Was ist eigentlich »evangelikal«? Und: Hat das Etikett nicht allzu häufig in kirchlichen Debatten die Funktion auszuschließen, womit man sich nicht weiter befassen mag. Michael Herbst ist davon überzeugt, dass auch die evangelikale Tradition etwas aufbewahrt, was unsere Kirche nicht ohne Schaden vergisst. Sie bewahrt es nicht allein auf, aber eben in einer sehr deutlichen und konstanten Weise. In einem zweiteiligen Aufsatz erläutert Michael Herbst zunächst, was unter »evangelikal« zu verstehen ist und räumt mit einigen typischen Missverständnissen und Fehleinschätzungen auf. Im zweiten Teil soll es dann um das gehen, was der »Markenkern« der evangelikalen Bewegung ist und was daraus für die Kirche zu lernen wäre.


»Evangelikal« – Schlaglichter auf eine Vokabel

Was meinen wir eigentlich, wenn wir »evangelikal« sagen? Ist z.B. die Liedzeile aus dem Worship-Song »Mighty to save«1 von der australischen Mega-Church Hillsong die Antwort auf die Frage, was wir meinen, wenn wir etwas oder jemanden als »evangelikal« bezeichnen? Evangelikal wäre dann eine Frömmigkeit, die auf diesen Ton gestimmt ist: Sie sänge von Gott mit Vorliebe als von »meinem« persönlichen Gott. Sie bekennt diesen Gott vor allem in seiner königlichen Macht. Und sie erwartet von ihm nicht weniger als persönliche Rettung und Heil. Das tut sie mit durchaus modernen, erlebnisstarken und gefühlsbewegenden Mitteln.

Oder haben wir bei den Evangelikalen eher an das zu denken, was der Usedom-Krimi »Engelmacher«2, sozusagen mitten in der Pommerschen Landeskirche sich vorstellte: den jungen Gärtner Christoph, den wir einmal tief ins Gebet versunken erleben, danach als Demonstranten gegen Abtreibung vor einer Klinik in Heringsdorf, insgesamt aber als einen nicht furchtbar erwachsenen oder lebenstauglichen Menschen, von dem Sophie, die Tochter der Kommissarin, nur sagt, dass er eben auf so einem schrägen Jesus-Trip sei. Evangelikal steht damit für eine freudlose, moralisch strenge Lebenshaltung, die sich quer zu dem stellt, was einer liberalen Gesellschaft als inzwischen selbstverständliche Errungenschaft gilt.

Oder sollten wir eher einen Blick auf die Exit Polls der US-Präsidentenwahl werfen und uns von der »Washington Post« informieren lassen, dass 81% der weißen Evangelikalen in den USA ihre Stimme Donald Trump gegeben haben?3 Evangelikal würde sich dann vermählen mit politisch rechten bis ultrakonservativen und populistischen Positionen, die etwa in der amerikanischen Politik mit der versprochenen Abschiebung von illegalen Immigranten zu tun hat. Man reibt sich verwundert die Augen, wieso ausgerechnet die Frommen es mit dem lebenslustigen Casinobesitzer und Frauenverächter Trump halten, aber man wäre vielleicht auch nicht völlig überrascht: Evangelikale marschieren eben gerne auf der rechten Seite.

Vielleicht verstehen die Leser ein wenig meine Kopfschmerzen. Evangelikalen fliegen in der kirchlichen und darüber hinaus in der größeren, besonders der medialen Öffentlichkeit nicht sofort alle Herzen zu. Der presbyterianische Pfarrer John Ortberg aus San Francisco brachte die Außenwahrnehmung so auf den Punkt: Woran denkt man im Silicon Valley, wenn man von Christen im Sinne von Evangelikalen hört? »They think of moralistic, homophobic, anti-science, judgmental bigots who don’t believe in dinosaurs but do believe they are the only ones going to heaven and secretly relish the idea that everyone else is going to hell.« Und er fügte sofort die kirchliche Innenperspektive hinzu: »That’s why the word Christian is kind of a complicated word living in the Bay Area, because you want to say, ›Well, I’m not one of those!‹«4 Manchen überkommt plötzlich eine Sympathie mit Petrus am Kohlenfeuer: »Ich kenne diese Menschen nicht!«

Oder wir müssten doch noch einen zweiten Blick wagen und genauer hinschauen: Was ist die Kraft und Faszination dieser Evangelikalen? Was kann man lernen von Menschen, die offenkundig ihren Glauben verbindlicher leben wollen? Gibt es hier etwas zu sehen, was für unsere Gemeinden sogar zukunftsweisend sein könnte? Ich habe diese Fragen für mich einmal so zusammengefasst: 1. Sind in der evangelikalen Tradition Aspekte des Christseins und Kircheseins aufbewahrt, auf die eine sich reformatorisch verstehende Kirche nicht verzichten kann (oder: sollte)? 2. Gibt es in der evangelikalen Praxis Strategien zur Entwicklung vitaler Gemeinden, die fruchtbare Anstöße für die Zukunft von Kirche und Gemeinden anlässlich der massiven Transformation kirchlichen Lebens geben können?

Ich werde versuchen, diese Fragen gegen Ende so präzise es mir möglich ist zu beantworten. Meine Überlegungen werde ich mit den folgenden Abschnitten darlegen:

1. Was ist die evangelikale Bewegung?
2. Probleme mit einem Container- und Abgrenzungsbegriff
3. Der Markenkern: Was hat die Bewegung denn zu bieten?
4. Veränderungen: Nichts bleibt, wie es ist
5. Merkmale vitaler Gemeinden
6. Glanz und Elend evangelikaler Gemeindeprojekte in der Landeskirche
7. Folgerungen: Was ist denn nun mit unseren Fragen?


1. Was ist die evangelikale Bewegung?

Diesen Abschnitt kann ich kurz halten – Hansjörg Hemminger hat dazu schon das Nötige gesagt.5 Ich erinnere nur an einige wenige grundlegende Aspekte:

Der Begriff hat eine lange und komplexe Vorgeschichte. In Deutschland ist er erst etwa seit Mitte der 1960er Jahre verbreitet und markiert ein theologisch eher konservatives Spektrum von hoch engagierten, hoch religiösen Menschen und Gemeinschaften, organisiert etwa in der Evang. Allianz oder im Gnadauer Gemeinschaftsverband, in Freikirchen, freien Werken und auch in unabhängigen Gemeinden. Es ist vor allem ein ganz bestimmtes thematisches Cluster, das den Kern evangelikaler Überzeugung ausmacht. Der englische Historiker David Bebbington hat 1989 sein Quadrilateral formuliert, also den Zusammenhang von vier theologischen Merkmalen, die so etwas wie die DNA der evangelikalen Bewegung in England ausmachen:6

• Biblicism: eine besonders ausgeprägte Liebe zur Bibel und Achtung ihrer Autorität in allen Fragen des Glaubens und Lebens
• Crucicentrism: eine theologische Konzentration auf die Rechtfertigung des verlorenen Menschen allein durch das sühnende Opfer Christi am Kreuz. Jesus starb stellvertretend für uns und sühnend zu unseren Gunsten
• Conversionism: eine kräftige Betonung der persönlichen Hinwendung zum Glauben, d.h. die Notwendigkeit der Umkehr und einer lebensprägenden persönlichen Beziehung zu Jesus Christus
• Activism: aus dieser persönlichen Beziehung erwächst auch die Aufforderung, das eigene Leben neu formen zu lassen und in Wort und Tat ein Zeuge Jesu Christi zu werden.

Die Bibel, das Kreuz Jesu, die Bekehrung und der aktiv gestaltete persönliche Glaube sind die Kernstücke des evangelikalen Kosmos. Man wird auch sagen müssen, dass das jeweils auch Oppositionen aufmacht gegen eine historische Relativierung der Bibel, gegen eine Theologie von Kreuz und Auferstehung ohne Sühnevorstellung, gegen eine Taufwiedergeburtslehre oder die Bejahung einer distanzierten Kirchlichkeit und gegen den Verzicht auf Mission. Ich komme darauf später noch zurück.

Wenn man auf die deutsche Religionslandschaft schaut und fragt, wer zur evangelikalen Familie gerechnet werden kann, dann findet man neben einigen wenigen unabhängigen Gemeinden drei größere Strömungen, die sich in Landeskirchen, Freikirchen und freien Werken finden:

• Da ist zuerst der klassische, eher pietistisch geprägte Zweig, für den etwa die landeskirchlichen Gemeinschaften stehen, aber auch die Methodisten, freie evangelische Gemeinden, die Lausanner Bewegung, die SMD u.a., auch nach meiner Einschätzung ein Teil der landeskirchlichen Gemeinden, die sich unter dem Label »missionarischer Gemeindeaufbau« sammeln.
• Dann gibt es einen charismatisch-pfingstlichen Zweig, wiederum in manchen landeskirchlichen Gemeinden, in der Geistlichen Gemeindeerneuerung, aber auch in den pfingstlichen Freikirchen wie dem Mülheimer Verband oder im Bund freikirchlicher Pfingstgemeinden.
• Und schließlich gibt es einen bekenntnisevangelikalen Zweig, der bibeltheologisch oder auch konfessionell konservative Positionen vertritt, früher in der Bekenntnisbewegung, in jüngerer Zeit auch im Netzwerk Bibel und Bekenntnis, das Ulrich Parzany ins Leben gerufen hat, nach dem Streit mit Michael Diener u.a. über die Bewertung unterschiedlicher Einsichten in die Bibel hinsichtlich gleichgeschlechtlicher Partnerschaften.7

Natürlich gibt es hier auch Überschneidungen, die Unterscheidungen sind nicht vollständig trennscharf.

Die Zahlen für die gesamte Bewegung sind äußerst unsicher und eigentlich nur zu schätzen. Man kann ca. von 1-1,5 Mio. evangelikalen Christen in Deutschland ausgehen. Bei insgesamt etwa 23 Mio. Protestanten ist das eine Minderheit, aber eine sehr stimmgewaltige und engagierte Minderheit. In anderen Ländern sieht es sicher anders aus: In den USA kann man von etwa 80 Mio. evangelikalen Christen ausgehen, das ist ein knappes Viertel der Bevölkerung. Hansjörg Hemminger schätzt, dass etwa 28% der weltweiten Christenheit zur evangelikalen Großfamilie gehören.8


2. Probleme mit einem Container- und Abgrenzungsbegriff

Ich muss leider noch einmal auf meinen Bedarf an Aspirin zurückkommen. Das ist alles bisher relativ einfach zu beschreiben: Wir können kirchensoziologisch eine bestimmte Strömung im Protestantismus lokalisieren und definieren. Allerdings ist der Begriff »evangelikal« für Freund und Feind hochgradig emotional »aufgeladen« und obendrein doch nicht so präzise, wie er auf den ersten Blick erscheint. Bereits Christoph Morgner nannte ihn einen Containerbegriff9, der höchst Verschiedenes, teils auch Gegensätzliches beherbergt. Und zugleich ist der Begriff »evangelikal« ein Abgrenzungsbegriff10, wenn nicht sogar ein Kampfbegriff. Beides gilt sowohl für den evangelikalen Binnenverkehr als auch für die Zuschreibungen von außen, sei es durch Kirche und Theologie, sei es durch die Medien. Geht es um die Evangelikalen, dann wird es ungemütlich im Haus der Kirche und meist unfreundlich in der medialen Welt.

Ich glaube, diese Gemengelage hat auch mit den sekundären Themen zu tun, die sich an den Evangelikalismus anlagern und über die es mitten in dieser religiösen Großfamilie sehr verschiedene Auffassungen gibt, bei denen sich aber in der Regel die lautstarken Varianten Gehör verschaffen. Ich nenne ein paar dieser Themen und weiß: die Stichworte genügen, denn die Debatten sind bekannt. Es geht dann um Fragen der Rolle der Frau, besonders auf der Kanzel, um Kreationismus, Intelligent Design oder Evolution, um die Berechtigung historisch-kritischer Bibelexegese, natürlich um Homosexualität und insbesondere um öffentliche Segenshandlungen für gleichgeschlechtliche Partnerschaften, aber auch um Fragen des Lebensrechts. Wird der evangelikale Glaube vorwiegend von diesen Themen affiziert, dann löst er innen und außen heftige Kontroversen aus.

Ich spiele es einmal exemplarisch durch, indem ich versuche, das evangelikale Spektrum zu beschreiben, aber auch an der einen oder anderen Stelle Korrekturen in der Wahrnehmung des evangelikalen Kosmos anzuregen. Ich tue das, indem ich versuche, drei Fragen an die evangelikale Szene zu stellen und Antworten anzubieten.


2.1 Ist der Evangelikalismus fundamentalistisch?

Unter Fundamentalismus verstehe ich die neuzeitlich-rationalistische Sicht auf die Bibel, die nicht nur deren normativen Status hinsichtlich des Evangeliums betont, sondern generell in allen Fragen, die in der Bibel angesprochen werden, eine absolute Irrtumslosigkeit behauptet.11 Ähnlich wie Reinhard Hempelmann12 und Wolfgang Huber (beim umstrittenen »Christival«)13 würde ich zwischen Evangelikalismus und Fundamentalismus deutlich unterscheiden, auch wenn ein kleiner Teil des evangelikalen Spektrums zum Bibelfundamentalismus neigt.14

Für die Mehrheit ist die Bibel norma normans und sicher auch in umstrittenen Fragen verpflichtender als in anderen, eher liberalen protestantischen Traditionen, aber es wird in der Regel eine solide historische Arbeit am Text nicht abgelehnt und es kann unterschieden werden, in welchen Fragen die Bibel für uns verbindlich ist und in welchen nicht. Einfacher gesagt: Die Bibel ist für sie weder ein Physikbuch noch ein Lehrbuch der Pädagogik, aber sie zeigt uns in Gesetz und Evangelium, was wir brauchen, um getrost leben und sterben zu können. Im Übrigen dient der Begriff Fundamentalismus als k.o.-Argument: Die Nähe zu aggressiven politischen Fundamentalismen wird dabei mehr unterstellt als belegt und beendet in der Regel das Gespräch, bevor es begonnen hat.


2.2 Ist der Evangelikalismus missionarisch erfolgreich oder nicht?

Anders gefragt: Wachsen die Gemeinden, die evangelikal geprägt sind, im Unterschied zu solchen, die es nicht sind? Hier wird die Antwort noch komplizierter. Zum einen beobachte nicht nur ich, dass das Missionarische zwar auf den Fahnen geschrieben steht, aber manchmal auch eher Rhetorik als Lebensstil ist. Ähnliches beobachten in den Niederlanden Henk de Roest und Sake Stoppels.15 Es kostet dann doch mehr Überwindung, den Glauben im Alltag offensiv zu bezeugen. Zum anderen gibt es evangelikale Gemeinden mit beeindruckendem Gottesdienstbesuch und vielen Ehrenamtlichen. Und es ziehen manche missionarischen Formate auch Menschen an, die dem Glauben fern stehen oder kirchlich eher sehr locker verbunden sind. Man kann das sicher für die Arbeit mit Kursen zum Glauben sagen.16 Es gibt ein Wachsen gegen den Trend.17 Es gibt nachweislich nicht nur Wachstum durch Abwanderung oder gar Abwerbung (freilich auch das).

Aber unter dem Strich ist es auch für evangelikal geprägte Gemeinden schwierig, Außenstehende zu erreichen, zu gewinnen und zu binden. Sie scheitern dabei auch (nicht nur, aber auch) an der eigenen Gefangenschaft im Milieu.18 Sie möchten zuweilen geradezu verzweifelt missionarisch sein, sind aber kulturell so binnenorientiert, dass es Menschen von außen schwer fällt, sich in solchen Gemeinschaften zu beheimaten. Und sie scheitern nach meiner Überzeugung auch daran, dass unsere Lage als Christenheit in einer atheisierenden Kultur schwierig ist.

Neues Interesse und tieferes Vertrauen gegenüber der christlichen Botschaft können offenbar nur über lange Wege der Vertrauensbildung gewonnen werden. Dennoch sehe ich, dass Gemeinden mit missionarischer Intention in einem kleineren, aber beachtenswerten Ausmaß Menschen erreichen, die sonst keinen Kontakt zu Kirche und Glauben finden.


2.3 Ist der Evangelikalismus politisch rechtslastig?

Das gehört zu den beliebtesten medialen Wahrnehmungsmustern (und es wird natürlich durch Zahlen wie bei der Wahl Donald Trumps plausibilisiert!). Aber es ist ein trügerisches Muster. Natürlich gibt es die Liaison zwischen dem theologisch Konservativen und dem politisch eher nach rechts neigenden Lager. Für viele Fromme war und ist die Union politische Heimat, ob es die AfD ist oder wird, kann ich noch nicht einschätzen. Liane Bednarz hatte in der FAZ starke Verbindungen zwischen konservativ-katholischen und evangelikalen Christen und der AfD, insbesondere Beatrix von Storch nachweisen wollen, etwa mit Verweis auf Tendenzen in IDEA oder die verbindende Ablehnung von Islam, Gender-Gedankengut und Flüchtlingsströmen in Deutschland.19 Andererseits sehe ich gerade »evangelikal« formatierte Gemeinden ebenso wie andere engagiert im Einsatz für Flüchtlinge, in der Gastfreundschaft bis hin zum Kirchenasyl. Es mag vielleicht eine leichte »rechtsschiefe« Verteilung evangelikaler Wähler geben, aber sicher keine Identität von Evangelikalen und Rechtspopulisten. Es gibt seit jeher auch das genaue Gegenteil: Der bekannte Herner Superintendent Fritz Schwarz wies gerne auf sein persönliches Dilemma hin: Er stehe politisch in der Friedensfrage links von der SPD und in der Frage des Lebensschutzes rechts von der CDU.20

Ich möchte hier aber besonders auf die deutlichen Verschiebungen im amerikanischen Evangelikalismus hinweisen, den die New Yorker Kulturwissenschaftlerin Marcia Pally untersucht hat. Was immer die Exit Polls bedeuten, sie geben nicht die Entwicklungen der letzten Jahre wieder. Für die »New Evangelicals« wie Jim Wallis, Bill Hybels, Rick Warren, Joel Hunter oder Shane Claiborne gilt, dass sie gerade nicht zum rechten republikanischen Spektrum oder gar zur Tea Party zählen. Insgesamt stehen sie heute für den größeren Teil der evangelikalen Bewegung in den USA. Sie stehen für die Trennung von Staat und Kirche, engagieren sich für illegale Einwanderer, gegen Sex Trafficking, für Menschen in prekären sozialen Verhältnissen, für Inklusion und gegen jede Form von Rassismus, für die Reform des Gefängniswesens, für mehr Umweltschutz und vieles mehr.21 Dabei verbinden sie die direkte fachkundige gemeindliche Diakonie wie im Care Center der Willow Creek Community Church22 mit der politischen Intervention bis hinein in das Oval Office. Ein Wendepunkt in der politischen Haltung der Evangelikalen war die Präsidentschaft von George W. Bush und der Irak-Krieg, den etwa Bill Hybels deutlich ablehnte, und die aufgedeckte Folterpraxis.23 Marcia Pally zieht eine bemerkenswerte Bilanz: »Der Aktivismus der New Evangelicals legt nahe, dass religiöse Werte die liberale Demokratie nicht untergraben, sondern stärken.«24


2.4 Eine erste Schlussfolgerung

Das evangelikale Lager ist so gesehen kein Lager, sondern eine Mixtur höchst unterschiedlicher Gruppen und Kreise, zusammengehalten durch einige geistlich-theologische Grundüberzeugungen, deren Ausprägung aber höchst unterschiedlich ausfällt.

Was ist die Pointe? Sie ist äußerst zwiespältig: Manches in der evangelikalen Szene ist so, dass ich jedenfalls wie John Ortberg laut rufen möchte: Ich gehöre nicht dazu. Ich bin weder Fundamentalist noch Kreationist und ich halte die Ressentiments gegenüber Flüchtlingen und Minderheiten nicht nur für unappetitlich, sondern für etwas, das mit dem Glauben an Jesus Christus unvereinbar ist. Ich liebe die Bibel, aber sie wird mir durch die historische Forschung nicht weniger lieb. Mit manchen Verwandten möchte man einfach nicht zusammen gesehen werden. Das ist die eine Seite.

Die andere Seite, und damit bin ich vielleicht im Zentrum dessen, was ich sagen möchte, angekommen: Ich habe den Eindruck, dass die Etikettierung von Einstellungen, Haltungen und Praktiken als »evangelikal« zuweilen die Funktion hat, bestimmte Fragestellungen auf Abstand zu halten und sich mancher Debatte schlicht dadurch zu entziehen, dass man sie als evangelikal be- und abwertet. Man kann ja undifferenziert die gesamte Szene mit ihren Extremen identifizieren. Und man kann sich dann auch einige aus meiner Sicht nötige Debatten vom Hals halten. Etwas ist »evangelikal«, das bedeutet dann im kirchlichen Seelenhaushalt: »Ich muss mich damit nicht befassen.« Es markiert so eine kirchliche »Ekelschranke«. Das allerdings geschieht zu einem hohen Preis. Hinter der Schranke könnte ja Wichtiges warten. Denn ich bin davon überzeugt, dass auch die evangelikale Tradition etwas aufbewahrt, was unsere Kirche nicht ohne Schaden vergisst. Ich möchte deutlich sagen, dass sie es nicht allein aufbewahrt, und dass es all das auch andernorts geben mag, aber sie bewahrt es in einer sehr deutlichen und konstanten Weise auf.

(Teil II und Schluss im nächsten Heft)


Bibliografie

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Anmerkungen:

1 https://songselect.ccli.com/Songs/4591782/mighty-to-save/viewlyrics = CCLI Song # 4591782: »Mighty to save« von Ben Fielding und Reuben Morgan © 2006 Hillsong Music Publishing – aufgesucht am 15. November 2016.

2 http://www.tvspielfilm.de/kino/filmarchiv/film/engelmacher-der-usedom-krimi,8560491,ApplicationMovie.html – aufgesucht am 15. November 2016.

3 An dieser Stelle ist es wichtig zu erwähnen, dass sich mehr als 100 evangelikale Führungspersonen in einem offenen Brief gegen die Flüchtlings- und Abschottungspolitik von US-Präsident Donald Trump gewandt haben. Der Brief erschien am 8. Februar 2017 als ganzseitige Anzeige in der »Washington Post«.

4 http://14852-presscdn-0-64.pagely.netdna-cdn.com/wp-content/uploads/2016/09/Vision-Weekend-2016-John-Ortberg.pdf – aufgesucht am 15. November 2016.

5 Vgl. das vorzügliche neue Buch zur Sache: Hans-Jörg Hemminger 2016. Ältere Literatur zum Thema: Vgl. Erhard Berneburg 1997; Friedhelm Jung 2001; Fritz Laubach 1972; Stephan Holthaus 2007. Zur Debatte in der Praktischen Theologie: Vgl. Henk de Roest und Sake Stoppels 2012, 260-279, auch zur Frage einer möglichen »Evangelikalisierung« der Volkskirchen.

6 Vgl. David W. Bebbington 1989. Vgl. auch die neuere Studie: David W. Bebbington 2013.

7 Vgl. Ulrich Parzany 2016.

8 Vgl. Hans-Jörg Hemminger 2016, Position 355. So auch Hugh McLeod und Werner Ustorf 2003, 219, Martin Greschat 2005, 45,

9 Zitiert bei Hans-Jörg Hemminger 2016, Position 2427.

10 Vgl. Ibid., Position 2316.

11 In der Chicago-Erklärung zur Irrtumslosigkeit der Bibel von 1978 heißt es: »Wir verwerfen die Ansicht, dass die Unfehlbarkeit und Irrtumslosigkeit der Bibel auf geistliche, religiöse oder die Erlösung betreffende Themen beschränkt seien, sich aber nicht auf historische und naturwissenschaftliche Aussagen bezögen.« Vgl. http://www.kath-akademie-bayern.de/tl_files/Kath_Akademie_Bayern/Veroeffentlichungen/zur_debatte/pdf/2007/2007_05_hempelmann.pdf – aufgesucht am 14. November 2016.

12 »Der Hauptstrom des Evangelikalismus unterscheidet sich jedoch vom Fundamentalismus.« Vgl. http://www.kath-akademie-bayern.de/tl_files/Kath_Akademie_Bayern/Veroeffentlichungen/zur_debatte/pdf/2007/2007_05_hempelmann.pdf – aufgesucht am 14. November 2016.

13 Vgl. http://www.ezw-berlin.de/html/15_1486.php – aufgesucht am 15. November 2016.

14 Vgl. Ibid., 633-677, auch 1761ff mit der berechtigten scharfen Kritik, im Bibelfundamentalismus trete de facto die Bibel in Konkurrenz zu Jesus Christus als dem einen Wort Gottes.

15 Vgl. Henk de Roest und Sake Stoppels 2012, 269.

16 Vgl. Jens Monsees/Carla J. Witt und Martin Reppenhagen 2015; Jens Monsees/Carla J. Witt, Martin Reppenhagen und Michael Herbst 2013, 213-222.

17 Vgl. Wilfried Härle/Jörg Augenstein/Sibylle Rolf und Anja Siebert 2008.

18 Vgl. Wolfgang Huber 2010, 68-78; Heinzpeter Hempelmann 2013.

19 http://www.faz.net/aktuell/politik/inland/putin-orban-und-afd-rechte-christen-finden-politische-heimat-14043650.html?printPagedArticle=true#pageIndex_2 – aufgesucht am 15. November 2016.

20 Vgl. Fritz Schwarz 1985, 91.93.

21 Vgl. das Evangelical Manifesto von 2008: »… a fuller recognition of the comprehensive causes and concerns of the Gospel … engaging the global giants of conflict, racism, corruption, poverty, pandemic diseases, … by promoting reconciliation, encouraging ethical servant leadership, assisting the poor, caring for the sick, and educating the next generation.« Abdruck bei Marcia Pally 2010, 112.

22 Vgl. Michael Herbst 2013, 10-13.

23 Vgl. z.B. Marcia Pally 2010, 102f.

24 Ibid., 28.


 

Über die Autorin / den Autor:

Prof. Dr. Michael Herbst, Jahrgang 1955, nach dem Studium der Evang. Theologie in Bethel, Göttingen und Erlangen Wiss. Mitarbeiter bei Prof. Dr. M. Seitz (Erlangen), Promotion über »Missionarischen Gemeindeaufbau in der Volkskirche«, Gemeindepfarrer in Münster, Krankenhausseelsorger in Bethel, seit 1996 Prof. für Prakt. Theologie in Greifswald und seit 2004 Direktor des IEEG.

Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 8/2017

2 Kommentare zu diesem Artikel
22.09.2017 Ein Kommentar von Klaus Paulsen Ein Kommentar von Klaus Paulsen / 22.09.2017 Eine gute und profunde Argumentation, die Raum lässt für andere Überzeugungen und dennoch nicht ohne Mitte ist. Danke für diesen Beitrag. Klaus Paulsen
22.09.2017 Ein Kommentar von Klaus Paulsen Eine gute und profunde Argumentation, die Raum lässt für andere Überzeugungen und dennoch nicht ohne Mitte ist. Danke für diesen Beitrag. Klaus Paulsen
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