Am 31. Mai 1934 wurde in der Barmen-Gemarker Kirche von einer Bekenntnissynode der Bekennenden Kirche die kirchengeschichtlich so bedeutsame Barmer Theologische Erklärung verabschiedet. Doch nicht nur aus diesem Grund wurde das „fromme“ Wuppertal im „Dritten Reich“ zum zentralen Ort der Bekennenden Kirche. Dazu trugen nicht zuletzt die beiden mutigen reformierten Pfarrer Karl Immer und Paul Humburg bei, wie Matthias Hilbert schildert.

 

Jederzeit gerade durch!“

Karl Immanuel Immer wurde am 1. Mai 1888 in Manslagt geboren, wo sein Vater Carl Eduard Immer – ein ehemaliger Togomissionar – reformierter Pfarrer war. Manslagt liegt in der ostfriesischen Region Krummhörn. Und auch Karl Immanuel diente später mehrere Jahre in einer Krummhörner Kirchengemeinde, dem Warftendorf Rysum, als Pfarrer. Er erlebte, wie hier in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg eine Erweckung ausbrach. Schon damals zeichnete den noch jungen Gemeindepastor in seinem Urteil und Verhalten eine große Unabhängigkeit aus. Wie sein Schwager und Nachfolger im Amt Udo Smidt mitteilt, erfüllte es Karl Immer mit Sorge, „wenn er im Kreis seiner Amtsbrüder beobachten musste, wie man entweder steif und stur alles beim Alten lassen wollte; oder aber, wie man mit einer leicht liberalen Anpassung sich auf die ‚neue Zeit‘ einzustellen versuchte. Beide Richtungen waren ihm ver­däch­tig.“1 Wenn er aber einmal eine Sache als richtig und von Gott geboten erkannt hatte, dann ging es bei ihm unerschrocken nach dem Motto: „Alltied liekdör!“ („Jederzeit gerade durch!“)

Im Jahr 1927 folgte Immer einem Ruf der Evang.-Reformierten Gemeinde Barmen-Gemarke. Die rund 24.000 Mitglieder zählende Gemeinde erstreckte sich über die Stadtteile Oberbarmen und Mittelbarmen und war in verschiedene Bezirke aufgeteilt. Karl Immer übernahm als Pfarrer den 6. Gemeindebezirk, der im Ortsteil Klingelholl lag.

Obwohl Großstadtgemeinde, so war doch die gesamte Gemarker Kirchengemeinde für den frommen ostfriesischen Pastor wie geschaffen. Wie Robert Steiner, ein ausgewiesener Kenner der Gemarker Gemeindehistorie, schreibt, trug sie „seit dem Ende des 18. Jahrhunderts calvinisch-tersteegensches Gepräge, (…) Wenn man es in Gemarke mit einer Gemeinde zu tun hatte, die dem Pietismus Raum gönnte, so ist das nicht nur von der Geschichte her zu verstehen. Es bedeutet vielmehr auch, dass das Wort Gottes und nichts anderes die beherrschende Stellung in ihr hat. (…) Die sechs Gemarker Pastoren bildeten um 1930 einen Bruderkreis, der sehr einheitlich war und nichts anderes wollte, als das Wort Gottes den Menschen ihrer Zeit zu bezeugen. Wenn auch Unterschiede in ihrer Predigt und ihrem gesamten Dienst nicht zu verkennen waren, so wollten sie doch nichts anderes als Diener ihres Herrn Jesus Christus sein. Von den Ältesten der Gemeinde muss dasselbe gesagt werden. Sie waren zum großen Teil aus den der Gemeinde sehr nahe stehenden Christlichen Vereinen Junger Männer hervorgegangen. Nur solche Gemeindeglieder wurden zu Presbytern gewählt, die sich als gläubige Christen bewährt und ein Urteilsvermögen in geistlichen Fragen und Aufgaben hatten.“2 Die innere Geschlossenheit des Presbyteriums und des Pfarrkollegiums sollte sich gerade in der Zeit des Nationalsozialismus (1933-1945) als sehr wichtig erweisen.

 

Kraftvoll – leise – tapfer

Wie schon in Rysum, so fesselte Karl Immer auch in Gemarke die Gottesdienstbesucher durch die eindringliche Art seiner Verkündigung. Johannes Rau, der ebenfalls im Klingelholl aufwuchs und mit seinen Eltern zur Gemarker Gemeinde gehörte und als Kind Karl Immer persönlich sehr gut kannte, urteilt: „Karl Immer war glaubwürdig. Vollmacht lag nicht nur im bloßen rhetorischen Talent, sondern in der Übereinstimmung von Reden und Tun, in der unpathetischen Bereitschaft, einzustehen dafür, dass befreiender Glaube nicht entlässt in die Beliebigkeit des Tagesgeschehens, sondern ermutigt zum klaren und klärenden, also auch zum die Geister scheidenden Wort. Dies Wort war kraftvoll, aber es konnte leise sein. Tapfer war es immer.“3

Mit Beginn der Naziherrschaft in Deutschland (Anfang 1933) machte sich die „Glaubensbewegung Deutsche Christen“ (DC), die ein „artgemäßes“ und „positives“ Christentum propagierte und dabei von der neuen Regierung massiv unterstützt wurde, entschlossen daran, die Glaubensbasis der Evangelischen Kirche mit der nationalsozialistischen Ideologie zu vermengen, die kirchlichen Leitungsgremien personell zu unterwandern und überdies die neu formierte Reichskirche in Gestalt des neuen DC-Reichsbischofs Ludwig Müller dem Führerprinzip zu unterwerfen. Damit war für Karl Immer eine rote Linie überschritten. Erst recht hatte nach seiner Ansicht die neue „Glaubensbewegung“ auf einer Großkundgebung im Berliner Sportpalast am 13. November 1934 durch die berüchtigte Rede ihres Berliner DC-Gauobmanns Reinhold Krause „sich selbst entlarvt“. In ihr hatte Krause nicht nur behauptet: „Unsere Religion ist die Ehre der Nation im Sinne eines kämpfenden, heidnischen Christentums“, sondern auch „Befreiung von allem Undeutschen im Gottesdienst und im Bekenntnismäßigen, Befreiung vom Alten Testament und seiner jüdischen Lohnmoral“ gefordert.“

Mit aller Kraft stemmte sich Karl Immer gegen den Einfluss und die Irrlehren der Deutschen Christen und das Bestreben des totalitären Staates, die Evangelische Kirche „gleichzuschalten“. Anfang Herbst 1933 ruft er den „Coetus reformierter Prediger“ ins Leben, dessen Vorsitzender er wird. Schon bald schließen sich dem Coetus auch lutherische und unierte Pfarrer und Presbyter an. Die Bezeichnung „coetus“ (lat. für Zusammenkunft) war gewissermaßen ein Tarnname. Die regelmäßigen Coetustreffen und -schreiben hielten nicht nur die Gemeinschaft und Verbindung der Coetusmitglieder untereinander aufrecht, sondern sie riefen diese auch immer wieder zu Treue und Standfestigkeit im Kirchenkampf auf. Sie gewannen schon bald eine nicht zu unterschätzende Bedeutung in der Bekennenden Kirche.

 

Die Kirche als Hure des Staates“

Als Karl Immer davon erfährt, dass im Dezember 1933 der „Reichsbischof“ Ludwig Müller mit dem HJ-Führer Baldur von Schirach sich getroffen und die Eingliederung der evangelischen Jugendwerke in die Hitlerjugend vereinbart habe, lässt er in seiner Neujahrspredigt die vielen Gottesdienstbesucher wissen: „Wenn die Einordnung der christlichen Jugendverbände nicht rückgängig gemacht wird, können wir es bald aus dem Mund unserer Kinder hören, dass das Heil nicht in Jesus Christus, sondern in Blut und Rasse, in artgemäßem Glauben zu finden ist.“ Und dann folgt der Satz, der sich bald wie ein Lauffeuer in ganz Barmen verbreiten sollte: „Mit dieser Eingliederung“, so der unerschrockene Gottesmann, „ist die Kirche zur Hure des Staates geworden.“

Wegen seiner Aussagen wird Immer wenige Wochen später vom Konsistorium in den einstweiligen Ruhestand versetzt. Doch das Presbyterium der Gemeinde spricht ihrem Pastor das Vertrauen aus und beauftragt ihn, auch weiterhin seinen Dienst gemäß seinem Amtsgelübde und dem Wort Gottes auszuüben. Auch erklärt sie sich bereit, für seine Familie zu sorgen. Das Konsistorium selbst hob schließlich nach einem Jahr den Ruhestandsbescheid wieder auf.

Die offiziellen kirchlichen Synoden in Deutschland im Jahr 1933 hatten in der Regel unter dem unheilvollen Einfluss der Deutschen Christen gestanden. Auch aus diesem Grund lud Karl Immer zusammen mit anderen Gesinnungsgenossen zu einer Freien Reformierten Synode am 3. und 4. Januar 1934 nach Barmen-Gemarke ein. In der dort von Karl Barth verfassten Entschließung wird u.a. die Übernahme des staatlichen Arierparagrafen in die Kirche abgelehnt und überhaupt allen Versuchen einer Gleichschaltung der Kirche widersprochen. Laut Tagungsprotokoll forderte Karl Immer in einer Wortmeldung: „Die Verantwortung zwingt uns, klar zu sagen, wo die Totalität des Staates ihre Grenze hat. Dieser Kampf muss im Land der Reformation exemplarisch durchgekämpft werden.“

 

„… wo die Totalität des Staates ihre Grenze hat“

Am 22. April 1934 wurde im Ulmer Münster im Rahmen eines Bekenntnisgottesdienstes eine Erklärung veröffentlicht, die eine Bekenntnisgemeinschaft – bestehend aus dem von Martin Niemöller gegründeten Pfarrernotbund, freien evangelischen Synoden und den Bischöfen der „intakten“, noch nicht von den Deutschen Christen dominierten Landeskirchen – verantwortet hatte. Zwar stellte die nur äußerst knapp formulierte Erklärung noch kein eigenes Programm oder ein eigenes Bekenntnis dar. Da in ihr aber die zusammengekommene Bekenntnisgemeinschaft quasi einen Vertretungsanspruch der „rechtmäßigen evangelischen Kirche“ erhob, wurde sie richtungsweisend für das Selbstverständnis und das weitere Auftreten dieser innerkirchlichen Oppositionsbewegung und markierte damit den eigentlichen Beginn der „Bekennenden Kirche“.

Wenngleich ein in Ulm eingesetzter „Bruderrat“ eine reichsweite Bekenntnissynode vorbereiten sollte, so war es doch Karl Immer, der wesentlich an dem Zustandekommen dieser Synode und der Wahl des Tagungsortes – nämlich die reformierte Barmen-Gemarker Kiche – beteiligt war. Diese Barmer Bekenntnissynode fand vom 29. bis 31 Mai 1934 statt. An ihr nahmen BK-Synodale (Lutheraner, Reformierte, Unierte) aus 25 Landeskirchen bei. Sie besprachen und verabschiedeten eine „Theologische Erklärung“, die in ihren wesentlichen Inhalten zuvor von Karl Barth (unter Mitwirkung von Hans Asmussen und Thomas Breit) entworfen worden war. Gleich der erste Artikel der insgesamt sechs Thesen der „Theologischen Erklärung“ hatte es in sich und sorgte für klare Fronten, indem er unmissverständlich erklärte: „Jesus Christus, wie er uns in der Heiligen Schrift bezeugt wird, ist das eine Wort Gottes, das wir zu hören, dem wir im Leben und im Sterben zu vertrauen und zu gehorchen haben. Wir verwerfen die falsche Lehre, als könne und müsse die Kirche als Quelle ihrer Verkündigung außer und neben diesem einen Worte Gottes auch noch andere Ereignisse und Mächte, Gestalten und Wahrheiten als Gottes Offenbarung anerkennen.“

Karl Immer wurde auf der Barmer Bekenntnissynode in den Reichsbruderrat und von der Synode der Evang. Kirche der altpreußischen Union auch in deren Bruderrat gewählt. Er fand auf diesen Bruderratssitzungen nicht nur „meist ein gutes seelsorgerliches Wort, das weiter half“ (Robert Steiner), sondern er war es auch, der dafür Sorge trug, dass die Beschlüsse und Verlautbarungen der Bekennenden Kirche, aber auch die Mitteilungsschriften des Coetus gedruckt wurden und eine weite Verbreitung erfuhren. Kein Wunder, dass man Karl Immer schon bald als „Pressebischof“ der Bekennenden Kirche bezeichnet hat und das Gemarker Pfarrhaus als „unseres Herrgotts Kanzlei“. Doch dieser für die reibungslose Kommunikation der BK so immens wichtige Dienst war nicht nur zeitraubend, er war auch alles andere als ungefährlich. Oft mussten „kreative“ Wege und Lösungen gefunden werden, damit die Schriften überhaupt vervielfältigt und versandt werden konnten.

 

Weggefährten

Mit Karl Barth stand Karl Immer in einem besonders engen, ja fast schon freundschaftlich zu nennenden Verhältnis. Sie pflegten miteinander einen vertrauensvollen Briefwechsel. Mehrmals suchte Immer den Schweizer in Basel auf, nachdem dieser nicht mehr auf den BK-Synoden erscheinen konnte. Dass sich die beiden theologisch wie politisch unterschiedlich geprägten Männer von Anfang an gut verstanden und ergänzten, mag verwundern. Robert Steiner meint in dem Zusammenhang: „Fragt man trotz aller (…) Verschiedenheiten nach einem gemeinsamen Grund, so wird man nur auf die alleinige Geltung des Wortes Gottes hinweisen können. Hier trafen sich die beiden, die so verschieden geartet waren und dann doch so fest zusammenstanden.“ Jedenfalls lässt sich für Karl Immer wohl sagen, dass durch seine Beschäftigung mit Barths theologischen Werken, die schon in Rysum eingesetzt hatte, und durch das persönliche Kennen- und Schätzenlernen im Kirchenkampf seinem Biblizismus und seiner reformiert-pietistischen Verankerung ein Schuss Barthscher Theologie hinzugefügt wurde.

Als Karl Immer am 29.3.1936 aus Gewissensgründen die Reichstagswahl boykottierte, gab es einen furchtbaren Aufruhr vor seinem Pfarrhaus. Ein Mob von SA- und HJ-Mitgliedern skandierte: „Wir wählen unseren Führer! Pastor Immer, du hast noch nicht gewählt!“ An die Hauswand wurde geschmiert: Hier wohnt Volksverräter Immer. Steine wurden durch die Fenster seines Hauses geworfen. Um sich und seine Angehörigen nicht zu gefährden, tauchte Immer für kurze Zeit mit seiner Familie in Bethel unter, wo Geschwister von ihm wohnten.

Eng verbunden fühlte sich Karl Immer nicht nur mit seinen Gemarker Amtskollegen, sondern auch mit anderen Wuppertaler Pfarrern, die theologisch und politisch ähnlich dachten wie er. Dazu zählten nicht zuletzt auch die Elberfelder Theologen Hermann Albert Hesse und Hermann Klugkist Hesse. Beide waren Ostfriesen. Der von der Erweckungsbewegung geprägte H.A. Hesse war Dozent an der Theol. Schule in Elberfeld und Leiter des reformierten Predigerseminars. Außerdem war er Moderator des Reformierten Bundes und zeitweise Mitglied des BK-Reichbruderrates. Auch H.K. Hesse war Pfarrer in der Elberfelder reformierten Kirche und Dozent an der Theol. Schule in Elberfeld und am reformierten Predigerseminar. Er engagierte sich gleichfalls in der Bekennenden Kirche, aber auch im Pfarrernotbund. Von 1933 bis zum Verbot im Jahr 1936 gab er gemeinsam mit Karl Immer das auflagenstarke Blatt „Unter dem Wort“ heraus, das in jener Zeit eines der Hauptpresseorgane der Bekennenden Kirche war.

 

Keine falsche Freundlichkeit

Karl Immers Gemarker Pfarrbruder Paul Humburg (1878-1945) wurde sogar aufgrund seiner Leitungs- und Seelsorgequalitäten und seines Organisationstalents im August 1934 zum Präses der Bekenntnissynode der Evang. Kirche im Rheinland gewählt. Außerdem war er von Ende1934 bis 1936 reformiertes Mitglied der in Berlin tagenden „Vorläufigen Leitung der Deutschen Evangelischen Kirche“.

Nach dem Ersten Weltkrieg war Humburg vorübergehend Generalsekretär der Deutschen Christlichen Studentenvereinigung gewesen, bevor er dann von 1921 bis 1929 dem Westdeutschen Männerbund (CVJM) als Bundeswart diente. Danach wechselte er in das Pfarrkollegium der reformierten Barmen-Gemarker Gemeinde.

Humburg war stets darauf bedacht, den Menschen nicht nach dem Mund zu reden und sich nicht von ihrem Urteil und ihrer Sympathie abhängig zu machen. Er schrieb einmal, dass es „eine große Gefahr für die Jünger des Herrn (ist), wenn die Kinder dieser Welt ihnen freundlich begegnen. Da gilt es, um ein wachsames Herz zu bitten, dass wir nicht durch liebenswürdige Weise derer, die Gott ferne sind, gefangengenommen, dass wir nicht durch Anerkennung und Ehre von der Welt berauscht werden und darüber unseren himmlischen Freund, ja die Krone des ewigen Lebens vergessen. Es ist doch ein Wort, an dem man deuteln mag, so viel man will, das aber seine schneidende Schärfe behält: ‚Wer der Welt Freund sein will, der wird Gottes Feind sein‘ (Jak. 4, 4).“4 Diese Einstellung Paul Humburgs hatte sicherlich auch dazu beigetragen, dass er im Kirchenkampf klaren Kurs hielt.

Es blieb natürlich nicht aus, dass Humburg durch seine Leitungsfunktionen in der Bekennenden Kirche und seine klaren, an Gottes Wort gebundenen Predigten und Positionierungen fast schon zwangsläufig in den Fokus der Gestapo geriet. Und so blieben ihm zwischenzeitliche Hausdurchsuchungen, Verhöre und Verhaftungen, ja auch Gefängnisaufenthalte nicht erspart. Das alles hinderte ihn aber nicht, immer wieder auch christlichen Juden zu helfen, die zu ihm kamen und ihn baten, ihnen einen Weg ins Ausland zu ermöglichen.

 

Ein ganz persönliches Wort

Humburgs unerschrockenes Christuszeugnis machte auch vor Hitlers Kirchenminister Hanns Kerrl nicht halt. Nachdem dieser am 27.11.1935 die Vertreter der „Vorläufigen Kirchenleitung“ in Berlin empfangen hatte, schrieb ihm Humburg noch in derselben Nacht:

Sehr geehrter Herr Minister!

Gestatten Sie ein ganz persönliches Wort!

Ich hatte heute den Eindruck, dass es Ihnen nicht leicht wird, gegen die Bekennende Kirche mit Gewalt vorzugehen. Sie glauben den Weg gehen zu müssen; wir werden ihn leiden. (…)

Sie werden bei Ihrer Arbeit für die Kirche Jesu Christi immer tiefer in die furchtbar ernste Entscheidung hineingezogen werden, in die der Mann vom Kreuz jeden hineinführt, der es mit ihm zu tun hat, in das Entweder-Oder: Gott oder die Welt! Das wird eine sehr einsame Sache für Sie werden.

Es ist mein Gebet, dass Gott Ihnen in der Stunde der Entscheidung die übermenschliche Kraft gebe, Jesus zu wählen und das ewige Leben und nicht die Welt und ihre Ehre. Die Welt ist ein harter Herr, der uns in zeitliche und ewige Unruhe stürzt und uns zu Tode hetzt. Jesus ist kein armer König. Seine Gabe ist der Friede Gottes, nach dem unser Herz sich sehnt. (…)

Ihr sehr ergebener Paul Humburg

Wie ungeschminkt Paul Humburg Dinge, die ihm Not machten und die zu kritisieren er sich genötigt sah, beim Namen nennen konnte – auch wenn dies politisch nicht opportun war –, das beweist seine berühmt gewordene „Knospenfrevelpredigt“, die er am 3. Mai 1936 in der Gemarker Kirche über Jes. 40,26-31 hielt. Anlass war die in der Woche zuvor vorgenommene Vereidigung der Hitlerjugend auf den „Führer“. Humburg führte in seiner Predigt aus: „Eine solche Massenverpflichtung unmündiger Kinder auf eine Formel, deren Inhalt und Tragweite sie gar nicht übersehen und verstehen können, (…) mit Hinzufügung einer eidesstattlichen Anrufung Gottes (…), ist eine Herabwürdigung des Eides und zugleich eine Vergewaltigung der Kinder. Das ist Knospenfrevel! (…) Bei der Vereidigung der Hitlerjugend in dieser Woche hat ein Sprecher von dem ‚fanatischen Glauben an den Führer‘ geredet. Solche Worte sind Abgötterei. (…) Wir reden von dem Kampf, den die Kirche Jesu Christi zu führen hat mit der Weltanschauung, die die Partei (…) mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln der Macht und der Propaganda (…) vertritt, (…) Wir dürfen unseren Heiland nicht verleugnen, nicht schweigen und uns beugen, ob man uns noch so sehr bedrängt. (…)“

Das waren klare, unmissverständliche, aber auch mutige Worte, die Humburg hier aussprach. Kein Wunder also, dass bei dem in jener Zeit von den Nationalsozialisten vorgegebenen Mainstream in verschiedenen Presseorganen ein Schrei der Empörung gegen den unerschrockenen Gottesmann und seiner „Knospenfrevelpredigt“ einsetzte – zumal diese auch noch, unter größter Geheimhaltung in einer Auflage von mindestens 200.000 Exemplaren gedruckt, eine weite Verbreitung finden sollte. Die Aufmachung der zum Teil mit Karikaturen versehenen Hetz- und Schmähartikel folgte einem typischen Muster, indem sie eine Mischung von Diffamierung und Spott, von konstruierten, haltlosen Unterstellungen und Vorwürfen und von nicht zu übersehenden Drohungen und Warnungen enthielt. Letztlich kam Humburg aber noch glimpflich davon. Gleichwohl gab es Bestrebungen, ihn wegen seiner „Knospenfrevelpredigt“ gerichtlich zu belangen. Doch schob ein Beamter im Reichsjustizministerium, der der Bekennenden Kirche wohlgesinnt war, den Vorgang im Aktenberg immer wieder nach unten, wodurch die für Humburg nicht ungefährliche Angelegenheit offensichtlich im Sande verlief.

 

Wir haben es immer und überall nur mit Gott zu tun“

Humburgs Weggenosse in der Bekennenden Kirche Joachim Beckmann, stellt als typische Merkmale für Humburgs führenden Dienst in der BK heraus: „Er war Gottes große Gabe an die Rheinische Bekennende Kirche (…), ein glaubensstarker Leiter der Synoden, ein zielbewusster Führer im Kampf, klar und unbeirrbar in der biblischen Wahrheit, dabei mit einem Herzen voll Liebe und Freude, der den Frieden und die Gemeinschaft über alles liebte. (…) Er konnte die Synode leiten, weil er sich leiten ließ und immer nur nach dem Willen des Herrn fragte. (…) Nichts fürchtete er mehr, als die Gefahr des Abweichens vom Weg des Glaubens. (…) ‚Wir haben es immer und überall nur mit Gott zu tun‘, war eines seiner oft gebrauchten Worte‘.“5

Der unermüdliche Dienst der beiden tapferen Gemarker Pastoren Humburg und Immer innnerhalb der Bekennenden Kirche jedoch war aufreibend und zermürbend und forderte mit der Zeit seinen Tribut. Am 4. Januar 1943 macht Paul Humburg in einem Brief die traurige Bemerkung: „Seit dem 1. 1. bin ich im Ruhestand, also pensioniert. Mein Herz ist so schwach, dass ich nicht mehr arbeiten kann.“ Die Kräfte des einst so stattlichen Mannes hatten in einem erschreckenden Ausmaß abgenommen. Die anstrengenden Belastungen seines Dienstes, die Teilnahme an Sitzungen, Synoden und Konferenzen, die mit vielen Reisen und nur wenig Schlaf verbunden war, die Anfeindungen und Auseinandersetzungen, die Verhöre und Verhaftungen, das alles hatte doch sehr an seinen Kräften gezehrt. Aber was ihm wohl noch mehr zugesetzt hatte, das war nach Meinung seines Amtsbruders Harmannus Obendiek „das Bewusstsein um die über alles gewöhnliche Maß hinausgehende Verantwortung, nicht nur für sich selbst, sondern für den Weg der Kirche und den Dienst der Brüder. Bei den Entscheidungen, für die er einzustehen hatte, ging es auch um die Existenz vieler Familien, auch um die Zukunft der ‚jungen Brüder‘. Das alles musste durchkämpft und in letzter Verantwortlichkeit getragen werden.“6 (Bei den „jungen Brüdern“ handelte es sich um die jungen Theologen der Bekennenden Kirche, die illegal an verborgenen Orten von einer Prüfungskommission der BK, der Humburg oftmals vorstand, examiniert und später dann – da ihr theologisches Examen weder von der offiziellen Kirche noch vom Staat anerkannt wurde – von der BK als Vikare und Hilfsprediger angestellt wurden, was allerdings ebenfalls illegal geschah.)

Die Bekennende Kirche im Rheinland hatte nun keinen Präses mehr. Der Unterbarmer Pfarrer Johannes Schlingensiepen, selbst leitend aktiv in der Bekennenden Kirche, schrieb später: „Einen Nachfolger für Paul Humburg haben wir nicht gewählt. Wer hätte ihn auch ersetzen können? Anstelle eines Präses wurde ein Dreierkollegium bestellt, dem Heinrich Held, Joachim Beckmann und ich angehörten.“ Indessen ging es mit Humburgs Gesundheit weiter rapide bergab. Wenn Besucher ihn fragten, ob er sich noch etwas wünsche, antwortete er: „Mein Wunsch ist einfach: ich möchte heim.“ Am 21. Mai 1945 wurde ihm dieser Wunsch erfüllt.

Karl Immer wiederum war Anfang August 1937 von der Gestapo verhaftet und nach Berlin in das Polizeigefängnis am Alexanderplatz gebracht worden. Hier erlitt er noch im selben Monat einen Nervenzusammenbruch und einen Schlaganfall. Nach einer Behandlung in einem evangelischen Krankenhaus in Berlin konnte er wieder nach Barmen zurückkehren. Aber seine Gesundheit war gebrochen. Dennoch nahm er seinen Dienst in der Gemeinde wieder auf. Schließlich starb er am 6. Juni 1944 im Alter von 56 Jahren an den Folgen eines weiteren Schlaganfalls. Sein Sohn Karl Eduard wurde später (von 1971-1981) Präses der Evang. Kirche im Rheinland.

 

Anmerkungen

1 Udo Smidt: Wie das Licht nach der Nacht. Krummhörn-Visquard 2020, 33.

2 Zit. n. Bertold Klappert/Günther van Norden: Tut um Gottes Willen etwas Tapferes. Karl Immer im Kirchenkampf. Neukirchen-Vluyn 1989, 176f.

3 Johannes Rau: Geschichte in Porträts. Holzgerlingen 2001, 70.

4 Zit. n. Harmannus Obendiek: D. Paul Humburg. Wuppertal 1947, 99.

5 Ebd., 69-71.

6 Ebd., 76.

 

Über die Autorin / den Autor:

Matthias Hilbert, Lehrer i.R. und Buchautor; jüngste Veröffentlichung: Unvergessene ­Wuppertaler und oberbergische Glaubensboten, ­Christliche Verlagsgesellschaft 2022 (ISBN 978-3863538170), 352 S., 19,90 ?.

Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 1/2023

1 Kommentar zu diesem Artikel
31.01.2023 Ein Kommentar von Peter Godzik Wuppertal und der Reformierten Kirche ist zu gratulieren! Sie haben in Matthias Hilbert einen Buchautor und pensionierten Lehrer gefunden, der dem Verhalten der beiden Pfarrer Karl Immer und Paul Humburg sowie der Rolle der Bekennenden Kirche in Westdeutschland auf beeindruckende Weise gerecht wird. Die Nordkirche hat dieses Glück nicht. Sie quält sich seit Jahren mit falschen Behauptungen über leitende Geistliche der Bekennenden Kirche in Schleswig-Holstein herum und mit einer angeblich hervorragenden Dissertation, die sämtliche Geistliche der damaligen Zeit unter Generalverdacht stellt, Steigbügelhalter der Nationalsozialisten gewesen zu sein. Dabei hatte die schleswig-holsteinische Landeskirche auch ihr „Wuppertal“ in Gestalt des DC-unabhängigen Missionszentrums in Breklum mit reichsweiter Ausstrahlung seiner kritischen Schriften, den „Breklumer Heften“, verfasst von zahlreichen systemkritischen, meist jungen Pastoren. Aber statt ein wenig stolz zu sein auf die Tatsache, dass auch im Norden Deutschlands die Kirche bei ihrer Sache blieb, gefällt sich die Nordkirche in der Förderung von „Aufdeckern“ angeblich politischer und theologischer Fehler, die einem „Abdecken“ kirchlicher Identität nahekommt. Schade drum! Der Kirchengeschichtler Andreas Müller äußerte zur Hertz-Dissertation: „Eine nach eigener Façon gestrickte Listenwissenschaft bietet keinen wirklich historischen Zugang zur Geschichte.“ Da hat der Autor Matthias Hilbert besser verstanden, wie kostbar der Mut bekennender Pfarrer gerade in dieser diktatorischen Zeit gewesen ist.
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