Beten in Gottesdienst und Alltag


»Wofür wollen wir heute beten?«

So frage ich manchmal am Ende eines Schulgottesdienstes. Die Kinder der Grundschule nennen dann ganz unbefangen, was ihnen in den Sinn kommt: für die Tiere, dass sie immer jemanden haben, der sich um sie kümmert; für die Kranken, damit sie gesund werden und sie jemand besucht; für die armen Kinder, für die Freundinnen und Freunde, sogar für die Lehrer, dass sie sich nicht so oft ärgern müssen. Ganz ungefiltert wollen die Kinder an alle denken und für alle beten, die ihnen einfallen.

Und wenn wir die Erwachsenen am Sonntag im Gottesdienst fragen würden: Für wen wollen wir heute beten? Es ginge wahrscheinlich nicht ganz so locker zu. Übers Beten spricht man nicht. Es fällt auf, wenn jemand im Hotel vor dem Essen innehält und kurz betet. Für die meisten Konfirmandinnen und Konfirmanden ist es etwas Neues und muss gelernt werden, wenn wir auf der Wochenendfreizeit beten.

Der Predigttext stellt sich ganz auf die Seite der Kinder. Er sagt, wir sollen für alle beten. Dem Briefschreiber geht es um das öffentliche Gebet der Gemeinde. Er sagt: Die Gemeinde soll vor allen Dingen beten, und zwar für alle Menschen. Es geht ihm wirklich um alles.


Unterscheiden und Prioritäten setzen!

Bevor eine Gemeinde irgendetwas tut, bevor engagierte Christenmenschen irgendetwas anfangen, sollen sie bitten, beten, Fürbitte halten, Dank sagen. Viele Gemeinden führen sog. Prioritätendiskussionen. Niemand kann alles machen, also: Was ist uns heute an diesem Ort wichtig? Wo setzen wir Schwerpunkte? Was lassen wir bleiben? Leitbilder entstehen. Diese Priorität habe ich noch nirgendwo als ersten Satz gelesen: Das wichtigste vor allen Dingen ist Beten.

Der 1. Tim. rückt so zurecht, was wir selbst schaffen können und was wir in Gottes Hand legen. Wer zuerst betet, lernt zu unterscheiden. Was ist an mir und was ist an Gott? Was können wir als Gemeinde tun und worum beten wir? Auch im Alltag hilft es, zu unterscheiden und Prioritäten zu setzen. Manche beten gleich nach dem Aufstehen oder vor dem Mittagessen oder wenn abends die Kinder ins Bett gebracht werden. Beten ist Aus-dem-Trott-Kommen und Innehalten. Sich Gott zuwenden, bevor man sich einer Aufgabe, einem Menschen oder der täglichen Routine zuwendet. »Heute habe ich viel zu tun, also muss ich viel beten« – so Martin Luther.

Der 1. Tim. stellt die Gemeinden zudem darauf ein, dass sie in einer unheilvollen Welt leben und das Heil, das von Gott kommt, nicht gleich morgen ausbrechen wird. Also mahnt er sie: Räumt Gott einen Platz in der Welt ein und schafft Gott einen Platz in eurem Leben. Und das macht, indem ihr betet.


Wirklich für alle beten?

»Für wen wollen wir heute beten?« – »Für alle!« Es klingt so leicht und selbstverständlich, ist aber eine Herausforderung, oder? Das Gebet kann auch eine sehr eigensinnige Sache sein: ein Kreisen um sich selbst und um die Menschen, die einem ohnehin nahe sind. Das ist nicht falsch, aber es kann nicht alles sein. Wie bete ich für Menschen, die ich gar nicht mag, mit denen ich nicht zurechtkomme, die mir das Leben oft schwer machen? Wie bete ich für Politiker, mit deren Politik ich so gar nicht einverstanden bin?

Auf seiner aktuellen CD »Deutschland« singt Heinz Rudolf Kunze: »Jeder bete für sich allein / keiner rede dem andern rein / jeder glaube was er will / diskret zuhause friedlich still«. Ein Plädoyer gegen das oft laute und gewalttätige Missionieren der Religionen. Der Briefschreiber würde widersprechen, denn Glaube führt zusammen und in die Öffentlichkeit. 1. Tim. sagt den Gemeinden der zweiten, dritten Generation: Nehmt diese unvollkommene, ungerechte, unfriedliche Welt an als den Ort, an den Gott sich gebunden hat und an den er euch gestellt hat. Deshalb nehmt alle Menschen ernst, auch diejenigen, mit denen ihr persönlich nicht zurechtkommt, auch diejenigen, die zur Obrigkeit zählen. Gerade im Gebet könnt ihr die Angst vor ihnen verlieren, denn dann stellt ihr auch sie in ein Verhältnis zu Gott, der allein Herr ist.


Was noch?

1. Tim. hat uns nicht gesagt, wie wir am besten beten sollen. Das dürfen wir erproben und werden schon merken, wann es gut ist. Die Predigt am Sonntag Rogate bietet zudem die Gelegenheit, einmal die gottesdienstlichen Gebete zu beschreiben und zu erläutern: Psalm, Schuldbekenntnis, Kollektengebet, Fürbitten. Was beten wir an welcher Stelle und warum? In der Liturgie stören mich solche Erklärungen, aber an Rogate in der Predigt – warum nicht?


Titus Reinmuth

Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 3/2016

Kommentieren Sie diesen Artikel
Pflichtfelder sind mit * markiert.
Ihre E-Mail Adresse wird nicht veröffentlicht.
Spamschutz: dieses Feld bitte nicht ausfüllen.