In der Arbeit an und mit biblischen Texten geht es nicht nur um die Entschlüsselung von ­deren historischer Bedeutung, sondern theologisch auch immer um deren Vergegenwärtigung. Helge Martens unternimmt hier den Versuch, das literarische Hiobbuch als »Protokoll« eines Trauerprozesses bzw. der »Bearbeitung« eines traumatischen Verlustes zu ­lesen. Dabei legt er die Betonung auf Hiobs schmerzlichen Abschied von seinen bisherigen Sinnkonstruktionen und fragt nach den Bedingungen neuer Lebensmöglichkeiten im ­Anschluss an potentiell traumatisierende Widerfahrnisse.


1. Einordnung

Die Literatur zum Buch Hiob ist unüberschaubar. Die atl. Forschung bemüht sich um redaktionsgeschichtliche und literarkritische Analysen, Bezüge zur Umwelt des AT, Stellung innerhalb der weisheitlichen Literatur und philologische Klärungen der textlich strittigen Stellen.1 Theologisch (atl. und systematisch) geht es dabei immer wieder um die Frage des Sinns des Leidens Hiobs und der Theodizee.2 Berühmt wurden die Auseinandersetzung mit dem Hiobbuch bei E. Bloch3 und C.G. Jung4. Die Literatur hat sich des Hiobmotivs immer wieder angenommen5 und psychologische Zugänge arbeiten z.B. mit Hiobs angeblich uneingestandenem Wunsch, seine Kinder zu töten6 oder analysieren das Buch im Kontext des »Dramadreiecks« in der Transaktionsanalyse.7 Und natürlich ist damit gearbeitet worden, das Buch Hiob als Trauerprozess bzw. als Bearbeitung eines traumatischen Erlebnisses zu verstehen – und auch für die seelsorgerliche Arbeit fruchtbar zu machen.8

In der Arbeit an und mit biblischen Texten geht es nicht nur um die Entschlüsselung von deren historischer Bedeutung, sondern theologisch auch immer um deren Vergegenwärtigung, Theologie geschieht immer in Zeitgenossenschaft. Insofern spiegeln die Interpretationen auch des Hiobbuches Zeitthemen. So lautet der Titel des Hiobbuches von Margarete Susmann: »Das Buch Hiob und das Schicksal des jüdischen Volkes«; es erschien 1946 in Zürich. Im letzten Quartal des letzten Jahrhunderts wurde die sozialgeschichtliche und politisch orientierte Interpretation wichtig. So thematisiert etwa R. Albertz9 in einem sozialgeschichtlichen Ansatz das Hiobbuch als Zeugnis der Krise weisheitlicher Frömmigkeit der Oberschicht, die in den sozioökonomischen Krisen des 5. Jh. in die Gefahr sozialen Abstiegs geriet. Und J. Ebach10 zieht 1984 aus dem Buch den Schluss der Notwendigkeit einer präsentischen Eschatologie, dass der Messias »heute« komme, was sich auch zu erweisen hätte »im Durchbrechen von Gewaltstrukturen.«11 Es scheint jetzt eher die Zeit der individuellen Zugänge zu sein, der seelsorgerlich-psychologischen.

Auch ich möchte versuchen, das (literarische, fiktive) Hiobbuch als »Protokoll« eines Trauerprozesses bzw. einer »Bearbeitung« eines traumatischen Verlustes zu lesen – mit vielleicht aber doch einigen anderen Akzentsetzungen: Ich möchte die Bilder und Dialoge des Buches als Externalisierung interner Verarbeitungsprozesse von von außen induzierter Krisen verstehen. Dabei interpretiere ich die Dialoge mit den Freunden und die Gottesrede als Bilder eines inneren Dialog Hiobs, der den (schmerzlichen) Abschied seiner bisherigen Sinnkonstruktionen bedeutet, und frage nach den Bedingungen neuer Lebensmöglichkeiten im Anschluss an potentiell traumatisierende Widerfahrnisse; insofern frage ich also nach »Gott« im Hiobbuch.

Ich orientiere mich dabei nicht an den eine Zeit lang favorisierten Phasenmodellen der Trauerprozesse12, denn die sind zu starr, entsprechen nicht der Vielfalt der Ausdrucksmöglichkeiten von Trauer bzw. der Bearbeitung traumatischer Erfahrungen. Und schon das Nebeneinanderlegen der verschiedenen Entwürfe der Phasenmodelle zeigt, dass sie nur begrenzt kompatibel sind. Dennoch: Trauer ist unstrittig ein Prozess, der von einer Vielzahl physischer, psychischer, mentaler Symptome und im Verhalten sich äußern kann13 – je nach Situation und Persönlichkeit und nicht in einzelnen, abgrenzbaren Phasen, sondern auch hier unterschiedlich und u.U. in vielen Schleifen.

Mir scheint es eine gute Möglichkeit zu sein, das Hiobbuch als einen solchen Trauerprozess zu lesen und damit eine Zugangsmöglichkeit zu seinem existentiellen Sinn zu erhalten. Ich nehme dabei das Buch als Einheit, denn nur mit dem Dialogteil zusammen wird das Buch »komplett« und (psychologisch) stimmig.

So wie ich »Trauerprozess« hier als »hermeneutische Brille« aufsetze, gehe ich theologisch von folgenden Voraussetzungen aus: Die Frage nach Gott bzw. das Reden »von« und »über« Gott ist »Codierung« existentieller Erfahrungen und nicht Reflexion eines An-und-für-sich-Seins Gottes, denn solche wären gar nicht menschenmöglich. Gott »ereignet« sich in der Konfrontation Hiobs mit seiner ihn auf das äußerste herausfordernden Wirklichkeit. Gott »ist« die Frage nach und die Möglichkeit der Erfahrung von Sinn angesichts des traumatisierenden Schicksals, das Hiob widerfuhr, ist religiöse »Codierung« von Kontingenzbewältigung. Dabei ist die personale Rede von Gott insofern angemessen, als der Mensch wesentlich Person ist und von und in personalen Bindungen lebt. Personale Rede von Gott ist eine Möglichkeit der »Codierung« existentieller Erfahrungen, aber »einen Gott, den es gibt, gibt es nicht« (Bonhoeffer). Damit ist auch das Theodizeeproblem erledigt, denn ein Gott, den es nicht »gibt«, kann und muss sich nicht rechtfertigen oder gerechtfertigt werden. Aber es bleibt die existentielle Frage, wie man mit und trotz unsäglichen Leidens (weiter-)leben kann. Darum geht es in diesem Trauerbewältigungsprozess des Hiob, in welchem sich Gott »ereignet«, ausgedrückt in den Gottesbildern, die gewissermaßen die Externalisierung eines internen Vorgangs der Kontingenzbewältigung und der Sinnsuche angesichts der erfahrenen Wirklichkeit darstellen.


2. Höllischer Prolog im Himmel und auf Erden

Es beginnt (in der älteren, in Prosa gefassten) Rahmenerzählung – nach einer Vorstellung des Protagonisten, seiner Rechtschaffenheit und Frömmigkeit – mit der Himmelsszene (V. 6ff): Gott und Satan »wetten«, ob Hiob seinem Glauben treu bliebe, wenn er alles verlöre. Die Initiative geht dabei von Gott aus, und schon das zeigt, dass in zwei Bilder aufgeteilt ist, was aber zusammengehört, denn die Wirklichkeit ist nicht teilbar.14 Satan unterstellt, Hiob sei nur treu, weil Gott ihn mit Reichtum gesegnet habe (V. 9-11). Diese »Wette« ist ein treffendes Bild für die Absurdität des Schicksals Hiobs: Sein Leid hat keinen Sinn. Es ist wohl eine »Prüfung«, aber nicht in dem Sinne, dass hier ein – gar »teuflischer« – »Gott« einen Menschen prüfte bzw. zuließe, dass er auf die Probe gestellt würde, sondern sie ist ein Bild dafür, dass extreme Leidsituationen die (Über-)Lebensfähigkeit von Menschen auf die äußerste »Probe« stellen können: Ausgang ungewiss! Das »Teuflische« daran ist (V. 9-11) nicht die Unterstellung, Hiobs Frömmigkeit sei Berechnung, sondern dass in der Tat der Schmerz über den Verlust eines geliebten »Objektes« einhergehen kann mit »(partiellem) Ich-Verlust«, so eine psychoanalytische Perspektive in der Trauerforschung15 bzw. als Sinnverlust auch »das Selbst- und Wirklichkeitsverständnis der Betroffenen« erschüttert, so eine Sicht der Kognitionspsychologie.16

So ist dieser (erste) Teil des Prologs im Himmel ein Bild für das, was kommen wird: Hiob wird alles verlieren, zunächst seine Herden, und seine Kinder kommen ums Leben, dann verliert er Gesundheit, soziale Bindungen, Selbst-, Welt- und Gottesbild. Der Verlust ist auch die totale Destruktion seiner bisheriger Sinnkonstruktionen und seines Selbstwertgefühls.

Zunächst verliert er seine Herden und alle seine Kinder kommen bei einer Naturkatastrophe ums Leben, aber Hiob versucht zunächst sein Selbst-, Welt- und Gottesbild aufrecht zu erhalten: »Der Herr hat's gegeben, der Herr hat's genommen, der Name des Herrn sei gelobt!« (V. 21c)17. Um sich aufrecht zu halten, hält er seine bisherigen Sinnkonstruktionen aufrecht, das gibt Halt, könnte aber auch der Versuch sein, einer sozialen Norm zu entsprechen, die eben von einem Frommen Frömmigkeit erwartet18, ist aber auch Ausdruck eines Schocks.

In einer zweiten Himmelszene (2,1ff) bekommt Satan nun auch die Erlaubnis, Hiob selbst direkt anzugreifen. Hiob wird mit Geschwüren von Kopf bis Fuß geschlagen (V. 7), m.a.W.: Die Trauer Hiobs somatisiert, sein Körper »weiß« den Zusammenbruch schon, Hiobs Bewusstsein hält aber am Glauben weiter fest. Diese Haltung isoliert ihn: Seine Frau erträgt es nicht und fordert: »Fluche Gott und stirb!« (V. 9c), vielleicht, weil diese stumme Trauer ihres Mannes ihre Trauer (ist sie nicht die Mutter der Kinder?) unerträglich verstärkt. Vielleicht ist ja aber die Frau auch eine (erzählerische) Repräsentanz einer in Hiob, noch unbewusst, sich neben der körperlichen Seite ausdrückenden Stimme der Wut und Verzweiflung. Aber immer noch hält Hiob an seiner Sinnkonstruktion fest: »Das Gute nehmen wir von Gott, und das Böse sollten wir nicht annehmen?« (V. 10c). Was durchaus heilsame Haltung sein kann, nämlich auch das Übel aus »Gottes Hand« zu nehmen, d.h. in dieses Leben auch trotz und mit dem unabänderlichen Übel einzuwilligen, kommt hier aber viel zu früh, wie der Fortgang des Buches ­anzeigt.

Hiobs Freunde kommen, ihn zu trösten, sind erschrocken, dass sie ihren abgemagerten, kranken Freund kaum wiedererkennen und setzen sich schweigend zu ihm (2,11-13), sie leiden mit ihm und das ist tröstlich. Diese Nähe bricht der Trauer Hiobs eine neue Bahn, nicht länger verdeckt, somatisierend: Jetzt ist da ein Schutzraum, der Hiob erst ermöglicht, seine Trauer in sein Bewusstsein zu lassen und seine Klage, seine Wut, seine Verzweiflung, seinen (depressiven) Wunsch, nie geboren zu sein, herauszuweinen (Kap. 3). Und das ist gut so und heilsam und lässt in allem, was Hiob in der Erzählung sagt, erkennen, was Trauer auch ist: ein durch und durch egoistisches Gefühl (das meine ich deskriptiv und nicht wertend): An keiner Stelle beklagt Hiob die Ungerechtigkeit des vorzeitigen Todes seiner Kinder, er klagt nur über sein Schicksal.

Die dann folgenden Gespräche zwischen Hiob und seinen Freunden (Kap. 4-37) kann man verstehen als Bemühungen der Freunde, ihn zu trösten, ihn zum Verstehen anzuregen im Kontext damaliger Sinnkonstruktionen, nämlich des Tun-Ergehen-Zusammenhangs, die an und für sich richtig oder falsch sein mögen, aber auf jeden Fall und offensichtlich Hiob in seinem Schmerz nicht erreichen können – die Freunde sind bei sich und ihren Konstruktionen – aber sie sind nicht bei Hiob (was den Schmerz verstärkt), vielleicht werden sie auch deshalb von Gott am Ende getadelt (42,7).


3. Not-wendige Selbstgespräche

Mit scheint es aber auch möglich – und reizvoll –, den Dialog mit den Freunden als inneren Dialog Hiobs zu lesen. Die Positionen, die sie vertreten, sind ja nicht dem Hiob fremde Konstruktionen, sie sind vielmehr jene, die auch seinem bisherigen Leben Sinn und Halt gaben. Klagen, der Tun-Ergehens-Zusammenhang sei in seinem Falle außer Kraft gesetzt, setzt voraus, dass diese Sicht bis dahin auch in ihm in Kraft war. Und kein Mensch wirft seine Identität in wenigen Tagen auf den Aschehaufen. Dieser innere Dialog ist dann eine Auseinandersetzung mit jener Grundüberzeugung bzw. jenem Grundvertrauen, von dem er bis dahin lebte und das nun einstürzte wie das Haus, das seine Kinder begrub. Der in Hiobs Position in der Gestalt der Reden der »Freunde« zur Sprache kommende Tun-Ergehens-Zusammenhang, verbunden mit der anderen Stimme in ihm, mit der er Gott anklagt und seine Unschuld beteuert, ist entsprechend eine – und sei sie noch so illusorisch – »Hoffnung« auf eine Wiederherstellung des status quo ante. Man kann diese »Hoffnung« gleichzeitig aber auch interpretieren als eine immer wieder sich meldende Leugnung des ihm widerfahrenen Unglücks – denn es kann nicht sein, was nicht sein darf!

Das »Gespräch« als inneren Dialog Hiobs zu verstehen, dafür spricht auch, dass die Positionen der Stimmen gelegentlich austauschbar sind: Hatte z.B. die »Zophar«-Stimme in Kap. 20 behauptet, Gott strafe die Bösen gewiss, und hatte die »Hiob«-Stimme dem in seiner Gegenrede (Kap. 21) widersprochen, so ist es die »Hiob«-Stimme, die in 24,18ff die Zuversicht äußert, die Bösen würden von Gott gestraft.

Das »Gespräch« verläuft in vielen Schleifen – so ist das in übergroßem Schmerz. Immer wieder kreist alles um das Verstehen-Wollen-Müssen, Leben-Wollen und zugleich nicht können, Wut und Verzweiflung, Kampfeslust und Depression. Insofern mag man konstatieren, es fehle ein logischer Fortschritt in den »Gesprächen« wie manche Exegeten feststellen, aber es gibt einen existentiellen: Man fängt immer wieder von vorne an und tut es doch nicht, das Fragen, Grübeln, Sich-Ängstigen kommt immer wieder und trifft doch auf einen Veränderten. Die Klangfarbe der hundertsten Warum-Frage ist eine andere als die der ersten.

Alles ist da in den Reden der »Hiob«-Stimme: Bitte, Klage, Anklage, Wut, Verzweiflung und Selbstbehauptung. Und in den »Gegenreden« der anderen Stimmen: das Erschrecken über die Rebellion der »Hiob«-Stimme, die Erinnerung an das, was ihm bisher galt und doch weiter gelten müsste. In der Hiob-Stimme finden sich aber auch Sätze der Hoffnung, die den anderen Stimmen sich entgegenstemmen: »Schon jetzt, siehe, lebt im Himmel mir ein Zeuge, mir ein Mitwisser in der Höhe. Es spotten meiner meine Freunde; zu Gott blickt tränend auf mein Auge, dass er Recht schaffe dem Manne gegen Gott, dem Menschen gegen seinen Freund!« (16,19-21) Ein Anflug von Hoffnung, der von der Trauer aber gleich wieder vernichtet wird: »Sein Zorn hat verwüstet meine Tage, nur die Gräber bleiben mir.« (17,1)

Und doch wird die Hoffnung zunehmend an Gewicht gewinnen: »Ich aber weiß: mein Anwalt lebt, und ein Vertreter ersteht (mir) über dem Staube. Selbst wenn die Haut an mir zerschlagen ist, mein Fleisch geschwunden, werde ich Gott schauen, ja ich, ich werde ihn schauen, mir zum Heil, und meine Augen werden ihn sehen, nicht als Feind.« (19,25-27a) Bei aller Übersetzungsproblematik, eine Hoffnung auf eine Rechtfertigung nach dem Tode sollte man nicht in diese Worte hineindeuten, die Stelle korrespondiert dem Schauen, das Hiob am Ende zuteil wurde (42,5).


4. Unrechtserfahrungen und Schuldgefühle

Diese Momente der Hoffnung sind, genau wie die wütende Klage und Anklage, Ausdruck des trotz, in und mit allem doch wieder erstarkenden Lebens- und Überlebenswillens Hiobs. Seine inneren Dialoge sind ein Ringen mit »Gott«, darin lässt Hiob zunehmend nicht nach, er kämpft mit seinem Gottesbild, das heißt, er kämpft um möglichen Sinn – nicht des Leidens, sondern trotz, in und mit dem Leid. Der Kampf um sein Daseinsrecht und seine Identität ist sein Festhalten bzw. Sich-doch-immer-wieder-neu-Ausrichten an »Gott«. Und doch ist die Lösung nicht da zu suchen, wo Hiob sie erhofft, aber der »Kampf« um diese und deren Scheitern ist die Voraussetzung dafür, dass anderes werden kann. Ohne diesen Kampf wäre Hiob mutmaßlich in der Depression geblieben – und vielleicht in ihr verstorben. Aber Hiob fängt immer wieder und zunehmend mehr an zu kämpfen – und zwar mit seinem bisherigen Gottesbild, das bestimmt war vom Tun-Ergehens-Zusammenhang, und da er sich keiner Schuld bewusst ist, beklagt er seinen Verlust als Unrecht.

Aber zugleich fühlt er sich doch schuldig, eine durchaus »normale« Reaktion auf potentiell traumatisierende Katastrophen.19 Dieses Gefühl der Schuld formuliert er immer wieder in den Stimmen der »Freunde«, teils grundsätzlich und allgemeingültig formuliert: »Ist wohl ein Mensch gerecht vor Gott, vor seinem Schöpfer rein ein Mann?«, so Hiob in der »Eliphas«-Stimme in 4,17 und ähnlich in 15,14ff. In der »Bildad«-Stimme fürchtet Hiob, seine Kinder hätten sich versündigt und würden deshalb bestraft (8,4), würde er sich aber um Gnade an Gott wenden, würde er, wäre er schuldlos, Gottes Hilfe erfahren (8,5ff). In der »Hiob«-Stimme aber glaubt er nicht, dass er erhört würde: »Wollte ich ihn vor Gericht ziehen, er stünde nicht Rede, ich kann nicht glauben, dass er mich hörte, er, der im Sturmwind nach mir hascht und mir ohne Grund viele Wunden schlägt« (9,16f). Ja, Hiob ist sich sicher: »Schuldlose wie Schuldige vernichtet er!« (9,22), ja, Gott hat das »Land gegeben in Frevlershand« (9,24). Gleichzeitig ist sich Hiob in der »Hiob«-Stimme sicher, dass er im Recht ist und betont es zunehmend: »bis ich verscheide, beharre ich auf meiner Unschuld.« (27,5b)20 Es sei vielmehr Gott, der Unrecht tut: »Erkennt doch, dass Gott mein Recht gebeugt und mich mit seinem Netz umfangen hat.« (19,6)

Ein in gewisser Weise neuer Einsatz beginnt mit Kap. 29. Waren es bisher sozusagen drei anklagende Stimmen in Hiob und eine, die darauf beharrte, er sei im Recht, so ist das Verhältnis jetzt eins zu eins: Die (rekapitulierende) Rechtfertigungsstimme (Hiob) und eine erneut anklagende Stimme, die (neu eingeführte) »Elihu«-Stimme, die aber nur in Nuancen Neues bringt. Es scheint vielmehr dieser Wechsel anzuzeigen, dass das vielstimmige Chaos in Hiob sich mit der Zeit zu legen scheint, allerdings bleibt der Konflikt ungelöst. Die »Hiob«-Stimme wünscht sich, es sei wie früher (29,2), er ein von Gott behüteter, geachteter Mann (Kap. 29), nun aber sei sein Los Leid und Spott (Kap. 30), dabei sei sein Leben in keiner Hinsicht zu tadeln, wie sein Gang durch sein Leben ihm zeigt (Kap. 31).

Die »Elihu«-Stimme in ihm aber hat das (vorerst) letzte Wort: Sie erinnert ihn (Kap. 32-37) an seine eigenen ursprünglichen Glaubenssätze: Gott rede sehr wohl mit den Menschen, nämlich um sie zu warnen und zu retten (z.B. 33,14ff), Gott ist gerecht, und das anzuzweifeln sei selbst schon Sünde (Kap. 34), Gott sei unergründlich und allmächtig (Kap. 36 und 37) und für den Menschen hieße das: Ehrfurcht vor Gott haben (37,24).


5. Ansturm des Begreifens

Daran schließt die »Gottesrede« an. Auch sie ist Teil des inneren Gesprächs Hiobs. »Gott« redet mit Hiob aus dem Sturm heraus (38,1). Es ist »Sturm«, wenn alte Gewissheiten hinweggefegt werden und man selbst niedergedrückt wird. Es ist »Sturm«, wenn vertraute »Lebenshäuser« einstürzen – wie es ein Sturm zu Beginn der Erzählung war, der das Haus, in dem Hiobs Kinder feierten, hinwegfegte (1,19). Aber dieses Hinwegfegen des Alten ist jetzt die Voraussetzung dafür, dass Neues werden kann. Diese »stürmische« Rede mit ihrem Bezug auf die Schöpfung ist vor allem eines: Machtdemonstration. Die »Rede« wirbt nicht um Hiob, sondern sie fegt ihn mit ihren »rhetorischen« Fragen machtvoll von den Füßen. Und gegenüber dieser Macht ist er ohnmächtig. Schon in 9,17 war es ja so benannt worden: »er, der im Sturmwind nach mir hascht und mir ohne Grund viele Wunden schlägt«.

In seinem völligen Zusammenbruch wird ihm bewusst, dass das Leben nicht in moralischen Kategorien zu fassen ist. Ja, seine vielen Wunden sind in der Tat »ohne Grund«! Sein bisheriges Sinnkonstrukt, dass es dem, der »gottesfürchtig und dem Bösen feind« (1,1) lebt, auch gut ergehen werde, wird jetzt hinweggefegt. Hinweggefegt von der Wirklichkeit, von »Gott«, der »alles bestimmende(n) Wirklichkeit« (Bultmann): Leben ist Weite und Ordnung (Kap. 38) und Bedrohung (Behemoth, 40,15-24, Leviathan, 40,25 - 41,26), Leben ist Vitalität jenseits irgendeiner moralischen Ordnung (die Tiere in 38,39 - 39,30). Das Leben ist groß und mächtig und wunderbar und wild und gefährlich. Es ist wie es ist – und folgt keinen moralischen Regeln. Deshalb – und das wird Hiob in diesem stürmischen Zusammenbruch deutlich – ist sein Leiden Teil des Lebens und nicht Strafe. Deshalb war sein Suchen nach eigener Schuld (in den »Freundesreden«) und Beteuern der eigenen Unschuld (in den meisten der Reden der »Hiob«-Stimme) der letztlich »falsche« – deshalb auch werden die »Freunde« Hiobs wegen ihrer Reden von Gott am Ende getadelt (42,7) –, aber existentiell notwendige (Not wendende) Weg, mit der traumatischen Erfahrung des Totalverlustes umzugehen. Sein Leiden hat mit Schuld oder Unschuld nichts zu tun, wie die Lesenden der Erzählung von Anfang an wissen. Hiobs Leid ist Folge der Gott-Satan-Wette, oder anders: Sie ist Erfahrung der Absurdität des Lebens, das alles kennt – Glück und Leid, Geborgenheit und Bedrohung –, also auch das Übel, das da ist, weil es da ist, aus keinem anderen Grund. Es gibt, kein »Anrecht« auf ein heiles Leben, so verständlich dieser menschliche Wunsch auch ist, aber so ist das Leben nicht. Und der Übermacht der Wirklichkeit steht gegenüber die Ohnmacht des Menschen: »Da antwortete Hiob dem Herrn und sprach: Ich habe erkannt, dass du alles vermagst … Darum habe ich geredet in Unverstand. … Vom Hörensagen hatte ich von dir gehört; nun aber hat dich mein Auge gesehen. Darum widerrufe ich und bereue in Staub und Asche.« (42,1-6) Die letzte Zeile lässt sich auch anders übersetzen: »Darum liegt mir (nichts) mehr daran, und ich bin (tröstlich) umgestimmt – auf Staub und Asche.«21

Ob, wie diskutiert wird, hier Hiob revoziert oder sich getröstet weiß, ist m.E. eine falsch gebaute Alternative: Der Trost besteht ja darin, dass er in der »Gottes«-Erfahrung sein altes Sinnkonstrukt revozieren und durch ein lebensdienlicheres ersetzen kann. Noch aber sitzt er auf Staub und Asche, aus denen er sich erst langsam wird emporheben können. Aber ein wichtiger Schritt dafür ist die Erkenntnis, ohnmächtig dem Leiden ausgesetzt zu ein. Hiob erkennt und akzeptiert seine Ohnmacht – das ist der entscheidende Schritt im Prozess der Trauer auf dem Weg in ein neues Leben. Seine »Heilung« besteht nicht darin, dass mit »den Gottesreden … die Aufmerksamkeit Hiobs von seinem Leiden ab- und zur Wahrnehmung der Schöpfung hingelenkt« wird22, er bleibt auf sein Leiden bezogen – wie könnte er auch anders: Aller Wohlstand weg, alle seine Kinder sind tot! Er sitzt noch auf Staub und Asche, aber erlebt sich darin neu: als jemand, der seine Ohnmacht annimmt und nicht auf ein Recht pocht, das es nicht gibt.

In dieser, zuerst niederwerfenden, stürmischen Erkenntnis – bzw. besser: Erfahrung – bekommt er es zum ersten Mal in einem tiefen existentiellen Sinne mit »Gott« zu tun: »Vom Hörensagen hatte ich von dir gehört; nun aber hat dich mein Auge gesehen.« (42,5) Es ist eine ganz neue Sicht, anders als das, was er bisher sah (13,1), und auch anders als das, was er zu sehen hoffte, nämlich, dass er Recht bekäme (19,25ff). Aber diese neue Sicht auf sein Leben, die existentielle Annahme seiner Ohnmachtserfahrung, deren »Bearbeitung« er nicht länger hinter der Schuldfrage verbergen muss, ermöglicht jenen neuen Schritt in der Trauer, die Voraussetzung ist, sich der Zukunft zuwenden zu können. Hier, auf dem Höhepunkt der Krise, der zugleich ihr Scheitelpunkt ist, hat Hiob »Gott« gesehen.

Es ist wohl so: Gerade angesichts erfahrenen, erlittenen Leides hat der Mensch offensichtlich das Gefühl, es in besonderer Weise mit Gott zu tun zu haben. Mir ist das einmal im Rahmen eines Seminars zu Jakobsgeschichten besonders deutlich geworden. An dem Abend, als es um die Jabbokerzählung gehen sollte (das war zu Beginn aber noch nicht benannt), habe ich die Teilnehmenden gebeten zu erinnern, wann sie in ihrem Leben das Gefühl hatten, es in besonderer Weise mit Gott zu tun gehabt zu haben, und, wenn sie möchten, es zu erzählen. 24 von 25 Teilnehmenden erzählten daraufhin »Jabbok-«, »Krisen-«, »Hiob«-Geschichten, nur einer eine Glücksgeschichte. Offensichtlich gerade in den existentiell bedrohlichsten Situationen scheinen wir es in besonderer Weise mit »Gott« zu tun zu haben: extrem gefordert zu sein, aber auch Erfahrung von Sinn in aller Sinnlosigkeit, Erfahrung von Geborgenheit in aller Ungeborgenheit, Erfahrung von Trost in aller Trostlosigkeit, existentielle »Bewährung« in tiefster Krise.

Das Aufgeben des Hiobkampfes um Schuld oder Unschuld, die Annahme der eigenen Ohnmacht und des Leides ist der nächste Schritt im Trauerprozess, der Ver- oder Bearbeitung der traumatischen Erfahrung. Das öffnet Hiob für die Zukunft, für ein neues Leben: Gott gibt »Hiob doppelt so viel als er gehabt hatte.« (42,11) Und Hiob lebt dann noch 140 Jahre und stirbt alt und lebenssatt. Das ist märchenhafte Bildsprache, die aber etwas Richtiges festhält: Neues Leben ist möglich, wenn der Trauerprozess zu einem (gewissen) Abschluss kommt bzw. die Lebensfähigkeit nicht mehr behindert. Und dass Hiob alles doppelt zurückerhält, ist nicht Belohnung für vorbildliches Festhalten an »Gott«, sondern Bild für auch diese Erfahrung: Es gibt nicht nur posttraumatische Belastungsreaktionen oder -störungen, es gibt auch posttraumatisches Wachstum. Hiob wird nach diesen bitteren Erfahrungen doppelt so stark sein wie vorher.

Über das Buch Hiob hinaus geht nur das NT. Christus stirbt am Kreuz. Und indem Gott sich in der »Auferweckung« mit dem Gekreuzigten »identifiziert« ist »er« nun nicht mehr (auch) satanisch, sondern heilsam in die Absurdität des Daseins involviert.23 Und zeigt: Hilfe liegt darin, solidarisch das unabänderliche Leid zu teilen und miteinander auszuhalten.


Anmerkungen:

1 Übersicht über Literatur bei L. Schwienhorst-Schönberger, Das Buch Ijob, in: E. Zenger u.a., Einleitung in das Alte Testament, Stuttgart, 9. Aufl. 2016, 417f.

2 Z.B. A. Graupner/M. Oeming (Hrsg.), Die Welt ist in Verbrecherhand gegeben? Biblisch-Theologische Studien 153, Neukirchen-Vluyn 2015.

3 E. Bloch, Atheismus im Christentum, Frankfurt 1968, 104ff.

4 C.G. Jung, Antwort auf Hiob, Zürich 1952, München 22001.

5 Z.B. N. Kermani, Der Schrecken Gottes, Attar, Hiob und die metaphysische Revolte, München 2005.

6 D. Bakan, Das Opfer im Buch Hiob, in: Y. Spiegel, Psychoanalytische Interpretationen biblischer Texte, München 1972, 152ff.

7 W. Drechsel, in: M. Oeming/W. Drechsel, Das Buch Hiob – ein Lehrstück der Seelsorge?, in: Th. Krüger u.a. (Hrsg.), Das Buch Hiob und seine Interpretationen, Zürich 2007, 421ff.

8 Z.B. T. Mickel, Seelsorgerliche Aspekte im Hiobbuch, Berlin 1990; M. Meyer-Blanck, Traumatische Erlebnisse: Theologische Reflexionen, in: WzM 52, 2000, 68ff; M. Oeming/K. Schmid, Hiobs Weg, Biblisch-Theologische Studien 45, Neukirchen-Vluyn 2001; H.-A. Willberg, Die seelsorgerliche Bedeutung des Buches Hiob. Biblisch-psychologische Auslegung, Ettlingen 2014.

9 R. Albertz, Religionsgeschichte Israels in alttestamentlicher Zeit 2, ATD Ergänzungsreihe Band 8/2, Göttingen 1992, 563ff.

10 J. Ebach, Leviathan und Behemoth, Paderborn 1984.

11 Ebd., 79.

12 Zu den Phasenmodellen bei E. Kübler-Ross, Y. Spiegel, V. Kasten u.a. und ihrer Kritik, s. K. Lammer, Den Tod begreifen, Neukirchen-Vluyn, 32004, 187ff.

13 Übersicht über die Symptomatologie bei Lammer, 176f.

14 Scharf formuliert von H. Spieckermann, Die Satanisierung Gottes, in: ders, Lebenskunst und Gotteslob in Israel, Forschungen zum Alten Testament 91, Tübingen 2014, 84: »Theologisch ist Satan der Schatten Gottes … Beide arbeiten Hand in Hand, weil es sich um dieselbe Hand handelt.«

15 Dazu Lammer, 215.

16 Dazu Lammer, 216.

17 Textstellen werden zitiert nach der Zürcher Bibelübersetzung in der revidierten Fassung von 1931.

18 Dazu Lammer, 202, im Anschluss an Y. Spiegel.

19 Vgl. dazu H. Martens, Am Anfang war das Trauma. Zur Interpretation von Ohnmachtserfahrungen als Schulderleben, in: DPfBl 2/2011, 60-64.

20 Diese Unschuldsbeteuerungen sind Ausdruck der Sehnsucht nach Verstehen in einem von Kausalkonstruktionen geprägten Wirklichkeitsverständnis und darin zutiefst menschlich und nicht »höchste Form der Sünde«, wie Oeming, Was hat Hiob über Gott gelernt?, 31, im Anschluss an G. Fohrer meint.

21 B. Janowski, Ein Gott, der straft und tötet?, Neukirchen-Vluyn 22014, 223. Diese Lesart findet sich inhaltlich auch in der revidierten Ausgabe der »Zürcher« Übersetzung von 2007.

22 Janowski, 224.

23 Vgl. dazu auch: H. Martens, Exodus und Ostern als Reframing existentieller Krisen, in: DPfBl 3/2012, 137-141.

 

Über die Autorin / den Autor:

Pastor Helge Martens, Jahrgang 1957, Studium in Hamburg und Tübingen, Vikariat in Bogotá/Kolumbien, wiss. Mitarbeiter am ntl. Seminar der Universität Hamburg, seit 1987 Gemeindepastor in Hamburg, Systemischer Therapeut (SG).

Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 3/2017

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