Rund zehntausend Menschen in Deutschland beenden ihr Leben innerhalb eines Jahres aus eigener Hand. Wahrscheinlich sogar weit mehr, angesichts der Fülle von Krisen auf vielen Feldern: dem Klimawandel, der Finanzkrise, dem Krieg in der Ukraine und dergleichen mehr. Doch hinter den nackten Zahlen der Statistik liegen stets persönliche Schicksale. Richard Riess nähert sich dem Phänomen des Suizids auf (sozial-)psychologischen, psychiatrischen und theologischen Wegen.

 

Die Wahrheit ist, dass mir auf Erden nicht zu helfen war.“  (Heinrich von Kleist)

An die zehntausend Menschen – sagen uns die Statistiken – werden auch heuer wieder und hierzulande durch eigene Hand sterben. Im Frühsommer schon und dann erneut im Spätherbst erreicht die Kurve der Suizidhandlungen ihre Kulmination. An die zehntausend Menschen. Wahrscheinlich sogar weit mehr – angesichts der Fülle von Krisen auf all den vielen Feldern, dem Klimawandel, der Finanzkrise, dem Krieg in der Ukraine und dergleichen mehr. Hinter der abstrakten Zahl verbirgt sich allerdings der alarmierende Zustand, dass im Laufe eines Jahres konkret eine kleine Stadt zwischen Südbaden und Schleswig-Holstein stirbt. Mehr noch. In einer so anonymen Zahl steckt bei näherem Zusehen die Tatsache, dass bei uns jede Stunde ein bestimmter Mensch seiner Begabung, seinem Namen, seiner Biographie selbst ein Ende setzt. Nimmt hier ein blindes Schicksal seinen Lauf? Welche Macht schlägt den Menschen so in ihren Bann?

Ich rede mit mir selber, schrieb die Mutter von Peter Handke, weil ich sonst keinem Menschen mehr etwas sagen kann. Manchmal kommt es mir vor, als wäre ich eine Maschine. Ich würde gern irgendwohin fahren, aber wenn es finster wird, bekomme ich Angst, nicht mehr hierherzufinden. Morgens liegt ein Haufen Nebel, dann ist alles so still. Jeden Tag mache ich dieselben Arbeiten, und in der Früh herrscht wieder Unordnung. Das ist ein unendlicher Teufelskreis. Ich möchte wirklich gerne tot sein

Die stille Absicht dieses und der vielen anderen verstummenden, verzweifelnden Menschen will in der Tat den Tod. Warum den Tod? Warum dieses Ende? Eine Fülle von Literatur aus unterschiedlichsten Blickrichtungen sucht seit Jahrzehnten schon diesen Fragen auf die Spur zu kommen. Mit Begriffen wie „Selbstmord“ und „Selbsttötung“, „Selbstvernichtung“, „Suizidalität“ und „Freitod“ versuchen Forscher immer wieder einen Vorgang zu fassen, der nach wie vor auf viele Vorurteile trifft. Seit Émile Durkheims grundlegender Studie über den Selbstmord (1897) hat sich das Dunkel offensichtlich kaum gelichtet.

 

Die Berührung eines Tabus

Ein renommierter Wissenschaftler wie Erwin Ringel konnte es vor längerer Zeit bereits an der Wiener Bevölkerung erleben, auf welch bissigen, bösen und brutalen Widerstand die Beschäftigung mit dem Thema Suizid stößt. Anscheinend ist um die ganze Thematik eine breite Tabuzone gelegt. An Suizid zu denken, von Suizid zu reden, über Suizid zu schreiben, grenzt – analog zum Thema Sexualität im Viktorianischen Zeitalter – anscheinend weithin an Obszönität. So undurchlässig freilich die Mauern des Schweigens, so undurchdringbar der Mantel äußeren Widerstandes auch sein mögen, so ungebeten meldet sich doch die innere Wirklichkeit immer wieder zu Wort:

Ich weiß nicht,“ sagt beispielsweise eine Frau von sich – „wie stark potentielle Selbstmörder daran ‚denken‘. Ich muss sagen, ich habe nie viel darüber nachgedacht. Dennoch ist der Selbstmord immer gegenwärtig. Für mich ist er eine ständige Versuchung, die nie nachlässt.“

In der Tat. Irgendwann stellt sich wahrscheinlich jedem Menschen diese Frage. Alfred Alvarez, englischer Literaturkritiker und Schriftsteller, hat schon vor Jahren mit seiner Arbeit „Der grausame Gott“ und mit seinem eigenen Leben ein bewegendes Beispiel dafür geliefert. Aufgerüttelt durch den Tod der Lyrikerin Sylvia Plath, mit der er befreundet war, hat er dem Phänomen des Suizids, seiner geschichtlichen, psychodynamischen und sozialen Problematik nachzugehen gesucht. Das Bewegende an dieser Arbeit ist nicht allein die sensible Analyse der „geschlossenen Welt des Selbstmordes“, ihrer Irrtümer, Theorien, Stimmungen. Es ist auch nicht allein die Sprache, die Alvarez seinerzeit für die letztlich sprachlose Situation findet. Das Bewegende an ihr ist vor allem der Todesgang dessen, der das Tabu berührt, die Tatsache, dass der Autor selbst in den Sog des Todes gerät und – nach dem missglückten Suizidversuch und nach seiner Genesung – sozusagen von der Grenze her schreibt:

Ich hatte geglaubt, Sterben würde etwas Ähnliches sein: eine Gesamtschau des Lebens, in der alle Krisen ihre Klärung, Rechtfertigung und Entschuldigung fänden, eine Art Jüngstes Gericht in den Windungen und Schaltstellen des Gehirns. Statt dessen klaffte ein Loch im Bewußtsein, eine Runde Null, ein Nichts. Ich war betrogen worden … Das Gefühl, betrogen und beschädigt worden zu sein, habe ich heute noch nicht völlig überwunden, auch die Beschämung über meine Torheit ist noch nicht vorbei. Schließlich ist aber auch Vergessen eine Art Erfahrung. Nichts ist mehr so wie früher, seitdem ich an mir selbst, am eigenen Leib gespürt habe, daß der Tod das Ende ist, nicht mehr und nicht weniger …“

 

Falsche Verklärung selbstgewählten Sterbens

Die Erfahrung, „dass der Tod das Ende ist, nicht mehr und nicht weniger“, vermag – so trivial es auch klingt – in der Tat die Wirklichkeit des Sterbens und des Todes zurechtzurücken, wo sie verrückt, verleugnet oder verklärt wird. So hängt sich an Gestalten von Dichtern, Künstlern, Genies, die „freiwillig“ in den Tod gingen (wie Paul Celan oder Cesare Pavese, Virginia Woolf oder Ernest Hemingway), sehr leicht ein Hauch von Faszination. Durch ihr „selbstgewähltes“ Sterben scheinen ihr Leben und ihr Werk eher noch an Geltung und Endgültigkeit zu gewinnen. Der Suzid rückt damit – einer bis in den Geniekult der Romantik reichenden Sicht zufolge – in die Nähe von Kunst. Selbst Albert Camus hat dieser Auffassung Ausdruck verliehen: „Eine solche Tat bereitet sich in der Stille des Herzens mit demselben Anspruch vor wie ein bedeutendes Werk“.

Das mag im einzelnen Fall vielleicht vom sog. „Freitod“ zu sagen sein. In der Verallgemeinerung freilich wird der Suizid dem dunklen Tal der Ohnmacht, Trostlosigkeit und Verbitterung entrückt und zur heldenhaften Tat hochstilisiert.

Allzu leicht wird ein gefährdeter Mensch, einmal in eine solche Krise geraten, dann auch die suggestive Kraft empfinden, den Sog sozusagen, der vom Suizid ausgeht. Goethes Roman „Die Leiden des jungen Werther“ (1774) hat zu seiner Zeit und in späteren Epochen bekanntlich ganze Epidemien von Suiziden und Suizidversuchen ausgelöst. Weder Verklärung noch Verleugnung vermögen anscheinend das Unheimliche zu bannen, das da im Menschen und zwischen den Menschen vorherrscht.

 

Krankheit zum Tod

Wenn der „Freitod“ zu Faszination und gerade nicht zu Freiheit führt, wo ist dann Befreiung von dieser „Tendenz zum Tode“ (A. Alvarez)? Wie ist der Bann aufzuheben?

Als wichtiger Schritt zur Entzauberung und Entmythisierung des Suizidgeschehens erscheint in wachsendem Maße die Einsicht, die von einschlägigen Wissenschaften wie Psychiatrie und Persönlichkeitsforschung, Biochemie und Sozialwissenschaften gestützt wird: Dass der Suizid das Symptom einer den ganzen Menschen erfassenden „Krankheit zum Tode“ (Kierkegaard) ist, einer Krankheit, die eng mit dem sozialen Kontext verflochten ist und wiederum auch auf den sozialen Kontext zurückwirkt. Es sieht so aus, als ob mit dieser Einsicht etwas von dem Bann zu nehmen wäre, der vom Suizid auf die Gesellschaft und auch auf die christliche Gemeinde ausgeht, und als ob mit Hilfe der Kategorie „Krankheit“ der ganze Komplex von Vereinsamung, Verteufelung und Verzweiflung eine gewisse Entlastung erfahren würde. Eine solche Einsicht konnte sich sich im Laufe der Zeit wohl auch deshalb durchsetzen, weil Entwicklungen in der Psychiatrie, nicht zuletzt der Depressionsforschung, ein gutes Stück fortgeschritten sind.

Ein Indiz dafür scheint mir auch die Arbeit des Psychiaters Gerhard Irle gewesen zu sein, die – obgleich vor längerer Zeit schon erschienen, dennoch – bis dato nichts von ihrer Aussage eingebüßt hat. In ihr gibt der Autor wichtige und weiterführende Auskunft über „die bedrückende Wirklichkeit“, die im Alltag wie im Wissenschaftsbereich als „Depression“ bezeichnet wird. Er skizziert den Krankheitscharakter der Depression anhand von anschaulichen Fallbeispielen und Krankengeschichten, den Stand der Forschung, die elementarsten Formen der Erkrankung, Ablauf und Auswirkung der Krankheit auf die Umwelt, ein Spektrum der Behandlungsmöglichkeiten und nicht zuletzt das Erleben der an Depression Erkrankten.

 

Depression und Suizid

Für unseren Zusammenhang ist gerade dieser Punkt von besonderer Bedeutung: die Beziehung von Depression und Suizid. Der Zusammenhang ist augenfällig. Von der Patientengruppe beispielsweise – lautet bereits ein Befund aus dem Jahr 1970 –, die zum Los-Angeles-Suicide-Prevention-Center Kontakt hatten, waren 92% der Suizidanten als klinisch depressiv eingestuft. Auch im deutschen Sprachraum wurde diese Annahme mehr und mehr vertreten, „dass Suizidalität“ – so das Resümee – „allemal das Kennzeichen einer seelischen Krankheit ist, einer Entwicklung, die kaum je einmal ‚normal‘ genannt werden kann. Auch Selbstmordversuche, die nicht mit dem Tod enden, und solche, die sehr deutlich eine Appellfunktion enthalten, sind letzten Endes zumindest unter die depressiven Reaktionen einzureihen.“

Wenngleich bei der Definition von „Depression“ genau zu differenzieren ist – wie etwa zwischen einer affektiven Kurzschlusshandlung und einer lang hingezogenen Suizidalität –, so gibt es doch auch gemeinsame Kennzeichen der Krankheitsformen: die mehr oder weniger versteckten Ankündigungen etwa, die anhaltende Angst und Aggressionshemmung und nicht zuletzt auch die Ambivalenz, das Hin- und Hergerissenwerden zwischen Leben und Tod und Tod und Leben. Der Drang zum Tod ist freilich eher ein Drang von diesem Leben weg oder – genauer – von dieser Form des Lebens weg. Deswegen ist auch ein so verbreiteter Satz wie „Reisende soll man nicht aufhalten“ in fataler Weise falsch. Eine so eindeutige und unzweifelhafte Entscheidungsfähigkeit gibt es bei depressiv Erkrankten nicht:

Auch der Gedanke daran, dass jeder Mensch die Freiheit haben müsse, in den Tod zu gehen, wann immer er sein Leben für unerträglich halte, ist unverantwortlich. Hat man gelernt, dass es kaum einen Menschen gibt, der in völliger Freiheit in den selbstgewählten Tod geht, dann merkt man, wie weit sich solche Theorien von der Wirklichkeit entfernt haben.“ (Gerhard Irle)

Mit dieser Sicht, die auch für viele andere Erfahrungen und Auffassungen von Depression steht, wird keineswegs einem Determinismus das Wort geredet. Im Gegenteil. „Ich möchte gerne,“ – so Irle seinerzeit, stellvertretend für viele Kollegen – „dass wir zu sehen lernen, wie stark in suizidales Erleben der Bezug zur Umwelt hineingeflochten ist, wie sehr man sich täuscht, wenn man zu denken geneigt ist, das geschehe etwa völlig abgekapselt in der Isoliertheit und Einsamkeit eines Selbst.“

 

Das Selbst im Suizid – und die Anderen

Die Erkenntnis, dass der Entschluss zum Selbstmord keineswegs in der „Einsamkeit des Selbst“ gefasst wird, sondern dass dabei soziale Faktoren in entscheidendem Ausmaß im Spiel sind und schließlich auch die Funktion von Auslösern übernehmen, verbindet alle einschlägigen Forschungsansätze. Mehr und mehr wird deutlich, dass der depressiv gestimmte und suizidgefährdete Mensch sehr oft durch eine lange Leidensgeschichte an andere Menschen gekoppelt ist. Auch ein Lösungsversuch gegenüber dieser Leidensgeschichte wie etwa der Rückzug auf sich selbst und die Reduktion auf engsten Raum lässt noch die latente Sehnsucht nach Kontakt und Kommunikation erahnen. Selbst das Haar, das wie ein Vorhang das Gesicht verdeckt, oder selbst der heruntergelassene Fensterladen am Haus sind noch Signale an die Anderen. Der allmähliche Verlust des „Anderen“ und der „Welt“ im weitesten Sinne – sei es ein Wert, der Glaube, ein Mensch, sei es Gott – hinterlässt ein tiefes Gefühl von Verlorenheit, Vereinsamung und Verarmung.

Die Bedeutung des sozialen Kontextes und der Kultur für Suizidgefahr und mangelndes Selbstwertgefühl wird denn auch in zahlreichen empirischen Untersuchungen betont,wie beispielsweise schon in dem klassischen Sammelband von Charles Zwingmann. Die soziale Problematik, „die fortschreitende Isolierung von bedeutungsvollen sozialen Beziehungen“, ist auch die Pointe der Untersuchung von Jerry Jacobs. Der Autor, ein amerikanischer Soziologe, legte in dieser Arbeit seinerzeit eine Analyse des Suizids von Jugendlichen vor. Sie sollte Antwort geben auf die Frage: „Welche Erfahrung veranlasste den einzelnen zu glauben, dass Selbstmord der ‚einzige Ausweg‘ sei …“ Mit Hilfe von biographischem Material (Abschiedsbriefen, Diagrammen der Lebensgeschichte, Fallberichten, Interviews mit Angehörigen und anderem) suchte er in den 1960er Jahren bereits, die Absichten, Motive und Werthaltungen von fünfzig jungen Menschen herauszuarbeiten. Seine Haupthypothese war dabei:

Die Suizidversuche bei Jugendlichen haben ihren Ursprung darin, dass der Jugendliche meint, er habe einen Prozess durchgemacht, in dessen Verlauf er immer stärker sozial isoliert wurde … Der Jugendliche muss erlebt haben:

eine langandauernde Problemgeschichte (von der Kindheit bis zum Einsetzen der Adoleszenz),

die Eskalation von Problemen (seit Eintritt ins Jugendalter),

das fortschreitende Versagen verfügbarer Anpassungstechniken zur Bewältigung der alten und neuen wachsenden Probleme, das zur immer stärkeren sozialen Isolierung des Jugendlichen führt,

eine kettenreaktionsartige Auflösung aller restlichen bedeutungsvollen sozialen Beziehungen in den Tagen und Wochen vor dem Suizidversuch.“

 

Stummer Schrei nach dem gnädigen Nächsten

Sozialtheorien – wie von Jacobs und anderen vertreten – erfassen sicher nur eine Seite eines höchst komplexen Sachverhaltes. Um hier die Debatte über das Verhältnis von genetischem Erbe, innerer Entwicklung und äußeren Einflüssen in Erinnerung zu rufen, sei nur hypothetisch gesagt: Vermutlich lässt sich eine so komplexe Realität, wie es das seelische und insbesondere das suizidale Geschehen darstellt, gar nicht anders vorstellen als im Sinne eines Regelkreises, einer „wechselseitigen Regulation“ (Erik H. Erikson). Auch ein Vorgang wie der Suizid reflektiert stets die beiden Seiten der Wirklichkeit: das „Innere“ des Menschen und das „Äußere“ seiner Welt als Auslöser und Adressat. So gesehen wird der Schritt des Menschen, der Suizid begeht oder zu begehen versucht, auch in seiner Stummheit noch zu einem Ausdruck von Sprache“: einem Signal, einer Geste, einem Zeichen des Alarms.

Ein Autor wie Erwin Stengel, Psychiater, Psychoanalytiker und Pionier auf dem Felde der Suizidorschung, hat diesen Aspekt seinerzeit in seiner Abhandlung über „Selbstmord und Selbstmordversuch“ vor allem herausgearbeitet und unter anderem Motive und Ursachen, das Verhältnis des Suizids zu psychischen Störungen, die Psychodynamik von Suizidhandlungen und die Möglichkeit ihrer Verhütung und der Vorbeugung untersucht. Von grundlegender Bedeutung ist danach seine inzwischen klassisch gewordene Unterscheidung zwischen „Selbstmord“ und „Selbstmordversuch“ wie seine Auffassung vom Selbstmordversuch als Appell geworden:

Selbstmordversuche wirken als Alarmsignale und als Hilferuf, auch wenn ein solcher Appell nicht bewusst beabsichtigt war … Jeder Selbstmordversuch hat eine derartige Appellfunktion … Was immer ihre bewusste Motivation sei – die Selbstmordhandlung wirkt als eine Mitteilung, als eine Kommunikation seelischen Notstands.“

Dieser „seelische Notstand“ drückt sich zuallererst in einem Nichtwissen des Suizidgefährdeten aus, in seinem Zwiespalt und seiner Zerrissenheit:

Die meisten Menschen, die Selbstmordhandlungen begehen, wollen nicht entweder sterben oder leben. Sie wollen beides gleichzeitig, gewöhnlich das eine mehr – oder viel mehr – als das andere. Es ist ganz unpsychologisch, von Menschen in Krisenzuständen zu erwarten, dass sie genau wissen, was sie wollen, und entsprechend handeln.“

 

Seelischer Notstand

Die Krise – darin sind sich die Suizidforscher aller Schulrichtungen wohl einig – entspringt nicht der Laune eines Augenblicks. Sie ist vielmehr Ausdruck einer mitunter lebenslangen Krisenhaftigkeit. Was sich in vielen Konflikten und an den Wendepunkten des Lebens immer wieder konstelliert, wächst sich schließlich in einem – vielleicht gänzlich unbedeutenden – Augenblick erst zu einer Krise aus.

Ihr Arzt“, berichtet Alvarez von Sylvia Plath, „verschrieb Beruhigungsmittel und traf Vorkehrungen, um sie an einen Psychotherapeuten zu überweisen. Da sie bezüglich amerikanischer Psychiatrie ein gebranntes Kind war, zögerte sie einige Zeit, ehe sie schriftlich um eine Konsultation bat. Ihre Depressionen besserten sich nicht, der Brief wurde schließlich abgeschickt. Es nützte nichts. Entweder verirrte sich ihr Brief oder der des Therapeuten, der einen Termin vereinbarte, anscheinend brachte der Postbote das Schreiben an eine falsche Adresse. Die Antwort des Therapeuten traf einen oder zwei Tage nach ihrem Tod ein. Dies war nur ein Glied in der Kette von Unfällen, Zufällen und Fehlern, die erst mit ihrem Tod endete.“

Das Bestürzende an diesem Bericht ist der Gedanke, dass das Schicksal eines ganzen Lebens scheinbar doch von der Laune eines Augenblicks abhängt. Wäre Sylvia Plath in den Tod getrieben worden, wenn sich ihre Problematik nicht durch unglückselige Umstände auf einen oder auf zwei Tage zusammengedrängt hätte? Kann man denn heute nicht Kriterien finden, um das Ausmaß solcher Krisen nicht schon im Vorhinein abzuschätzen?

 

Suizidtendenzen vor dem Suizid

An dieser Stelle vor allem lag und liegt das Verdienst von Erwin Ringel, einem der bedeutendsten Repräsentanten der Suizidforschung im 20. Jh. Wie in vielen anderen Veröffentlichungen beschäftigte er sich auch in seiner Abhandlung „Selbstmord – Appell an die Anderen“ mit der Entstehung und Entwicklung von Suizidtendenzen und – in großem Engagement – mit der Verhütung und Vorbeugung durch Einzelne und durch die Gesellschaft. Ein geradezu klassisches Instrument gegen die Krise des Suizids hat Ringel vor allem mit der Konzeption des „präsuizidalen Syndroms“ geschaffen. Es gründet sich ursprünglich auf die Untersuchung von 745 geretteten Suizidenten und hat sich seitdem als Gradmesser bei der Beurteilung der Frage bewährt, ob und in welchem Ausmaß bei einem Menschen die Gefahr eines Suizids zu befürchten ist. Die drei Elemente des präsuizidalen Syndroms sind im einzelnen:
Einengung der persönlichen Möglichkeiten, der Gefühlswelt, der zwischenmenschlichen Beziehungen, der Wertwelt,
Aggression, gehemmte und gegen die eigene Person gerichtete Aggression,
Selbstmordphantasien mit den drei Stufen: der Vorstellung, tot zu sein – Hand an sich zu legen – bis ins Detail das Vorhaben durchzuplanen.

Das präsuizidale Syndrom stellt in seiner komplexen Gestalt freilich keine eigene Erkrankungsform dar. Es ist vielmehr Anzeichen verschiedenster Erkrankungen oder psychischer Strömungen wie Alkoholismus, unbewältigtes Altern, endogene Depression, depressive Neuroseformen und dergleichen. Die Neurose etwa – nicht minder ernst zu nehmen als die endogene Depression – kann zu einer ausgesprochen „neurotischen Lebensverunstaltung“ führen, sich über verschiedene Stadien wie Verkümmerung und Verlust der expansiven Kräfte, Stagnation, und Regression hinziehen und schließlich im Suizid enden. Ausdruck dieses Prozesses ist beispielsweise das Gedicht eines Patienten:

Mein Tagwerk ist:
mich zu begraben.
Geduldig erlernen meine Hände
das Handwerk,
Stein um Stein auf meine

Wünsche häufen,
bis die Seele erstickt ist.
Ich verwende Granit,
um mein Herz zu erdrücken,
und den feinen Sand,
um meine Adern zu stopfen.
So wächst von Stunde
zu Stunde
der Hügel über
mir,
bis alles nur mehr

ein Denkmal ist
für mein Leben, das nie
stattgefunden hat.“

Ringel hat mit der Formulierung des präsuizidalen Syndroms das tiefe Gefühl der Frustration und der Sinnlosigkeit zu fassen versucht. Er hat damit in der Folgezeit aber auch zu einer Reihe weiterer Forschungen angeregt, um die Rätselhaftigkeit von Suizidgefahr und Suizidgeschehen diagnostisch aufzuklären und prognostisch vorauszusehen.

Derlei Projekte der Psychiatrie sind für die ärztliche Praxis nachgerade von großer Hilfe. Sie steht ja oftmals vor dem Problem, das Risiko einer Suizidgefahr in kürzester Zeit zu erkennen und daraus die notwendigen Konsequenzen zu ziehen. Und doch ist damit noch nicht die ganze Schwere des Themas erfasst, die ganze Tiefe der Krise tangiert, dieser „Tendenz zum Tode“ und seiner menschlichen, unmenschlichen – und übermenschlichen Tragik.

 

Der Mythos vom grausamen Gott

Warum“ – um noch einmal Alvarez zu zitieren –, „warum tötete sie sich dann? Zum Teil war ihre Tat wohl ein Hilfeschrei, der unseligerweise verhallte. Doch unternahm Sylvia damit auch einen letzten verzweifelten Versuch, den Tod, den sie in ihren Gedichten so oft zitiert hatte, auszutreiben. Ich deutete bereits an, dass sie möglicherweise aus zwei Gründen anfing, zwanghaft über den Tod zu schreiben. Erstens erlebte sie durch die Trennung von ihrem Mann den gleichen schneidenden Schmerz und Verlust wieder, den sie als Kind empfunden hatte, als ihr Vater starb und sie gewissermaßen im Stich ließ. Zweitens glaubte sie wahrscheinlich, dass ihr Autounfall im vergangenen Sommer sie freigebe: Sie hatte ihren Tribut entrichtet, sich als Überlebende ausgewiesen und konnte nun darüber schreiben. Doch, wie ich an anderer Stelle sagte, die Kunst ist für den Künstler nicht notwendig Therapie; indem er seinen Vorstellungen Ausdruck verleiht, wird er nicht automatisch von ihnen befreit … Ich vermute, dass sie am Ende ein für allemal Schluss machen wollte mit dem Todesthema. Doch das einzige Mittel, das sie sah, um zu diesem Ziel zu gelangen, war, ‚die grässliche kleine Allegorie noch einmal auszuführen’.“

Alvarez hat den Tod von Sylvia Plath als Tribut zu deuten versucht, als eine Art Opfer, das – wie in der Vorzeit – auch heute noch an eine Gottheit zu entrichten ist. Um ein so ungeheuerliches Geschehen im Menschen und zwischen Menschen überhaupt fassen zu können, hat er auf ein zumindest für die Zeitgenossen überraschendes und scheinbar unzeitgemäßes Mittel zurückgegriffen, den uralten Mythos vom „grausamen Gott“ und vom Menschenopfer. Erweist sich aber dieses Mythologumenon denn heute noch als ein taugliches Mittel, um über den Menschen im Zeitalter der Zweiten Aufklärung anthropologische und theologische Auskunft zu geben?

Die Sozialtheorie des Suizids weist – wie wir sahen – auf eine wichtige Voraussetzung menschlichen Lebens hin: auf die schicksalhafte Verflochtenheit des Menschen mit und in der Gesellschaft. Abhängigkeit und Angewiesenheit auf den Anderen sind sozusagen ein Ur-Datum des Menschen. Die Beziehung zu „bedeutungsvollen Anderen“ erstreckt sich indessen nicht allein auf die Außenwelt. Sie ragt auch tief in die Innenwelt der menschlichen Persönlichkeit hinein. Bedenkenswert ist im Zusammenhang mit dem Suizidgeschehen auch folgender Befund, den amerikanische Psychiater erarbeitet haben: Bei 95% der untersuchten Fälle war es vor dem Suizid zum Tod oder zum Verlust von wichtigen Bezugspersonen, von Eltern, Geschwistern oder Ehepartnern gekommen, bei 75% hatten sich die Sterbefälle ereignet, ehe die Patienten erwachsen waren. Tatsächlich haben nicht wenige Menschen – wie Hemingway, Majakowskij, Pavese und andere – ihren Vater schon als Kinder verloren. Wie aber kann ein Toter eine solche Macht ausüben, dass ein lebender Mensch – oftmals sogar erst viele Jahre später – ihm in den Tod zu folgen trachtet?

Wahrscheinlich kann uns in dieser komplizierten Problematik die Theorie und die klinische Praxis der Psychoanalyse noch am ehesten weiterhelfen. Es ist hier nicht der Ort, um auf ihre Konzeption näher eingehen zu können. Ein Kernsatz von Sigmund Freud sei jedoch zitiert:

Wenden wir uns zunächst zur Melancholie, so finden wir, dass das überstarke Über-Ich, welches das Bewusstsein an sich gerissen hat, gegen das Ich mit schonungsloser Heftigkeit wütet, als ob es sich des ganzen im Individuum verfügbaren Sadismus bemächtigt hätte. Nach unserer Auffassung des Sadismus würden wir sagen, die destruktive Komponente habe sich im Über-Ich abgelagert und gegen das Ich gewendet. Was nun im Über-Ich herrscht, ist wie eine Reinkultur des Todestriebes, und wirklich gelingt es diesem oft genug, das Ich in den Tod zu treiben.“

Offensichtlich gibt es einen Aspekt, eine Instanz oder eine Macht (der Name spielt hier keine Rolle), also etwas im Menschen, was sich auch gegen den Menschen wenden kann und – rachsüchtig und rasend – nicht eher ruht, bis es sein Ziel erreicht: sein vermeintliches „Recht“ um jeden Preis – und sei es um den Preis der Zerstörung seiner selbst. Der „grausame Gott“ ist dann, genau genommen, eine archaische Chiffre für ein gleichermaßen archaisches, nämlich „von Anfang an“ gegebenes anthropologisches Grundmuster: Der Mensch ist keineswegs freier Herr von freien Entscheidungen. Er ist keineswegs „Herr im eigenen Hause“ (S. Freud). Der ganze Mensch ist ebenso Subjekt wie Schauplatz der Auseinandersetzung, einer Auseinandersetzung von widerstreitenden Mächten und mit widerstreitenden Mächten, die er im Inneren wie im Äußeren seiner Welt erlebt. Suizid ist, so gesehen, ein äußerster Ausdruck dieser Auseinandersetzung. Man sollte jedenfalls diese Zusammenhänge vor Augen haben, wenn man allzu schnell von „Freitod“ spricht.

 

Das Bild des segnenden Christus

Dem christlichen Glauben ist diese Grunderfahrung nicht fremd. Auch er weiß – freilich in seiner ihm eigenen Sprache – von Gewalten zu reden, die den Menschen verklagen und schließlich verzweifeln lassen.Er weiß um die Gewalt des Gewissens, der Sünde und der Schuld. Unter „dem Gesetz“ zu leben bedeutet letztlich, zum Tod verdammt zu sein. Teufel, Tod und Sünde können dann in der Tat auch als „Mächte“ erlebt werden, die sich gegen den Menschen wenden und – rachsüchtig und rasend, wie sie sind – nicht eher ruhen, bis sie ihr Ziel erreichen, die Zerstörung des Menschen:

Die Angst mich zu verzweifeln trieb,
dass nichts denn Sterben bei mir blieb,
zur Höllen musst ich sinken.“

(Martin Luther)

Martin Luther – dies sei hier nur angedeutet – hat gerade auch von der Wirklichkeit des „Zornes Gottes“ und von dem „verborgenen Gott“ gesprochen. Er hat diese Wirklichkeit nicht verdrängt. Warnend und werbend hat er aber auch deutlich zu machen versucht, dass sie nicht das letzte Wort ist und dass sie nicht das letzte Wort hat. Im Leiden, Sterben und Auferstehen des Menschensohnes wird unmissverständlich Wirklichkeit, was der „offenbarte Gott“ im tiefsten Grunde will: das Leben des Menschen, nicht seinen Tod. Um es denn auch im Wortlaut Luthers deutlich zu machen:

„… Darauf müssen wir aus sein, wenn es um das Thema der Gerechtigkeit und Gnade geht, sobald man, wie das für den Christen der Fall ist, mit Tod, Sünde und Gesetz zu tun hat, dass man da von keinem Gott weiß, sondern nur den fleischgewordenen und menschlichen Gott ergreift …“

Das bedeutet, dass beispielsweise die Kirchen auf allen Gebieten der menschlichen Zuwendung auch und gerade an Suizidgefährdeten den gnädigen Gott bezeugen sollten. Die Seelsorge an Suizidgefährdeten ist denn auch wie kaum ein anderes Arbeitsfeld der Kirche besonders dazu aufgefordert, ein von jeglicher Forderung und von jeglicher Leistung freies Evangelium zu verkündigen und zu verkörpern. Für den Seelsorger und die Seelsorgerin bedeutet das nicht zuletzt auch dieses: Dass er und sie sich selbst eine jeweils neue Freiheit gegenüber dem Suizidgeschehen schenken und sich von falschen bürgerlichen Konventionen und Klischees in Kirche und Gesellschaft freimachen lassen. Denn größer kann man sich das Evangelium für das Leben wie für das Sterben des Menschen nicht denken, als dass der Schrecken des „grausamen Gottes“ in uns durch den Segen des Gekreuzigten schon überwunden ist.

Jochen Klepper hat dies als letzte Tagebucheintragung vor seinem Tod noch festgehalten:

Gott ist größer als unser Herz. –
Das Wort soll uns noch in den Tod begleiten.
Wir sterben nun – ach, auch das steht bei Gott –
Wir gehen heute Nacht gemeinsam in den Tod.

Über uns steht in den letzten Stunden das Bild des
Segnenden Christus, der um uns ringt.
In dessen Anblick endet unser Leben.“

 

Literatur

Peter Handke: Wunschloses Unglück. Frankfurt, st.146

Alfred Alvarez: Der grausame Gott. Hamburg 1984

Albert Camus: Der Mythos von Sisyphos, rde 90

Gerhard Irle: Depressionen. Stuttgart 1974

Charles Zwingmann: Selbstvernichtung. Frankfurt 1965

Jerry Jacobs: Selbstmord bei Jugendlichen. München 1974

Erwin Stengel: Selbstmord und Selbstmordversuch. Frankfurt 1969

Erwin Ringel: Selbstmord – Appell an die Anderen. München 1974

Sigmund Freud: G.W. XIII

Martin Luther: WA 75-77

Jochen Klepper: Unter dem Schatten deiner Flügel. Stuttgart 1955

 

Über die Autorin / den Autor:

Prof. Dr. theol. Dipl.-Psych. Richard Riess, Jahrgang 1937, emeritierter Professor für Prakt. Theologie an der Augustana-Hochschule Neuendettelsau; besondere Schwerpunkte: Beziehung von Theologie und Medizin sowie zu den Humanwissenschaften, zur zeitgenössischen Literatur, zur bildenden Kunst und zur Spiritualität in der modernen Welt, zahlreiche Veröffentlichungen.

Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 11/2022

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