Wer in Dietrich Bonhoeffers Sinn „glauben lernt“, ist hineingenommen in eine Wahrheit und Wirklichkeit, die die Kategorien von „Religion“ und „Religionslosigkeit“, „Kirche“ und „Welt“ aufnimmt und übersteigt. Die Krisen der Volkskirchen sind nicht zuletzt, sondern vor allem Ausdruck einer Glaubenskrise: „Was glauben wir wirklich, d.h. so, daß wir mit unserem Leben daran hängen?“ Bernd Vogel regt dazu an, mit Bonhoeffer neu „glauben zu lernen“.*

 

Kirchenkrise und Glaubenskrise

Die Krise der Kirchen ist offensichtlich. Die Mitgliederzahlen sinken rapide. Kirche gilt als auf Sicht unsichere Arbeitgeberin. Beim Theologennachwuchs sieht es kaum besser aus. Mittlerweile rollt die nächste Welle von Reformkongressen und Zukunftsprozessen durch die Kirchen. Wieder wird nach den „Bedürfnissen“ der Menschen gefragt und die Schwarmintelligenz hoffentlich vieler Menschen in Anspruch genommen. Wieder fragt man sich in der Kirche, wer man selbst eigentlich (noch?) ist, womit man „sichtbar“, ja „systemrelevant“ ist. Die inhaltliche Seite bleibt merkwürdig blass. Was „das Evangelium“, was die „Botschaft“ sei, sei den Meisten doch hinlänglich klar, heißt es. Das Evangelium müsse nur eben zu den Menschen: klarer, attraktiver, effektiver, öffentlichkeitswirksamer. Da die Botschaft klar sei, käme es darauf an, in den Resten der erodierenden Volkskirchen nach neuen Formaten Ausschau zu halten.

Man will vielleicht nicht zu deutlich sehen, wie düster die Lage „der Kirche“ in Wahrheit ist. Doch, was ist die frohe Botschaft? Ein mit „Jesus“ garnierter christlicher Humanismus? Ein Gefühl von Zugehörigkeit zu einem begrifflich wabernden Größeren? Eine Bindung an bestimmte Traditionen, von deren letztgültiger Wichtigkeit man aber durchaus nicht mehr überzeugt ist? Ein sorgsam gehüteter Kinderglaube? Eine unbestimmte Sehnsucht? Dass ich in den Himmel komme, ewiges Leben mir blüht? Eine göttliche Lebenskraft? Positive Geisteskraft? Die Liebe selbst? Liebe als Lebensprogramm? Der Sinn des Lebens? Ein Stück Kultur? Was?

Für Martin Luther war bekanntlich die Entdeckung seiner vier „Soli“ die inhaltliche Mitte seiner Reformation; und er meinte noch – aus heutiger Sicht: allzu deutlich gegenüber Bauern und Juden – klar sagen zu können, was „allein Jesus Christus“ ihm bedeutete „allein durch Gnade“ und „allein im Glauben“, bezeugt „allein in der Schrift“. Solche Art Gewissheit ist heute nicht vorhanden und gilt als weder verständlich noch der komplexen Wirklichkeit angemessen. Lieber versuchen Predigerinnen und Prediger Predigten als ästhetisches Erlebnis zu verfassen, als Hörgenuss für mehrere Sinne. Was „er“ oder „sie“ „gesagt“ hat, … diese sicher unterkomplexe Frage vergangener Hermeneutik mutiert unter der Hand zur reinen Rezeptionsästhetik: Was hast du gehört, erlebt, gespürt?

Das ist nicht falsch, sogar nötig, dass eine Predigt handwerklich gut gemacht ist. Aber was ist ihre Substanz? Das lebendige Wort Gottes? Ein Zeugnis der Predigerin? Wen oder was bezeugt der Prediger, wenn er am Reformationstag in lustiger Weise über Halloween belehrt und darüber informiert, dass wir „vor Gott so, wie wir sind, in Ordnung sind“ (selbst gehört)?

Bleibt uns heute von Luthers Soli nur noch das „sola fide“? „Glaubt“ nicht jede und jeder, was und wie er oder sie kann und will? Haben wir Kirchenleitenden in den Ämtern und in den Gemeinden nicht mühsam genug die Fesseln der einzig wahren kirchlichen Dogmatik abgestreift, das Missverständnis, man „müsse“ dies oder das „glauben“? „Was muß ich glauben? Falsche Frage“ …1

 

Warum Bonhoeffer

Somit wären wir bei Dietrich Bonhoeffer: Manche sagen: Der ist uns bekannt. Nichts mehr zu holen. Alles ausgelutscht. Hatte seine Zeit. Seine Rede von „Nachfolge“, von „Jesus Christus als Gemeinde“, von „mündiger Welt“, von „Religionslosigkeit“. Was soll uns das? Zu groß, zu schwer, zu weit weg von der Wirklichkeit, zu verpflichtend, zu ethisch, zu fromm, zu märtyrerhaft usw.

Warum Bonhoeffer? Weil er ein existenzieller Theologe war und seine Texte auch uns dazu animieren können solche zu werden. Seine Texte, und nicht bloß die berühmten Gefängnisbriefe, sind letztlich fast immer experimenteller Natur. Er experimentierte nah am eigenen Herzen. Das kann man an den Texten spüren, trotz der kalendertauglichen Worte und auch in ihnen. Es geht um reflektiertes Leben, allerdings um einen Glauben, der ihn selbst das Leben gekostet hat, von dem er aber meinte, dass auch Nicht-Märtyrer sich fragen sollten, was sie selbst so glaubten, dass sie mit ihrem Leben daran hängen.

Das muss selbstverständlich nicht den heldenhaften Tod „für andere“ bedeuten. Es reicht in unseren Zeiten und jenseits einer mörderischen Diktatur, dass man einmal halbwegs ehrlich wird angesichts der eigenen Beteiligung am Klimawandel und sonstigen gesellschaftlichen Konfliktlagen, Glauben und Nichtglauben, Illusion und Desillusionierung. Das wäre eine ganz andere Frage als die, wie „wir“ die Kirche retten oder auch nur reformieren oder auch den Glauben reformieren. Wer sind wir „vor Gott“ heute? Tatsächlich völlig in Ordnung so, wie wir sind? Was heißt das? Ist das die dünne Suppe, die aus dem „simul iustus ac peccator“ Luthers noch übriggeblieben ist? Das Evangelium, die Botschaft, die die Welt vernehmen soll zu Heilung und Heil? Und das Ganze garniert mit moralischen Appellen, vorzugsweise an andere?

Den Glauben macht sich und reformiert aus Bonhoeffers Sicht niemand von „uns“. Wir machen uns Gedanken. Bestenfalls passen diese zum „Widerfahrnis“ des Glaubens (I.U. Dalferth2). Den Glauben reformiert Gott im Heiligen Geist in der Begegnung mit uns durch den Menschen Jesus Christus. Das klingt für manche formelhaft, althergebracht, „dogmatisch“ und anspruchsvoll, und ist es auch. Findet bessere Worte, die ihr und andere verstehen; aber ermäßigt doch nicht die Substanz eines Glaubens, an dem man mit seinem (ihrem) Leben hängt …

Nach Bonhoeffer sollten wir mit den Menschen nicht bloß über ihre Bedürfnisse und Wünsche an „die Kirche“ usw. ins Gespräch kommen – das selbstverständlich auch, etwa in der Seelsorge, – sondern über das, „was Gott verheißt und was er erfüllt“ (Bonhoeffer).3 Die Differenz von „Bedürfnissen“ und „Wünschen“ einerseits und Gottes „Verheißungen“ hat Bonhoeffer im Gefängnis am eigenen Leib schmerzlich erfahren. Er ist nicht daran zerbrochen (was möglich gewesen wäre und möglich bleibt, dass der Glaube zerbricht,) sondern gewachsen. Ernsthafte Gespräche über Lebens- und Glaubensfragen, persönlich und ethisch-politisch gewendet, sind heute eine wichtige und „systemrelevante“ Aufgabe „der Kirche“. Bonhoeffers Texte sind hervorragend zum Anstoß und zur Strukturierung solcher Gespräche geeignet.4 Ob und wie daraus Erneuerndes geschieht, werden wir sehen. Angeblich offene, in Wahrheit geschlossene Zielvorgaben („ich sehe meine Kirche im Jahr 2050 so …“) sind etwas ganz Anderes als Bonhoeffer meinte, wenn er von einem Prozess der „Umschmelzung“ sprach und von sozusagen „Bußleistungen“ einer sich der neuen Situation stellenden ­Kirche!5

 

Was wir von Bonhoeffer im Wesentlichen lernen können – das Fazit vorab

Wir „lernten“ bei ihm eine (alte) neue Kirchenlehre, die mehr wäre, als das Schlagwort von der „Kirche für andere“ signalisiert. Wir kämen über manche dünne Jesus-Lehre hinaus in eine große und alle Welt umspannende Christologie (Jesus als der Christus nach der gesamten ntl. Tradition samt atl. Hintergrund, trinitarisch gedacht und am Bekenntnis von Chalcedon orientiert). Bekannt ist, dass uns Bonhoeffer in den diversen ethischen Dilemmata unserer Zeit weiterhelfen könnte.

Vor allem aber: Wir erfahren, vermittelt über seine Texte, an ihm die Haltung eines Menschen in der Nähe Jesu und damit in der Nähe des lebendigen Gottes. Wir können in ihm einem Menschen in gewisser Weise nahekommen, der in der Nachfolge Jesu lebte und starb und der mit seinem Lebens- und Glaubenszeugnis überraschend tiefe und vielleicht auch für den einen oder die andere verblüffende Blicke auf den von ihm geglaubten Gott im Menschen Jesus werfen lässt. Bonhoeffer ließ sich „mithineinreißen“ in das „messianische Ereignis“ je hier und „nun“.6 Er hörte gelegentlich die Engel singen bzw. ihr „konkretes Gebot“ ihm sagen, alltägliche Lebensführung.7 Er ließ sich buchstäblich beteiligen an Gott in Jesus. Passivisch aktiv warf er sich am Ende Gott „in die Arme“.8 Die fast ständige Meditation biblischer Texte, das fortwährende Gebet, das „Warten“ „auf Gottes Zeit“9 ließen ihn je neu sensibel, hörbereit, verletzbar werden wie den zunächst widerständigen Propheten Jeremia. „Christus“, meinte Bonhoeffer, mache ihn „stark“, menschlich und ließ ihn „geborgen“ sein „von guten Mächten wunderbar.“

Was auch immer wir für eine vielleicht weiterhin nur private „Dogmatik“ (unsere eigene „Lehre“) vertreten, ob wir uns für eine „Glaubensreform“ interessieren und uns in Zukunftsprozessen für eine erneuerte Kirche einsetzen oder nicht: Mit Bonhoeffers Texten werden wir gefragt, ob wir mit unserem Leben am Glauben hängen (eben nicht umgekehrt nur) und was „glauben lernen“10 für uns bedeutet. Wie hat sich das alles, wenigstens in Ansätzen, in einem markanten Bonhoeffer-Text gespiegelt?

 

Bonhoeffers fragmentarisches Manifest

Was glauben wir wirklich?, d. h. so, daß wir mit unserem Leben daran hängen?“ Diese Frage steht im Original handschriftlich in einem vierseitigen Manuskript. Sie ist ein zentraler Punkt in einem Text vom August 1944, für die Herausgabe „Entwurf einer Arbeit“ genannt (Bethge), mit dem Bonhoeffer „für die Zukunft der Kirche“ einen „Dienst“ tun will.11 Es lohnte sich eine Monographie nur zu diesen vier Seiten, Bonhoeffers angefangenem Manifest12, aus dem mangels einer eingehenden Gesamtbetrachtung je nach Belieben diverse Sätze zitiert werden, Schlagworte wie das von der Kirche, die nur Kirche sei, wenn sie „für andere da“ ist.

Wie immer bei Texten, so auch besonders hier, einem Fragment gebliebenen ersten Entwurf einer groß angelegten Schrift: Wir müssen uns ansehen, wie das „Ganze eigentlich angelegt“ war und „aus welchem Material“ es geschaffen wurde (Bonhoeffer13). Sonst sehen und hören wir nur, was wir sehen und hören wollen, und verfehlen zumindest die wegweisenden Aspekte, die zur „Reformation“ von Glauben und Kirche beitragen könnten. Da der Platz hier beschränkt ist, empfehle ich das parallele Lesen des Textes und beschränke mich auf diesen einen Text und nenne Bezüge in seinem Werk, wo es zum tieferen Verstehen nötig ist.

 

Bestandsaufnahme des Christentums“

Drei Kapitel soll die „nicht über 100 Seiten lange“ Schrift haben: „1. Bestandsaufnahme des Christentums, 2. Was ist eigentlich christlicher Glaube? 3. Folgerungen“14. Dass Bonhoeffer so dezidiert mit einer „Bestandsaufnahme“ des „Christentums“ anfangen möchte, bedeutet eine Akzentverschiebung gegenüber früheren Werken wie „Sanctorum Communio“, „Schöpfung und Fall“15 oder „Nachfolge“. Die empirische Beobachtung tritt in den Vordergrund, ohne dass allerdings die theologische Durchdringung darunter leiden würde. Was Bonhoeffer beobachtet, zwingt ihn zu neuer Reflexion, auch hier und da zu neuen Ausdrücken und Formulierungen, nicht aber zum Rückzug aus den ihm zentralen theologischen Einsichten! Das festzuhalten ist wichtig; denn mit „Bonhoeffer“ wird weithin so verfahren, wie er selbst es mit seiner angestrebten „nicht-religiösen“ oder „weltlichen“ Interpretation der biblischen und theologischen Begriffe16 keinesfalls wollte: Es werden die Gehalte seiner – wenn man so will – Lehre durch eine Interpretation genannte Vereinnahmung reduziert auf das eigene, heute angeblich bei den Menschen (und ihren Bedürfnissen) ankommende Maß. So liest man aus „Bonhoeffer“ heraus, was man selbst hineingelegt hat.

Für Bonhoeffer-Leser*innen überraschen die Stichworte unter „1.“ nicht: das „Mündigwerden des Menschen“ (1 a.), die „Religionslosigkeit des mündig gewordenen Menschen“ [im Original mit !] (1 b.), die Lage der evangelischen Kirche: „Allgemein in der BK. [Bekennenden Kirche]: Eintreten für die ‚Sache‘ der Kirche etc., aber wenig persönlicher Christusglaube. ‚Jesus‘ entschwindet dem Blick. Soziologisch: keine Wirkung auf die breiten Massen; Sache der Klein- und Großbürger …“ (557f), „d.) Moral des Volkes. Demonstriert an der Sexualmoral“ (558).

Interessant sind Details: unter 1 a. die Auseinandersetzung mit der „Sicherung des menschlichen Lebens gegen den ‚Zufall‘“, gegen „‚Schicksalsschläge‘“ und das „‚Versicherungswesen‘“ und unter 1 c. der zitierte Hinweis auf die Bekennende Kirche und dass auch in ihr „wenig persönlicher Christusglaube“ zu finden sei, und: „‚Jesus‘ entschwindet dem Blick“. Hier sind wir im Herz-Zentrum von Bonhoeffers Glauben und Theologie, auch von seinem Kirchenverständnis, angelangt. Wie er unter 1 d. zur „Sexualmoral“ des „Volkes“ gearbeitet hätte, werden wir nie erfahren. So viel ist sicher: In seiner Jugend hatte er die Sexualität bezüglich wenig Restriktionen gekannt, dann aber in seiner – wenn man so verkürzt sagen will – frommen Phase (1931-1939) den Eros seiner Predigtamtskandidaten (und wohl auch den eigenen) als Bedrohung für den Kampf gegen die ganz anderen Verführungen der Nazis angesehen. Spätestens mit seiner Verlobung mit Maria von Wedemeyer Ende 1942 dürfte – eine Spekulation mit gewissem Anhalt am Gefängnisgedicht „Vergangenheit“17 und anderen Äußerungen in den Gefängnisbriefen – diese Phase vorbei gewesen sein. In den Gefängnisbriefen finden wir ausgesprochen markante Worte gegen „Seelsorger“, die auf der „Jagd“ nach geistlicher Beute den „Kammerdienergeheimnissen“ der ihnen Anvertrauten nachspüren!18

 

Was ist eigentlich christlicher Glaube?“

Im geplanten 2. Kapitel sollte es um die Frage danach gehen, was eigentlich der christliche Glaube sei. 2 a. nennt in Fortsetzung von 1 a. nur kurz „Weltlichkeit und Gott“. Ausführlich wird es unter 2 b.: „Wer ist Gott? „Echte Gotteserfahrung“ gibt es demnach nur als „Begegnung mit Jesus Christus“. Das ist gut lutherisch und gut offenbarungstheologisch (Barth) gesagt und auch so gemeint. Bonhoeffers noch in Bahnen Luthers und Barths Akzentsetzung dabei ist: 1. Das „Für-andere-Dasein“ dieses Gottes im Menschen Jesus als 2. des „Gott(es) in Menschengestalt!“ im Unterschied etwa zu den diversen Gottesgestalten „bei orientalischen Religionen“ (Bonhoeffer wird hier an die Götterbilder in Indien denken; das war für ihn der ferne und zeitweise ersehnte Orient) und auch im Unterschied zu „Begriffsgestalten des Absoluten, Metaphysischen, Unendlichen etc.“. Damit ist einer philosophischen und de facto nicht-personalen Rede von Gott wie sie etwa zeitgleich z.B. Paul Tillich versuchte, bei Bonhoeffer ein Riegel vorgeschoben. Jesus sei der „aus dem Transzendenten lebende Mensch“.

Von hier aus ist für das folgende dritte Unterkapitel (c.) die „Interpretation der biblischen Begriffe“ geplant, dann ein Unterkapitel zum „Kultus“ (d.), bevor dann – in merkwürdiger Spannung zu so viel positioneller Theologie – das nächste Unterkapitel (e.) so skizziert wird: „Was glauben wir wirklich? d. h. so, daß wir mit unserem Leben daran hängen? Problem des Apostolikum? Was muß ich glauben? falsche Frage. Überholte Kontroversfragen, speziell interkonfessionell; die lutherisch – reformierten – (teils auch katholischen) Gegensätze sind nicht mehr echt […] Barth und BK. führen dazu, daß man sich immer wieder hinter den ‚Glauben der Kirche‘ verschanzt und nicht ganz ehrlich fragt und konstatiert, was man selbst eigentlich glaubt. Darum weht auch in der BK. nicht ganz freie Luft. Die Auskunft, es komme nicht auf mich, sondern auf die Kirche an, kann eine pfäffische Ausrede sein und wird draußen immer so empfunden. […] Also, was glauben wir wirklich? Antwort unter b.) c.) d.)“.19

 

Folgerungen“

Interessanter Weise gehören 3. die „Folgerungen“ zu den meistzitierten Sätzen Bonhoeffers; denn hier geht es um die programmatisch klingenden Sätze von der Kirche, die Kirche nur sei, wenn sie für andere da ist, und um eine „Revision der Bekenntnisfrage (Apostolikum)“ – vielleicht Wasser auf die Mühlen all derer, die das „Bekenntnis“, sprich: das Lehrgebäude der Kirchen, modernisieren wollen. Eine Diskussion darüber kann an dieser Stelle nicht geführt werden. Nur dieser Hinweis noch einmal: Bonhoeffer ging es nicht um eine Reduktion des christlichen Lehrgebäudes, sondern um eine „weltliche“ Interpretation, dies aber unter Wahrung der Fülle der christlichen Lehre im „Kultus“ der „Arkandisziplin“20, d.h. es sollte nach Bonhoeffer „Stufen der Erkenntnis und Stufen der Bedeutsamkeit“ geben. Es gilt kein Glaubensgesetz („was muß ich glauben? falsche Frage“ (559)), aber es gibt doch eine gewisse Stufung für sozusagen Anfänger und Fortgeschrittene beim „glauben lernen“. Letztere sollen möglichst das Ganze der biblischen und theologischen Tradition im Blick behalten, es feiern und vor „Profanierung“ „behüten“.21

Ist es beim Lesen aufgefallen? (Mir Jahre lang nicht) Bonhoeffer beantwortet indirekt die völlig ehrliche und das Gespräch miteinander freigebende Frage danach, was wir „wirklich“ glauben“, am Ende doch mit Hinweis auf „b.) c.) d.)“. Wie ist das zu verstehen? Nur so, dass sich die offene Frage nach der möglichen Wahrheit einer Sache oder einer Aussage spannungsvoll vereinbaren lässt mit der Attraktivität einer möglichen „Begegnung mit Jesus“. Die Frage ist kein rhetorischer Trick, sondern soll in die Nähe einer „Begegnung“ mit Jesus Christus führen. Diese Begegnung ist substanziell und methodisch das „Evangelium“.

Das lässt sich an einem anderen Text darstellen. Am 18.7.1944 schreibt er: „Dieses Hineingerissenwerden in das – messianische – Leiden Gottes in Jesus Christus geschieht im N.T. in verschiedenster Weise. Durch den Ruf der Jünger in die Nachfolge, durch die Tischgemeinschaft mit den Sündern, durch ‚Bekehrungen‘ im engeren Sinn des Wortes (Zachäus), durch das (ohne jedes Sündenbekenntnis sich vollziehende) Tun der großen Sünderin (Luk 7), durch die Heilung der Kranken (s. o. Matth 8,17), durch die Annahme der Kinder. Die Hirten wie die Weisen aus dem Osten stehen [an] der Krippe, nicht als ‚bekehrte Sünder‘, sondern einfach, weil sie, so wie sie sind, von der Krippe her angezogen werden (Stern)“.22 Dieser „Stern“, dieses „angezogen werden“ war für Bonhoeffer die geheimnisvolle Mitte der Geschichte und auch seines eigenen Lebens. Alle Glaubensreformen, alle Reformation der Kirche, die nicht von dieser Mitte her ihre Kraft und ihre Orientierung (buchstäblich) empfängt, hat in Bonhoeffers Sprache keine Verheißung.

Umgekehrt: Wer „glauben lernt“ in der Begegnung mit Jesus Christus, wird Wege zu den Menschen finden, kreative Ideen teilen, gerne predigen, besuchen, einfach mit Freuden leben nicht immer nur „für“ die anderen, auch „mit“ ihnen, und die Lebensgüter teilen. Wir dürfen nicht außer Acht lassen: Bonhoeffer war ein Lebensgenießer, ein Lebenskünstler auch, einer, der beim Tennis siegen wollte, ein Freund der Sonne und des guten Essens, der in Barcelona stundenlang in den Cafés der Rambla saß und zum Stierkampf ging. All das und mehr nannte er in kritischer Stunde am 21.7.1944 „glauben lernen“. Auch so hing er mit seinem Leben am Glauben. Vielleicht täte uns Kirchen- und Glaubensreformern etwas weniger Anstrengung und etwas mehr Lebensfreude gut. Im Namen des Menschgewordenen.

 

Von der Eigenart des theologischen Denkens bei Dietrich Bonhoeffer („Aspektivität“)

Ich nenne Bonhoeffers existenzielles Denken vor dem lebendigen Gott weder „dialektisch“ noch „paradox“, weder „systematisch“ noch „unsystematisch“, weder kohärent noch inkohärent, auch nicht „aus der Fassung“ geraten, sondern (mit Bonhoeffer) „mehrstimmig“ oder auch „aspektiv“. Dieses Kunstwort aus der Ägyptologie und der mit dem Judentum sehr vertrauten Theologie des verstorbenen Neutestamentlers Friedrich Avemarie23 erlaubt es, auf dem Hintergrund von Bonhoeffers vor allem biblisch-theologischem Denken, die Kontinuität seiner Theologie zu verstehen, zu der zugleich (dieses „Zugleich“ ist der Kern von Bonhoeffers Theologie) die Bereitschaft und Fähigkeit gehörte,Wort Gottes“ im Hier und Jetzt neu zu hören und zu verstehen. Wir kommen dem Verstehen von Bonhoeffers Texten am nächsten – wen wird diese hermeneutische Binsenweisheit überraschen?, – insofern wir selbst bereit und fähig sind, jenes „Zugleich“ scheinbar widersprüchlicher Wahrheitsmomente zu denken, ohne sie wieder in philosophische Schubladen von „Dialektik“ oder „Paradoxon“ zu stecken und damit de facto zu neutralisieren. Wo Bonhoeffer den Begriff „paradox“ einmal verwendet, kommt er von dem (existenziellen) biblischen Grund her, worauf stehend er gerade argumentiert.

Die von Beginn der Bonhoeffer-Rezeption an virulente Frage, ob Bonhoeffers Theologie (und sein Glaube?) am Ende konsistent geblieben oder ob sie schließlich „aus der Fassung“ geraten sei (en), hat kürzlich Ralf Frisch neu auf die Tagesordnung gebracht.24 Er regt theologisch-poetisch-kreativ zur Diskussion an, wie und wie genau wir den ganzen Bonhoeffer lesen und wie wir mit widersprüchlichen Aussagen umgehen. Was hat, fragt Frisch, der Bonhoeffer der „guten Mächte“ zu tun mit dem, der meint, wir müssten in einer Welt leben „etsi deus non daretur“?25 So zu fragen, führt zunächst weiter; denn so kann „Bonhoeffer“ als Projektionsfläche für die eigenen, oft unklaren Gedanken dekonstruiert werden. Wenn Frisch aber in seinem Vorgänger-Buch über Markus als den „Erfinder“ der „Jesus“-Gestalt das hermeneutische Modewort vom „Narrativ“ verwendet26 und meint, man müsse sich (wie Markus einst) angesichts der Weltlage notfalls auch in die Wirklichkeit Gottes „hineinlügen“ (Frisch27), dann verzerrt eine analoge Herangehensweise in Bezug auf Bonhoeffers Werk dessen Eigenart. Bonhoeffer lebte gerade nicht in selbst konstruierten „Narrativen“ und log sich nicht in Gottes Wirklichkeit hinein. Er ging vielmehr „glauben lernend“ und Glauben wagend von der Wirklichkeit Gottes in der „gottlosen“ Welt aus. Er verlor, so dürfen wir annehmen, keineswegs seinen Glauben und war vielmehr bereit, „mit“ „Gott“ auch dort und dann zu leben, wo es ansonsten „ohne“ Gott zuzugehen schien und auch zuging.28

„Was stimmt denn nun?“ ist eine häufig gestellte Frage nach Vorträgen über Bonhoeffers Theologie und führt – im Modus einer binären Logik beantwortet – ins Abseits. Es ging Bonhoeffer immer um eine umfassende, die eigene Existenz einbeziehende Transformation: persönlich, gedanklich, kirchlich, politisch, um das „Wirklichwerden der Offenbarungswirklichkeit Gottes in Christus unter seinen Geschöpfen.“29

 

Anmerkungen

* Alle Bonhoeffer-Texte sind aus den Dietrich Bonhoeffer-Werken (DBW) zitiert, alle mit anderen Herausgebenden, hier: Christian Gremmels, Eberhard Bethge, Renate Bethge in Zusammenarbeit mit Ilse Tödt (Hg.): Dietrich Bonhoeffer: Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft, München 1998 (DBW 8), 559. In Folge also wird zitiert nach DBW.

1 Ebd.

2 Ingolf Ulrich Dalferth: Radikale Theologie: Glauben im 21. Jahrhundert, Leipzig 2010.

3 DBW 8, 573., vgl. ebd., 548.569.

4 Vgl. Bernd Vogel/Petra Roedenbeck-Wachsmann: Glaubenskurs mit Dietrich Bonhoeffer, Göttingen 2009.

5 „Die Kirche ist nur Kirche, wenn sie für andere da ist. Um einen Anfang zu machen, muß sie alles Eigentum den Notleidenden schenken. Die Pfarrer müssen ausschließlich von den freiwilligen Gaben der Gemeinden leben …“ (DBW 8, 560). Man darf Bonhoeffers radikalen Texten weder den Zahn ziehen noch sie ohne ihren Kontext lesen. Im August 1944 schreibt er kein Kirchenreformprogramm, wie „wir“ es seit Jahrzehnten in immer neuen Anläufen kennen. Er will vielmehr „für die Zukunft der Kirche“ einen geistigen Neuanfang vordenken, einen Weg denken in eine vom Glauben her neue Kirche.

6 Brief vom 18.7.1944, DBW 8, 535f.

7 So fast wörtlich in einem „Ethik“-Fragment, vgl. DBW 6, 389.

8 21.7.1944, DBW 8, 542.

9 Im berühmten sog. „Taufbrief“ Mai 1944, DBW 8, 436.

10 „glauben lernen („glauben“ klein geschrieben) ist zentraler Begriff im berühmten Brief vom 21.7.1944 (DBW 8, 541-543). Bonhoeffer stellt hier einen im Kern christologischen (!) Gegensatz her zu einer Phase seines eigenen Lebens, in der er „so etwas wie ein heiliges Leben zu führen versuchte“ (542)! Zur Interpretation vgl. Bernd-Joachim Vogel: Ich möchte glauben lernen: Wagnis und Bildung: Dietrich Bonhoeffers Theologie in hermeneutischer und bildungstheoretischer Zuspitzung. Hannover 2018 (https://doi.org/10.15488/3704); sowie Bernd Vogel: Wenn ein Mensch wie Jesus gelebt hat … Dietrich Bonhoeffers Rede von Jesus Christus für uns heute, Stuttgart 2021.

11 DBW 8, 556-561, Zitate ebd.

12 Vgl. Bernd Vogel: „Alle Angst vor der Zukunft überwunden …“. Mit Dietrich Bonhoeffer im Gespräch, Stuttgart 2020, 100-144.

13 DBW 8, 336.

14 DBW 8, 556.

15 DBW 3.

16 DBW 8, 559.512 u.ö.

17 DBW 8, 468-471.

18 DBW 8, 509.

19 DBW 8, 559f.

20 DBW 8, 405.415.

21 Ebd.

22 DBW 8, 537.

23 In die theologische Diskussion hat den Begriff der ‚Aspektive‘ der Judaist und Neutestamentler Friedrich Avemarie eingeführt. Vgl. Friedrich Avemarie, Neues Testament und frührabbinisches Judentum. Gesammelte Aufsätze, hg. v. Jörg Frey und Angela Standhartinger, Tübingen 2013. Avemarie bezieht sich explizit auf Emma Brunner-Traut: „In rabbinischen Texten können, wo es um soteriologische Fragen geht, Aussagen, die den Grundgedanken der Erwähltheit zum Tragen bringen, nahtlos in andere Aussagen übergehen, die auf dem Prinzip der Vergeltung gemäß den Taten eines Menschen beruhen. Dieses Phänomen einer unproblematischen Gleichzeitigkeit von widersprüchlich Erscheinendem habe ich andernorts in Anlehnung an die Ägyptologin E. Brunner-Traut mit dem Begriff der ‚Aspektive‘ zu beschreiben versucht. In der bildenden Kunst des Alten Orients können Vorderansicht, Seitenansicht und Draufsicht bruchlos ineinander übergehen […], so kommt im Alten Ägypten Schönheit zustande“ (Avemarie, 632f).

24 Ralf Frisch: Widerstand und Versuchung: Als Bonhoeffers Theologie die Fassung verlor, Zürich 2022.

25 Brief 16.7.1944, DBW 8, 532f.

26 Ralf Frisch: Er. Ein Zwiegespräch mit dem Mann, der Jesus erfand, Zürich 2020.

27 Ebd., 23f.

28 Am Ende scheint nach der Darstellung bei Frisch nicht nur Bonhoeffers Theologie aus der „Fassung geraten“, sondern wenigstens zeitweise eigentlich sein Glaube verloren gegangen. Eine ähnliche Vermutung äußerte mir gegenüber schon 1982 Franz Hildebrandt, Bonhoeffers Freund Ende der 1920er und bis Mitte der 1930er Jahre. Die Gefängnisbriefe hatten Hildebrandt nachhaltig irritiert. Die spannungsvolle (aspektive) Reflexion Bonhoeffers kann nicht getrennt werden „von der Existenz, in der sie gewonnen ist“ (Bonhoeffer). Seine „Existenz“ war ein lebenslanges „glauben lernen“.

29 DBW 6, 34.

 

Über die Autorin / den Autor:

Pastor Dr. Bernd Vogel, Jahrgang 1957, Studium in Erlangen, Göttingen, Heidelberg und Edinburgh, Pastor in Neuenkirchen/Lüneburger Heide, Gimte/Hann. Münden, Schulpastor in Lüneburg, Mentor für Studierende der Rel.pädagogik in Lüneburg, Pastor in Jesteburg, 2018 Dissertation in Hannover über Dietrich Bonhoeffers Verständnis von "glauben lernen"; ­Autor von ­Büchern über die Bedeutung Dietrich Bonhoeffers für uns heute, Glaubenskurs mit Dietrich Bonhoeffer, Werkbuch ­Paulus und zum Prädikantendienst (letztere zusammen mit Petra Roedenbeck-Wachsmann).

Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 1/2023

2 Kommentare zu diesem Artikel
20.07.2023 Ein Kommentar von Hans G. Ulrich Ein hervorragender Artikel, der klar macht, was Bonhoeffer an verheißungsvoller Aufgabe uns weitergegeben hat. Das hilft sehr gegen die verwirrten Interpretationen zu Bonhoeffers "Versuchung" und "Religionskritik" , die zur Diskussion stehen, aber eher vergessen werden sollten.
23.01.2023 Ein Kommentar von Heinrich Sueselbeck Großartige Einladung Bonhoeffer zu folgen, um Glauben zu lernen. Danke
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