Heutzutage droht die einstmals in christlichem Geist begründete Diakonie zwischen Professionalisierung und Profillosigkeit zerrieben zu werden. Volker Schoßwald stellt ihrer (noch) christlichen Prägung jedenfalls ein mageres Zeugnis aus und erinnert an einen der Gründerväter evangelischer Diakonie im 19. Jahrhundert: Wilhelm Löhe, von dem es – bei aller Kritik – manches zu lernen gäbe.

 

Wilhelm Löhe – eine kurze Hinführung

Was ist bekannter: das Zitat oder die Person? „Mein Lohn ist, dass ich dienen darf.“ – Insider schrieben die Sentenz Wilhelm Löhe zu. Angesichts der emanzipatorischen Bewegungen bei diakonischen Arbeitnehmern klang es zunehmend ironisch, obwohl der historische Kontext durchaus emanzipatorische Komponenten enthielt.1 Der zunehmenden Ironie entsprach eine abnehmende Zahl der aktiven Diakonissen. Panta rhei oder tempora mutantur, et nos in illis? Vor 150 Jahren starb Johann Konrad Wilhelm Löhe. Ein Anlass, sein Werk und seine Anliegen noch einmal anzuschauen. Zitierfähig sind vermutlich eher die Anmerkungen.

Ein Rückblick sollte historisch angemessen erfolgen. Wilhelm Löhes Denken, Reden, Handeln mit den Maßstäben des 21. Jh. in der Bundesrepublik Deutschland zu messen, ist unredlich. Sonst müssten wir uns mit den Maßstäben des 22. Jh. in der dann herrschenden Kultur messen. Da sähen wir wohl alt aus. Wir haben genauso wenig die für alle Zeiten und Orte gültigen Maßstäbe entwickelt wie die deutsche High-Society um 1850. Sehen wir Löhe im Kontext seiner Zeit, die sich dank der „Aufklärung“ für fortgeschritten hielt. Darwin war übrigens nur ein Jahr jünger als Löhe.

Löhe, geboren 1808 und gestorben 1872, ist ein hundertprozentiges Kind des 19. Jh. Keine Autos und Flugzeuge, keine Digitalisierung, keine Demokratie, keine Gleichberechtigung der Geschlechter, kein … Dafür gab es reichhaltig katholisch, evangelisch, lutherisch, reformiert, uniert und sonst fast nichts – außer einer gescheiterten Revolution. Löhe, der Mann aus Fürth, entwickelte sich vom Evangelischen zum Lutherischen und engagierte sich so, dass sich die bayerische Landeskirche bis heute „evangelisch-lutherisch“ nennt. Dabei nahm er die katholischen barmherzigen Schwestern als Konkurrenz wahr, gegen die man gewinnen müsse, und vermied als Verbündeten Fliedner2, weil der uniert war.

Johann Hinrich Wichern war Jahrgänger von Löhe. Die beiden hatten Kontakt und schienen gegenseitig das Werk mehr zu achten als ihre theologischen Ansichten. Die Konfession spielte bei Löhe die abgrenzende Rolle. Wichern war nicht lutherisch – so klassifizierte ihn Löhe als einen „Abgefallenen“, dessen Werk mangels der Verbindung zum „Sakrament“ zum Scheitern verurteilt war.

Was für ein Kontrast zu heute! Betrachten wir die Neuendettelsauer Institutionen, Einrichtungen wie auch die Nürnberger Wilhelm-Löhe-Schule, Nachfolgerin der „Höheren Töchter Schule“3: Wenn man bei den Mitarbeitenden 2022 auf ihren religiösen oder gar konfessionellen Hintergrund achten würde, könnte man alles dicht machen. Selbst evangelisch-lutherische Mitarbeitende kennen oft ihr lutherisches Etikett nicht. Evangelisch reicht – was immer das heißen könnte. Im Prinzip wird heutzutage bei den Einrichtungen von Neuendettelsau jeder genommen, weil es der Sache dient. Dabei liegt für Löhe alles an Personen und nicht an Ge­bäuden.4

Löhe hörte im Studium in Berlin Hegel und Schleiermacher5, aber er verstand Hegel nicht. Auch mit Schleiermacher tat er sich schwer.6 Zurück im provinziellen Erlangen wandte er sich zunehmend dem Luthertum zu. Er fand die Vertiefung ausgerechnet dort, wo er herkam. Das macht das Ergebnis fragwürdig. Natürlich verstand er dabei seinen eigenen Kontext besser und hatte manches Aha-Erlebnis. Aber seine Mäuerchen oder Mauern schützten vor allem den von Selbstvorwürfen Geplagten.

Angesichts des Erdballs, des Sonnensystems oder gar des Universums ist es eine suspekte Gnade, genau im richtigen Umfeld aufzuwachsen. Die Fragwürdigkeit zeigt sich bereits bei Jesus. Vermutlich lernte dieser spätestens im Kontakt mit der Syrophönizierin, dem „kanaanäischen Weib“, die Wirkung seiner Prägung auf seine Botschaft zu hinterfragen: Warum sollte ausgerechnet Israel der Mittelpunkt des Universums sein? Wegen der Himmelsleiter von Jakob, die oft als Achse zwischen Himmel und Erde interpretiert wird? Für uns stellt sich die Frage: Warum sollte ausgerechnet Jesus der Mittelpunkt des Universums sein? Was erhebt ihn über Buddha und welche Rolle spielte er bei den Dinosauriern? Und was bedeuten global Wittenberg und Neuendettelsau? Ich persönlich habe dafür, dass Jesus für mich Gott ist, verankerte Gründe, aber dass ich überhaupt von Jesus so intensiv hören und alles vertiefen konnte, liegt an meinem persönlichen Kontext, nicht nur an meinen mystischen Begegnungen. Wie wäre mir Jesus begegnet, wenn ich 1955 in Tarsus geboren wäre? Kleopatra und Marc Anton7 hätten ebenso wenig wie Saulus verhindert, dass ich Moslem geworden wäre. Nur eine Reise nach Damaskus hätte meine islamische Karriere durchbrechen können. Wenn also ein Fürther das Luthertum für den Zenit der Religion des Universums hält, macht mich das eher misstrauisch.

 

Emanzipation durch Diakonie?

Doch es geht mir nicht um negative Kritik. Die sozialen Erfolge Löhes imponieren. Sie könnten ein Impuls sein, wie die Kirche sich weiterentwickelt. Löhes Anliegen, für Frauen eine sinnerfüllende Beschäftigung zu finden, enthielt durchaus emanzipatorische Faktoren.

Als ich in den 1990er Jahren in Tansania den Kilimanjaro bestieg, wohnte ich bei einheimischen Dia­konis­sen,8 selbstbewussten jungen Afrikanerinnen, die sich in soziale und medizinische Arbeitsfelder begeben hatten. In den Gesprächen verstand ich, was für mich auf meinem bundesrepublikanischen Hintergrund befremdlich war: Im ostafrikanischen Kontext war der Weg zur Diakonisse ein Weg der Befreiung. Die Bindungen, die Fesselungen für Frauen im üblichen sozialen Umfeld von Ostafrika ließen im Leben als Diakonisse die Möglichkeit erkennen, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Anscheinend war ich nach meinem Marsch zum Gipfel des höchsten Berges von Afrika an seinem Fuße ins 19. Jh. in Deutschland zurückgekehrt, trotz Ford Transit und Biogas-Anlage.

„Wenn wir Seelsorger auf unsere Dörfer hinauskommen, die Kranken zu besuchen, so finden wir allenthalben solche weiblichen Personen, welche sich der Kranken und Elenden mehr als andere annehmen, weil sie durch eine in ihnen liegende Gabe dazu angereizt werden. Sie folgen dem natürlichen Drang. Was ihnen fehlt ist die Ausbildung der Gabe. Viele dieser Frauen würden biblische Diaconissen sein, wenn man sich ihrer annehmen und ihnen die Ausbildung geben möchte. – Ausbildung zum Dienst der leidenden Menschheit begabter Frauen ist ein pium desiderium und je länger je mehr eine Forderung an die Kirche.“9 Diese Formulierung stammt von 1853, nicht aus dem 21. Jh. So und nicht anders sind sie zu bewerten. Wäre das kein Zitat, sondern repräsentierte es mein Weltbild, dann müsste man heftig darüber diskutieren. Aber wir sind in der Mitte des 19. Jh.! Löhe entdeckt professionelle Chancen für Frauen.

Schon am 9. Mai 1854 eröffnete Löhe den ersten Diakonissenausbildungskurs. Für die Provinz konzipiert spielte die „Anstalt“ bei den „Mutterhäusern“ des Kaiserswerther Verbandes (Fliedner) bald schon deutschlandweit eine wichtige Rolle. Die Gruppe der Auszubildenden und in die Arbeit gehenden Frauen wuchs: 1858 noch 57 Diakonissen, 1868 bereits 88. Seit 1857 trugen sie den Titel „Schwester“, seit 1863 kleideten sie sich in Tracht. Dazu kamen Strukturen wie Alters- und Krankenversorgung für die Diakonissen. In den 1870er Jahren wurde unter dem Nachfolger Löhes, Friedrich Meyer, die geistliche Seite der Gemeinschaft stärker betont. Ebenso entstanden in dieser Zeit mehrere Filialen des Mutterhauses.

Die Arbeitsgebiete wurden Schritt für Schritt ausgeweitet, auch noch nach Löhes Tod. So wurde 1888 auf dem Simonshof bei Schweinfurt eine Arbeiterkolonie gegründet. Diese Aktivität orientierte sich an „Arbeit statt Almosen“, wie es Friedrich Bodelschwingh (1831-1910) propagierte.10 Sie war auch 100 Jahre später noch aktuell.11

Löhes Werk expandierte, neben den Spitälern und Altersheimen kamen Anfang des 20. Jh. noch eine Schule für Lehrerinnenausbildung, eine Höhere Töchterschule12 und eine soziale Frauenschule dazu. Anfang der 1930er Jahre, also nach 100 Jahren, hatte Neuendettelsau 1300 Diakonissen. Ein fulminanter Erfolg! Die älteren unter uns haben diese Diakonissen noch als selbstverständliche Teile des kirchlichen Lebens mitbekommen. Mir imponiert diese Geschichte!

Der Neuendettelsauer Ortspfarrer, der eine Erneuerung der Kirche anstrebte, forderte, dass die diakonische Arbeit im Raum der Kirche stattzufinden habe. Innere Mission sollte dazu beitragen, Kirche zu bilden und nicht nur Träger der sozialen Arbeit der Kirche sein. Der norddeutsche Wichern favorisierte dagegen die Bildung von Vereinen, die zwar von der jeweiligen Landeskirche und Konfession geprägt sein, aber nur lose mit der verfassten Kirche in Verbindung stehen sollten.

 

Die Umstände schreien nach … Diakonie?

In Berlin studieren und dann auf dem Land als Pfarrer die dortigen Nöte sehen, zeugt von Sensibilität. Die sozialen Bewegungen nahmen in den Städten ihren Anfang, wo das Elend augenfälliger war. Aber weshalb soll man nicht mit geschärftem Auge auch in die ländlichen Gefilde blicken? Ich hörte von so manchem bayerischen Pfarrer, bei ihm auf dem Land sei das Leben besser (im Sinne von „in Ordnung“) als in der Stadt.13 Und ich hörte bei den Begegnungen mit seinen Gemeindegliedern aufmerksam ihre Geschichten, in denen das Elend nur versteckter ablief, aber ebenso hart empfunden wurde, einschließlich der seelischen Probleme, der leidvollen psychischen Störungen.

Als Löhe auf seiner Stelle in Neuendettelsau14 die sozialen Arbeitsfelder wahrnahm und anging, stand für ihn und die Seinen die religiöse Erneuerung im Vordergrund. Das karitative Handeln sollte dazu dienen, Menschen zum Glauben zurückzubringen, aus heutiger Sicht eher evangelistisch als missionarisch. Heute meinen nicht wenige Kirchenvertreter in Führungspositionen, unsere Diakonie sei unser Aushängeschild. In den 1980ern und 1990ern ließ die bayerische Landeskirche, geführt vom Leitbild „Manager“, sich von dem Unternehmensberatungsinstitut McKinsey ihre Lage analysieren. Schließlich präsentierte das Institut als Ergebnis, die Erwartung der Bevölkerung der Kirche gegenüber sei eine spezifisch geistliche. Die Diakonie spielte eine zweitrangige Rolle, fast eine Nebenrolle. Doch der (handlungsorientierten) Kirchenleitung waren ihre Wunschbilder wichtiger als die professionellen Untersuchungsergebnisse. Sie setzen nach wie vor auf die Diakonie, weil die etwas tut, was vorzeigbar ist. Freilich können in einem Sozialstaat15 diese Aufgaben auch profane Träger wahrnehmen.

Es ist nicht einfach, auf dem Tummelfeld sozialer Organisationen und Einrichtungen evangelisches Profil zu bewahren und die Unkosten mit den Kassen abzurechnen. Das Marktsegment wurde von gewinnorientierten Unternehmen erobert, wird ausgebeutet und zu einem hervorragenden Aktionsfeld des antichristlichen Neoliberalismus. Wenn Menschen christliche Zuwendung erwarten, sich aber bei den preisgünstigsten einkaufen, geht die Diakonie unter oder sie passt sich an. Dann wird „Zuwendung“ abgerechnet. Ich erinnere an den Amtsantritt des Bundeskanzlers Kohl unter Mithilfe der FDP. Sie hängten über Deutschland das Leitbild „Leistung muss sich wieder lohnen“. „Lohnen“ war finanziell gemeint. „Tu etwas Gutes und sahne dabei ab!“ Dieses gesellschaftliche Paradigma enthielt eine Absage an christliche Motive wie der Hilfe aus Barmherzigkeit willen. Das Konzept der Diakonissen war durch die gesellschaftliche Entwicklung zum Sterben verurteilt. Wer zu Neuendettelsau und dem Mutterhaus Kontakt hatte, konnte dies merken.

 

Erst kommt das Fressen …“?

Zurück zu Löhe: Die Wohltätigkeit sollte den Menschen die Rückkehr zum Evangelium ermöglichen. Er nahm quasi den Bibel-Menschen-und-Kirchenkenner Bertolt Brecht mit der „Dreigroschenoper“ vorweg: „Erst kommt das Fressen, dann die Moral.“ Nur wer sich nicht um seine Nöte sorgen muss, kann das Evangelium verstehen. Die materiellen Nöte dechiffrierte Löhe nicht als gottgegeben oder vorherbestimmt (prädestiniert), sondern als fehlende Perspektiven und Arbeitsmöglichkeiten. Immerhin war er ein Zeitgenosse des nur zehn Jahre jüngeren Karl Marx16.

Im selben Jahr wie Löhe geboren entwickelte sich Johann Hinrich Wichern zur Leitfigur der sozialen Bewegung innerhalb der evangelischen Kirche mit dem Stichwort „Innere Mission“. Beim Kirchentag in Wittenberg im September 1848, quasi im „Nach-März“ sprang Wichern auf die Bühne und proklamierte Leitlinien für die „Innere Mission“. Noch im selben Jahr gründete sich der „Centralausschuß für Innere Mission“. Das war der Durchbruch in revolutionären Zeiten.17

Löhe bezeichnete Wicherns Plan als verfänglich. Denn zwar stimme der Inhalt, nicht aber die theologische Begründung. Das dürfte einem in Not Geratenen ziemlich egal gewesen sein. Allerdings betonte Löhe nach der Besichtigung des Rauen Hauses 1848, dass die Linderung der Not unerlässlich sei. Die Werke Wicherns seien wichtig, doch der Plan sei falsch.18

Wichern kam eben nicht vom Sakrament, wohingegen Löhe erklärt: „Innere Mission ist nicht möglich, wo der Heilige Geist durchs Wort nicht vorgearbeitet hat. Wenn Innere Mission pur in äußerer Wohltätigkeit aufginge und zu einer Mission des Menschentums würde, dann nur könnte es anders scheinen“.19 Man überlege, wie heutzutage die diakonischen Institutionen arbeiten …

 

Indianer? Von der Inneren zur Äußeren Mission

Eine zweite Seite Löhes: „Die neue Welt“. Von Neuendettelsau nach Nordamerika. Deutsche Auswanderer! Sie ziehen mit ihrer Religion durch Nordamerika.20 Es war die Zeit des europäischen Landraubes, mit wenig Unrechtsbewusstsein in den Herzen der immigrierten Christen, Trump-mäßig21. Bei Löhe spielen auch die Indianer eine Rolle. Sie sollen missioniert werden, da die christliche Religion die überlegene ist, trotz der zugegebenen Missstände. Bei Löhe sind die Weißen die Missionare, die freilich geistlich gestärkt werden müssen. Die beste Religion ist lutherisch. Löhe lernte jedoch mit den Jahren dazu und sah seine christlichen „Gegner“ (katholisch, reformiert, vor allem: uniert) zunehmend in weicherem Licht.

Für Löhe ist der Auftrag in Nordamerika zugleich „Innere“ wie „Äußere Mission“. Die Auswanderer sollen gestärkt werden, die Indianer den Zugang zu Christus finden. Tatsächlich bildeten sich indigene christliche Gemeinschaften. Sehr gut durchdacht ist Löhes Ansatz, dass die Auswanderer gleich als Gemeinschaft losziehen sollen, wie das „wandernde Gottesvolk“. Sozialpsychologisch dächte man an die tragende Kraft der Gemeinschaft.

Anderseits: Neuendettelsau war tiefste Provinz.22 Kann die Mission von dort aus weltoffen sein? Aber wie war das mit den anderen Auswanderern?23 Es ist bis heute so: Denken wir an die türkische „Community“ in Deutschland. Die meisten kamen aus der (asiatischen) Provinz, weil sie der Perspektivlosigkeit entkommen wollten. Aber angekommen in der Fremde, wurden sie oft nicht einfach „Weltbürger“, sondern blieben ihrer Weltsicht verbunden, einschließlich des Frauenbildes. Dass der „Erdogan-Wähleranteil“ in der BRD höher war als in der Türkei, ist bemerkenswert. Man darf also von Löhes Emigrantentruppen nicht erwarten, dass sie ihre Provinzialität ablegten, weil sie den Kontinent verließen. Zwischen migrierenden Franken, Anatoliern, Chinesen, Indios, Tutus, Aborigines und anderen Auswanderern24 wird da kein messbarer Provinzialitätsunterschied sein.

Löhe war erfolgreich. Es gab Auswanderergemeinden, die sich christlich orientierten. Und es bildeten sich Christengemeinden unter den „Indianern“, denen die von Löhe vorbereiteten Auswanderer missionarische Impulse gaben. Freilich ist ein lutherischer Missionsinput nicht per se ein christlicher, sondern kulturell eingefärbt.

 

Kritik an der Kritik an Löhe

In der Wirkungsgeschichte der Großen evangelischen Sozialreformer im 19. Jh., allen voran Bodelschwingh, Wichern und Löhe, stößt man bald auf Abwege. Das gilt etwa für Antisemitismus oder die partielle Nähe zu den Nazis. Auch das Thema „Euthanasie“ spielt für Neuendettelsau eine fatale Rolle. Wir können uns fragen, ob die in der Diakonie Arbeitenden ihr christliches Grundanliegen zu Gänze erfasst haben.25 Aber das sind Scylla und Charybdis: Früher negierte man die dunkle Seite und ließ das Helle strahlen, heute wird es oft genug umgekehrt praktiziert: Wer das Versagen im Nationalsozialismus thematisiert, nivelliert dabei leicht die sozialen Erfolge der „Anstalt“.

Es bleibt die Frage: Wenn man diese Bodelschwinghs und Co mit ihren Werken aus der Geschichte eliminiert, wo sind dann die Personen, die solche Werke ohne Schattenseiten geschaffen haben. Ich wüsste nicht, wen ich benennen könnte. Wenn wir sehen, wie vielen Menschen de facto geholfen wurde, ist es keine Kleinigkeit, dass es das Raue Haus, Bethel und die Neuendettelsauer Einrichtungen gab und gibt. Ähnlich gehe ich auch mit den Anfragen an die Integrität von Martin Luther King und Albert Schweitzer um. Wir müssen realisieren, dass die Kritiker nicht das schaffen, was diese Menschen geschafft haben.

Das macht Kritik nicht überflüssig. Es gilt ja nicht, die Vergangenheit zu retuschieren, aber es relativiert die Bedeutung der kritischen Anfragen und die moralische Kompetenz der mitunter selbstgerechten Fragesteller. Kritik ist ganz wichtig. Es ist eine Stärke unserer deutschen gesellschaftlichen Situation26. Aber es gibt eben auch wohlfeile Kritik und so muss man die Frage stellen: Halten die Kritiker ihren eigenen Kriterien stand? Die Frage gilt auch, wenn wir selbst Kritik äußeren.

 

Etwas zum Mitnehmen?

Natürlich sind diese Zeilen keine historische „Würdigung“ von Löhe. Dazu ist diese Darstellung zu fragmentarisch. Das müssten informiertere Fachleute machen. Aber ich kann mein Motiv benennen: Mich interessieren Menschen, die etwas schaffen. Bei allem Zeitgebundenen von Löhe imponiert, dass er zielstrebig mit Aufgaben umging. Er realisierte, dass es Missstände gab, gegen die man als Christ etwas tun müsste und könnte. Er ersetzte das beliebte „man“ durch „ich, Wilhelm Löhe“ und das ebenso wohlfeile „man müsste“ durch „ich muss“. Er machte sich ein Bild von den Problemen, er legte sich ein Konzept zurecht, wie man mit den sozialen Verwerfungen speziell in seinem konkreten Kontext „Neuendettelsau“ umgehen könnte und er brachte sogar zwei Problemfelder zusammen, so dass sie sich gegenseitig ein Stück weit erledigten: Da waren einerseits die jungen Frauen, denen eine sinnvolle Tätigkeit zu fehlen schien, andererseits Familien, in denen Hilfe benötigt wurde. Sein großer Akt war nicht, dass er die beiden Gruppen zusammenbrachte, sondern dass er dies sachgerecht tat, indem er dafür sorgte, dass die jungen Frauen sich Kompetenzen aneigneten. Die Tracht, die sie bekamen, gab ihnen zugleich Würde und Identifikation. Ihre Arbeit vor Ort führte zudem dazu, dass es hieß: Das ist unsere Schwester. Die Ortsgemeinde als christliche Gemeinschaft bekam so ein weiteres Symbol. Der Pfarrer im Talar und die Schwester in der Tracht stellten Identifikationen her.

Die „Diakonissen“ sind ein auslaufendes Modell, etwas Museales, dabei uns Pfarrern vorangehend. Aber das betrifft nur die Fakten. Die Bedürfnisse in den Gemeinden sind andere. Als Pfarrer vor Ort erleben wir immer wieder, dass solche Schwestern angefragt werden – aber es gibt sie eben nicht mehr. In einer Zeit, die an grassierendem Egoismus erkrankt ist27, sollte dies niemanden verwundern. Trotzdem bleibt der evangelischen Kirche die Frage nach dem diakonischen Auftrag.

In der Apg. ist es ein innergemeindlicher Auftrag. Das muss man sich immer wieder klarmachen. Die unumgängliche Professionalisierung diakonischer Arbeit auch im Bereich des Managements hat dazu geführt, dass es „echte“ Diakonie als Institution nicht mehr gibt. Ein gemeinsames christliches Fundament ist nicht mehr vorhanden. Das lässt sich auch nicht rekonstruieren oder reparieren, es sei denn, die Kirche bricht total zusammen, hat keine Strukturen mehr und muss sich völlig neu bilden durch zwischenmenschliche Bindungen. Doch auch wenn das geschähe, wären Diakone und Diakonissen im klassischen Sinne nicht da, weil den wenigen Gemeindegliedern, die sich träfen, die Kompetenzen fehlen würden. Die Vorstellungen, wie sie etwa Johann Valentin Andreä in seiner „Christianopolis“ entwickelte, wirken zwar verführerisch, aber die vielfältigen und gut analysierten Entwicklungen der letzten 400 Jahre lassen sein Konstrukt obsolet erscheinen.

Die neue Diakonie in unserem Land wird de facto konfessionslos, religionslos sein. Mit diesem Gesicht ist sie aber keine Diakonie mehr, sondern eine soziale Einrichtung, mit einem zufällig kirchlichen Träger, der sich gefälligst inhaltlich nicht einzumischen hat, wenn er nicht als inkompetent gekennzeichnet werden will.

Es fehlen uns Leute wie Löhe, die gründen und aufbauen für die Kirche.

 

Literatur

Geiger, Erika: Wilhelm Löhe 1808-1872, 2003

Honold, Matthias: Der unbekannte Riese – Geschichte der Diakonie in Bayern, 2004

Löhe, Wilhelm: Bedenken über weibliche Diakonie, 1853

Löhe, Wilhelm: Tagebuch 1828 Berlin (Hg.: D. Blaufuß, G.Ph. Wolf), 2020

Ost, Werner: Wilhelm Löhe: sein Leben und sein Ringen um eine apostolische Kirche, 1992

 

Anmerkungen

1 Im Original: „Was will ich? Dienen will ich. – Wem will ich dienen? – Dem Herrn Jesu in Seinen Elenden und Armen. Und was ist mein Lohn? Ich diene weder um Lohn noch um Dank, sondern aus Dank und Liebe; mein Lohn ist, daß ich darf!“

2 Theodor Fliedner begründete 1833 in Kaiserswerth ein Asyl für entlassene weibliche Häftlinge, 1836 ein Krankenhaus und begann mit der Ausbildung von „evangelischen Pflegerinnen“.

3 Gegründet 1901 von Neuendettelsauer Diakonissen für evangelische Mädchen, das „lutherisch“ stillschweigend vorausgesetzt.

4 „Bedenken über weibliche Diakonie“, 1853, Punkt 12.

5 „Ich bin heute in vier Predigten gewesen … ist mir doch keine eigentlich zu Herzen gegangen.“ Tagebuch (4. Mai 1828), 46. Einer der Prediger war Schleiermacher.

6 Seine Themen waren eher seelischer Natur: „Nachdem ich gestern mein Tagebuch geschrieben, trat ich an mein Fenster und wollte beten. Und meinen Zwiespalt fühlend sprach ich zu mir selber: ob Du wohl nicht genugsam liebst, noch glaubest, ob Du wohl nicht einmal Deine Sünden recht fühlst und Buße thuest, so bist Du doch unseelig. … Beym Einschlafen kamen böse Gedanken …“ Tagebuch (29. Mai), 83. Das ist der überwiegende Stil des Tagesbuches, selbstquälerisch.

7 Die beiden trafen sich 41 v. Chr. dort.

8 Die tansanischen Schwestern in der Augsburger Tradition arbeiten heute als Gemeindehelferin, Sozialpädagogin, Lehrerin, Pfarrerin, Krankenschwester, Ergotherapeutin, Tiermedizinerin, Landwirtin, Verwaltungsfachfrau, Buchhändlerin. Sie betreiben Kindergärten, eine Ausbildungsstätte für Kindergärtnerinnen, betreuen AIDS-Waisen und begleiten Waisenkinder in ihren Ersatzfamilien.

9 „Bedenken über weibliche Diakonie“, 1853, Nr. 3.

10 Siehe Honold, 33.

11 Wer sozial aktiv ist, weiß, dass dieses Motto keine Lösung mehr ist, wenn die Lebensgeschichte oder seelische Verfassung einen Menschen völlig aus den Bahnen geworfen hat. So manche „Brüder der Landstraße“ suchen hier in den kalten Zeiten Obdach und wandern dann doch wieder weiter, trotz „Resozialisierungs“-Angeboten.

12 Heute die Wilhelm-Löhe-Schule in Nürnberg.

13 Wem die gendergerechte Sprache fehlt: Ich erlebte dies wirklich nur bei Männern (die sich auch als solche definierten).

14 Es wirkt so, als sei er dorthin „abgeschoben“ worden. Man sah ihn als eigensinnigen Quertreiber. Sein „Pietismus“ wirkte antiquiert.

15 Das ist Deutschland gerade auch dank der christlichen Konfessionen.

16 In Marxens 100. Todesjahr, zugleich Luthers 400. Geburtsjahr plakatierte die „DDR“ landesweit: „Die Lehre von Karl Marx ist allmächtig, weil sie wahr ist.“ Parallel renovierte sie die Vorzeigestraßen in Wittenberg für den willkommenen „Luther-Tourismus“. Das 500. Reformationsjubiläum entpuppte sich als Reinfall. Anscheinend haben die Kirchenfürsten noch immer nicht gecheckt, dass sie out sind. So, wie wir Ortspfarrer auch. Aber wir kriegen es eben hautnah zu spüren oder es landet als Statistik auf unserem Schreibtisch, seien es Austritt, weniger Taufen, Trauungen, Beerdigungen. Keine Frage: Wir sind kurz vor dem Ende. Und das lässt sich nicht mehr aufhalten, ebensowenig wie der Klimawandel. Ich nutze die mir verbliebenen Chancen, z.B. im Religionsunterreicht. Aber ich täusche mich nicht über die Ineffektivität bezüglich der verfassten Kirche. Anders ausgedrückt: Jesus wird uns überleben!

17 Von seiner Grunddisposition her scheint Löhe eher ein Revoluzzer gewesen zu sein, aber eben kein stromlinienförmiger. Schon 1821, bei seiner Konfirmation, wollte er nicht „Ja“ sagen und in seinem Berufsleben gründete er immer wieder Gruppen und Kreise, was gegen die gesetzlichen Bestimmungen war und weswegen er von staatlichen Behörden immer wieder ermahnt wurde, vor allem in Hinblick auf seine Jugendarbeit.

18 Ich stimme Löhes Haltung Wichern gegenüber nicht zu. Aber im Prinzip hat er in anderen Situationen Recht: Die Nationalsozialisten sorgten beispielsweise dafür, dass Arbeitersiedlungen (mit Nachbarschaftshilfe) gebaut wurden. Das war wirklich eine gute Sache – ich war in zweier solcher Siedlungen Pfarrer und kenne viele familiäre Geschichten. Aber der Nationalsozialismus als solcher hatte sich dem Teufel verschrieben. Das macht auch diese Aktionen ambivalent. Einer meiner Vorgänger durfte nach Kriegsende auch nicht mehr bayerischer Pfarrer bleiben. Dafür wurde er Theologieprofessor in der DDR. Das wäre Stoff nicht nur für einen Aufsatz, sondern für ein Buch. Immerhin blieb der bayerische Landesbischof, und der hat noch 1944 zu Führers Geburtstag läuten lassen.

19 Ost, 164.

20 Es war offen, ob sich Frankreich, England oder Deutschland als prägende Nation durchsetzen. Deutsch als Weltsprache, man stelle sich das vor. Die Neue Deutsche Welle als weltpolitischer Faktor. Aus der fränkischen Provinz in die nordamerikanischen Provinzen, Nena statt Madonna. Trump statt Trump.

21 Zu Trumps Großvater Fred siehe: Schoßwald, Volker: Dada ist wieder da, 101. Die Familie Trump ist die personifizierte Gewissenlosigkeit, was wiederum die Frage aufwirft, ob Gewissen erblich ist. Ich vermute, dass Defekte im Frontlappen des menschlichen Gehirns wirklich erblich sind. Fred Trump übervorteilte Konkurrenten, brach Gesetze und hatte damit Erfolg. Frechheit siegt.

22 Ich habe dort promoviert und besuchte das Predigerseminar. Ich weiß es. – Apropos Promotion: Dazu musste ich noch in das anerkannte Erlangen, als Letzter – nach mir „erlang“te Neuendettelsau den Status bayerischer Promovierfähiger.

23 1847 wanderte Löb Strauß (später Levi) aus dem fränkischen Buttenheim in die USA.

24 Das Ganze möge jeder individuell gendern.

25 Wenn ich mir anschaue, wie Paulus mit seiner Erkenntnis „vor Gott ist nicht … männlich noch weiblich“ umgegangen ist (und die Kirche der nächsten 2000 Jahre ebenfalls), dann fehlt mir das Verständnis.

26 Ich schreibe in den Tagen, in denen die Winterolympiade in China stattfindet. Ich schaue mir die Spiele nicht an, obwohl ich mich für einige Sportarten und Sportler interessiere. Aber mein Privatboykott hat keinen Einfluss auf den Lauf der Dinge. Dass ich ungestraft sagen darf „Hinter jede Medaille gehört eine Blutlache!“, ist das, wofür ich mein Land schätze.

27 Das „Egoismus-Virus“ erweist sich als resistenter denn Corona. Es setzte sich auch in der Pandemie durch, wie man an den krassen Corona-Geschäften diverser CDU/CSU-Politiker*innen sah. Die direkten Nachkommen von Kohl und Strauß beteiligten sich erfolgreich an der „Beschaffungskriminalität“, während Trump Corona kleinredete, sich aber pharmakologisch hervorragend versorgen ließ.

 

Über die Autorin / den Autor:

Pfarrer Dr. Volker Schoßwald, Jahrgang 1955, Theologiestudium in Erlangen und Tübingen, Promotion in Prakt. Theologie in Neuendettelsau, Pfarrer in Würzburg, Nürnberg und Schwabach, zuletzt Pfarrer in Nürnberg-Gostenhof; Veröffentlichungen: Monografien zu Albert Schweitzer, Dietrich Bonhoeffer und Martin Luther King.

Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 1/2023

Kommentieren Sie diesen Artikel
Pflichtfelder sind mit * markiert.
Ihre E-Mail Adresse wird nicht veröffentlicht.
Spamschutz: dieses Feld bitte nicht ausfüllen.