius Jesu erstem und unvollkommenem Versuch der Heilung. Die vollkommene und universale Reformation haben die Reformatoren für ihn aber noch nicht im Blick ­gehabt.23

Für eine solche grundlegende Reformation beruft sich Comenius auf Jesaja. Er zitiert Jes. 1,16f: „Waschet, reinigt euch, tut euer böses Wesen von meinen Augen, lasst ab vom Bösen, lernet Gutes tun, trachtet nach dem Recht, helft dem Unterdrückten, schaffet dem Waisen Recht, nehmet euch der Witwen an.“ Comenius kommentiert: „In diesen Versen werden die Taten betont, nicht das Wissen und die Erkenntnis. Wir sollen uns nicht nur vom Bösen frei machen, sondern auch das Gute lernen. Wir sind für ein aktives Leben ge­boren.“24

Comenius litt an der Intoleranz der christlichen Konfessionen. Er suchte nach Wegen der Zusammenarbeit und bemühte sich, das Gemeinsame aller Christen zu suchen. Seiner Meinung nach haben alle Kirchen ein gemeinsames Gut: die Heilige Schrift, das Glaubensbekenntnis, die Zehn Gebote und das Vaterunser. Wo diese wesentlichen Fundamente da sind, hält er eine Zusammenarbeit trotz aller konfessionellen Unterschiede für möglich.

Man kann fragen, ob Comenius mit den Grundsätzen der Brüderunität noch übereinstimmte. Comenius lehnte beispielsweise den Kriegsdienst ab, den die Unität nach langem Ringen wieder befürwortet hatte. Von Teilen der Brüderunität wurde ihm vorgeworfen, sich zu sehr der katholischen Theologie von der Erlangung der Seligkeit durch gute Werke angenähert zu haben. Viele Mitglieder konnten ihm auch nicht folgen mit seinem Engagement für eine Weltreform und seinem Glauben an ein tausendjähriges Friedensreich nach der Wiederkunft Christi. Man kann die Frage stellen, ob Comenius im Vergleich mit der 1. Reformation der Brüderkirche im 15. Jh. und der deutsch-schweizerischen 2. Reformation im 16. Jh. als Repräsentant einer 3. Reformation angesehen werden kann?

 

Die Bedeutung des Comenius für unsere Gegenwart

Das unvollendet gebliebene monumentale Hauptwerk von Comenius, die „Allgemeine Beratung zur Verbesserung der menschlichen Dinge“ (De rerum humanarum emendatione consultatio catholica) enthält den Kern von Comeniusʼ Wirken und Denken: Die Arbeit an einer neuen Reformation, einer umfassenden Weltreform, die das goldene Zeitalter bzw. den endzeitlichen Glückszustand bringen sollte. Comenius war ein Weltverbesserer, sein Lebensziel: Die konkrete Utopie einer besseren Welt. Und das in der Zeit des Dreißigjährigen Krieges, der für Comenius – unter Einschluss des Schwedisch-Polnischen Krieges – sogar 40 Jahre andauerte, so dass nahezu die gesamte aktiv berufstätige Erwachsenenzeit des 26- bis 64jährigen von Kriegen und persönlichen Schicksalsschlägen bestimmt wurde.

Comenius hat bereits vor über 400 Jahren Vorschläge für eine bessere Welt gemacht hat, die heute noch genauso aktuell sind wie damals. Comenius war ein Visionär, der zu einem Vorkämpfer für die allgemeinen Menschrechte wurde, der mit seinem Plädoyer für die Gleichheit aller Menschen die Würde jedes einzelnen Menschen begründete. Er entwickelt bereits Jahrhunderte vor dem Theologen Hans Küng den Gedanken eines Weltethos, das die Gemeinsamkeiten der Weltreligionen thematisiert. Comenius ist für die Notwendigkeit internationaler Zusammenarbeit eingetreten, wie sie heute mit der UNO, dem Ökumenischen Konzil der Kirchen, der Charta der Menschenrechte, und dem Internationalen Gerichtshof angestrebt wird. Die Quelle seiner Visionen war die Theologie. Er ging aus vom Glauben, dass die Welt Gott gehört und Gott uns als seine Mitarbeiter braucht, wenn es um die Verbesserung der Welt geht. Die Aufgabe, die sich uns allen stellt, hat der erste Präsident der Tschechoslowakei, Tomas G. Masaryk, der von der katholischen Kirche zur Brüderunität übertrat, mit den Worten des Comenius beschrieben: „Der Mensch soll am Werk Gottes mitarbeiten.“25

 

Anmerkungen

1 J.A. Comenius: Opera didacta omnia, Bd. 2, Teil III, 1957, 380.

2 J.A. Comenius: Opera didacta omnia, a.a.O., 380f.

3 J.A. Comenius: Unum necssarium. Das einzig Notwendige. Hamburg 1964, 148.

4 J.A. Comenius: Unum necessarium, a.a.O., 151.

5 J.A. Comenius: Das Labyrinth der Welt und das Paradies des Herzens, 1970, 136.

6 J.A. Comenius: Das Labyrinth der Welt, a.a.O., 221.

7 J.A. Comenius: Das Labyrinth der Welt, a.a.O., 215.

8 J.A. Comenius: Vorspiele. Düsseldorf 1963, 135.

9 J.A. Comenius: Pampaedia – Allerziehung. Frankfurt/M. 1991, 30.

10  J.A. Comenius: Große Didaktik. Stuttgart 2007, 40.

11 J.A. Comenius: Große Didaktik, a.a.O., 43.

12 J.A. Comenius: Panergersia. Vorrede, a.a.O., 108.

13 J.A. Comenius: Große Didaktik, a.a.O., 57.

14 J.A. Comenius: Emblem auf der Titelseite der Schrift „Orbis sensualim pictus“…

15 J.A. Comenius: Allgemeine Beratung über die Verbesserung der menschlichen Dinge. Berlin 1970, 344.

16 J.A. Comenius: Briefe an den Himmel. In: Ausgewählte Werke, Bd. II/I, 72.

17 Veit-Jakobus Dieterich: Johann Amos Comenius. Stuttgart 2003, 163.

18 K. Schaller: Die Pädagogik der Mahnrufe des Elias, 1978, 109.

19 J.A. Comenius: Der Engel des Friedens. Ausgewählte Schriften, Bd. III, 356f.

20 J.A. Comenius: Prodromus Pansophiae, a.a.O., 89.

21 J.A. Comenius: Vermächtnis der sterbenden Mutter der Brüderunität. Neukirchen1958, 95.

22 V.-J. Dieterich: Johann Amos Comenius, a.a.O., 46f.

23 Daniel A. Neval: An Approach in the Legacy of Comenius‘ Theology. In: brrp3/neval.pdf, S. 1.

24 D.A. Neval: An Approach in the Legacy of Comenius‘ Theology, a.a.O., S. 2.

25 Ottokar A. Funda: Der Gedanke des Synergismus in der Theologie von J.A. Comenius. In: Comenius als Theologe. Hrsg. von V.J. Dvorak und J.B. Lassek. Prag 1998, 159.

 

Über die Autorin / den Autor:

Pfarrer i.R. Dr. Friedrich Goedeking, Jahrgang 1939, Studium der Evang. Theologie und Germanistik, Dissertation über den reformierten Politologen Johann Althusius, Religionspädagoge an Gymnasien, Leiter der Evang. Begegnungsstätte Hohenwart in Baden, Auslandspfarrer für Russlanddeutsche auf der Krim und der Südukraine.

Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 1/2023

Kommentieren Sie diesen Artikel
Pflichtfelder sind mit * markiert.
Ihre E-Mail Adresse wird nicht veröffentlicht.
Spamschutz: dieses Feld bitte nicht ausfüllen.