In einer Welt, die aus den Fugen geraten scheint, ist es notwendig, an zwischenmenschlicher Verständigung zu arbeiten. Gottfried Orth sieht eine Chance in der Methode der Gewaltfreien Kommunikation, die Unterbrechungen der Gewalt ermöglicht und aus den Ummauerungen biographischer Gewohnheiten und gesellschaftlicher wie kirchlicher Konditionierungen führen kann.1


In seinem letzten Brief an John Irving schrieb Günter Grass: »Die Welt ist wieder einmal aus den Fugen und mir, dem kriegsgebrannten Kind, kommen böse Erinnerungen.« Was die Welt in dieser Situation braucht, benannte die 10. Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen als die »große Transformation«. »Das Große Werk, das uns und kommenden Generationen zufällt, besteht darin, den Übergang von einer Verwüstung der Erde durch den Menschen zu einer Periode durchzuführen, in welcher die Menschen in einer wechselseitig vorteilhaften Weise mit der Erde existieren.«2 J. Macy benennt in ihrem Buch »Hoffnung durch Handeln. Dem Chaos standhalten ohne verrückt zu werden« die drei Dimensionen dieser großen Transformation: Bewusstseinsveränderung, Protestaktionen und die Entwicklung Leben erhaltender Systeme und Handlungsweisen. Und Macy macht darauf aufmerksam: »Bisher wurden eine Veränderung unserer selbst und eine Veränderung der Welt oft als voneinander getrennte Vorhaben eingestuft und als Entweder-Oder angesehen. Aber in der Geschichte vom Großen Wandel wird sichtbar, dass sie sich wechselseitig verstärken und von entscheidender Bedeutung füreinander sind.«3 In diesem Kontext hat für mich Gewaltfreie Kommunikation (GFK) ihren Ort.


Gewalt unterbrechen lernen

GFK verstehe ich als einen Beitrag, Gewaltzusammenhänge4 im persönlichen Alltag, in institutionellen Kontexten und gesellschaftlichen wie politischen Konflikten unterbrechen zu können.5 Dorothee Sölle erzählte eine »Ur-Geschichte solcher Gewaltunterbrechung« aus franziskanischer Tradition: »Bei Gubbio in Umbrien lebte ein gewaltiger Wolf, der Tiere und Menschen verschlang. Aus Angst vor ihm trauten sich die Bewohner nicht mehr aus der Stadt. Franz von Assisi ging dem Wolf entgegen, seine Gefährten blieben aus Angst zurück. Der Wolf stürzte zähnefletschend auf ihn zu. Der Heilige sprach ihn als ›Bruder Wolf‹ an und machte das Zeichen des Kreuzes über ihm. Der Wolf sperrte seinen schon geöffneten Rachen zu und ließ sich zu Füßen des kleinen unbewaffneten Mannes nieder. Franz sagte zu ihm: ›Du bist jedermanns Feind. Ich aber möchte, Wolf, mein Bruder, dass Friede sei zwischen ihnen und dir.‹ Er schließt dann eine Art Bund, in dem die Einwohner sich verpflichten, den Wolf zu füttern, damit er niemals mehr Hunger leiden muss, und der Wolf ihm, Pfote in Hand, verspricht, niemandem, weder Mensch noch Tier, mehr Schaden zuzufügen. Dieser Vertrag wird öffentlich besiegelt, der Wolf lebt noch zwei Jahre, von den Bürgern geachtet und von den Kindern geliebt. Ich erzähle die Geschichte nicht wegen des Wunders, sondern um den Begriff Unterbrechung der Gewalt zu klären. … Das Ziel des anderen Umgangs mit der Gewalt ist es nicht, eine konfliktfreie Welt zu schaffen und möglichst alle Wölfe auszurotten. Doch es gibt auch die Unterbrechung ihrer Zwangsläufigkeit, die Überraschung und die Möglichkeit, der alles beherrschenden Gewalt ein ›Nein‹ entgegenzusetzen, das ihren absolut erscheinenden Zwang unterbricht.«6

Thematisiert die franziskanische Legende den Wolf als anderen, so fragt ein bisher unveröffentlichtes Gedicht von Lisa F. Oesterheld nach den eigenen »inneren Wölfen«:

unter Wölfen

den inneren Wolf
in mir und dir
anschauen

die Sehnsucht sehen
die lebendige
welche uns verbindet

dem Wolf die Hand
reichen
und staunen

wenn Pfote
Hand und Herz
einander berühren

Der Zusammenhang von politisch gesellschaftlichem Handeln und persönlicher Lebensveränderung erscheint mir ebenso entscheidend wie der von gesellschaftlich-politischer Arbeit und spiritueller Übung. M. Rosenberg, der – angeregt von Gandhi und King – GFK im Kontext der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung entwickelt hat, sah in seiner jüdisch-christlich-buddhistisch geprägten spirituellen Praxis die Wurzel für eine neue, gewaltfreie Gesellschaft: »Gewaltfreie Kommunikation entwickelt sich aus meinem Versuch, mir über die ›geliebte göttliche Energie‹ bewusst zu werden und wie ich mich mit ihr verbinden kann.«7

 

Orientierung an den Bedürfnissen der Menschen

Die Grundannahme der GFK besteht in der Orientierung an den Bedürfnissen der Menschen. Menschen begegnen uns als Frauen und Männer, als Kinder, Jugendliche und Erwachsene. Menschen haben unterschiedliche Hautfarben. Menschen entstammen unterschiedlichen Kulturen. Sie gehören verschiedenen Religionen oder gar keiner Religion an. Menschen nehmen wir wahr als behinderte und nicht behinderte Menschen. Menschen haben sehr verschiedene Wertvorstellungen und Lebensformen.

Was allen Menschen gleich ist, das sind ihre Bedürfnisse. M. Max-Neef, lateinamerikanischer Ökonom und Träger des Alternativen Nobelpreises, hat neun solcher Grundbedürfnisse der Menschen formuliert: Bedürfnisse des physischen Lebens (Wasser, Essen, Luft usw.), Sicherheit/Schutz, Verständnis/Empathie, Liebe, Erholung/Spiel, Kreativität, Geborgenheit/Gemeinschaft, Autonomie/Selbstbestimmung, Sinn/Inhalt. Die Grundbedürfnisse, so Max-Neef, sind unabhängig von den kulturellen, religiösen, gesellschaftlichen Bedingungen, innerhalb derer Menschen leben, und daher konstitutiv für alle Menschen.8

Diesen Ansatz nahm Marshall Rosenberg auf: Alle Menschen in allen Kulturen haben dieselben grundlegenden Bedürfnisse, um ein erfülltes Leben zu führen. Bedürfnisse sind dabei nicht an eine Zeit, einen Raum, einen Ort oder eine Person gebunden. Und wie wichtig einem Menschen das eine oder andere Bedürfnis gerade ist, hängt von seiner Lebensgeschichte sowie seiner momentanen individuellen Situation ab. Bedürfnisse in diesem Sinne sind immer angemessen, berechtigt und positiv formuliert, weil sie unser Überleben und Wohlergehen sichern.

Diese Grundannahme der GFK korrespondiert mit einer ekklesiologischen Überlegung Ernst Langes: »Ist die Kirche Anwalt der Menschen in ihrer Bestimmung, in ihrem Recht auf volle Menschwerdung, dann ist die Nichtachtung der Bedürfnisse die Nichtachtung jenes Feldes, in dem dieses Recht und seine Uneingelöstheit konkret werden.«9 Menschwerdung, deren Anwalt die Kirche ist, geschieht in der Wahrnehmung der eigenen wie der Bedürfnisse Anderer.

Doch nicht nur die Orientierung an den Bedürfnissen der Menschen steht in Korrespondenz zu zentralen theologischen Überlegungen, sondern auch der Zusammenhang von Kommunikation und Bedürfnissen. In großer konzeptioneller Übereinstimmung mit Rosenberg schreibt Sölle: »Wirkliche Kommunikation kann ja nur dort stattfinden, wo Menschen ihre Bedürfnisse und Wünsche ausdrücken können. … Die Würde des Menschen ist überall da angetastet, wo wesentliche Bedürfnisse von Menschen negiert werden.«10 Der im wahrsten Sinne des Wortes springende Punkt ist die Wahrnehmung authentischer und nicht bereits manipulierter und zerstörter Bedürfnisse. Da öffnet sich eine Tür ins Leben.

Das Markusevangelium erzählt von einer solchen Öffnung ins Leben11: Ich erzähle die Wundergeschichte der Heilung des blinden Bartimäus mit den Denk- und Interpretationsmöglichkeiten der GFK und werfe zunächst einen Blick auf Jesus: Er überfällt den Blinden nicht einfach mit irgendetwas – nicht einmal mit einem Heilungswunder. Jesus respektiert die Würde und die Autonomie des blinden Mannes: Was soll ich für dich tun? Jesus fragt nach den Bedürfnissen des Blinden. Sie sollen im Zentrum stehen. Aus Jesu Frage »Was soll ich für dich tun?« spricht die Achtung vor diesem Fremden am Wegesrand, den andere zum Schweigen bringen wollten. Er soll rufen und reden dürfen, er soll »Ich« sagen können.

Ein blinder Bettler richtet Bitten an Jesus. Die erste: »Sohn Davids, hab Erbarmen mit mir!« Der Blinde bittet um Erbarmen, darum, dass Jesus mitfühlt, mitempfindet, Anteil nimmt. Die Leute verweigerten ihm genau das: Schweigen sollte er. Doch der Blinde steht zu seinem Bedürfnis und er schrie lauter »Sohn Davids, hab Erbarmen mit mir!« Und Jesus unterbricht seinen Weg, hält inne, hat in diesem Moment nichts Wichtigeres zu tun und wendet sich dem Blinden zu. Präsenz Jesu! Der mitfühlende Jesus fragt den Blinden, was er tun solle. »Herr, ich möchte wieder sehen können!« Mitgefühl ist das erste, was er braucht, einen, der Anteil nimmt an seinem Leben. Und im Vertrauen auf solches Mitgefühl, kann er dann bitten: »Herr, ich möchte wieder sehen können!«

Einiges wird diesen Bitten innerlich vorausgegangen sein: Offensichtlich konnte der Blinde früher sehen, denn er möchte wieder (!) sehen können. Möglicherweise ist er zutiefst verzweifelt. Und er kennt den Grund seiner Verzweiflung: sein Bedürfnis, zu sehen. Und dahinter stehen vielleicht noch zwei andere Grundbedürfnisse, die Grundlage aller unserer Bedürfnisse sind: das Bedürfnis nach Autonomie – endlich einmal nicht mehr auf fremde Hilfe angewiesen sein müssen, einfach Ich sein können – und das Bedürfnis nach Verbindung und Gemeinschaft – endlich gleichberechtigt dazugehören können.12

Das ist das Wunder: Der Blinde kennt seine Situation, nimmt seine Gefühle wahr, entdeckt die dahinter liegenden Bedürfnisse und jetzt gibt’s nur noch eines: das muss wahr werden. Er bittet Jesus um Mitgefühl und darum, wieder sehen zu können. Und er sieht. Und er steht auf. Und er geht.

Es gibt ein anrührendes Gedicht einer zeitgenössischen italienischen Dichterin, Patricia Cavalli, das dem Wunder einen schönen Gedanken hinzufügt:

Schau her!
Alle wollen gesehen werden.
Auch wer sich allen Blicken entzieht
will in Gedanken gesehen werden.

Schau mich an! Auferstehe mich!13

GFK ist Auferstehungssprache. Auch deshalb ist sie in unserer Gesellschaft und Welt eine Fremdsprache. Doch jede und jeder kann sie lernen.


Das Kommunikationsmodell Gewaltfreier Kommunikation

Um dieses Denken und die damit verbundene Haltung einzuüben, sich darin immer wieder selbst zu reflektieren und um wertschätzend miteinander sprechen zu können, hat Rosenberg ein vierschrittiges Kommunikationsmodell entworfen.

Im Zentrum der GFK stehen die Bedürfnisse. Indikator dafür, ob unsere Bedürfnisse erfüllt oder nicht erfüllt sind, sind unsere Gefühle. »Ich bin beschwingt« kann mir beispielsweise anzeigen, dass mein Bedürfnis nach Akzeptanz erfüllt ist. »Ich bin traurig« kann mir signalisieren, dass mein Bedürfnis nach Autonomie nicht erfüllt ist. Gefühle sind Signale, die uns anzeigen, ob unsere Bedürfnisse erfüllt oder nicht erfüllt sind. Je mehr Gefühle ich spüre und ausdrücken kann, umso verbundener mit mir selbst kann ich leben, umso lebendiger bin ich und umso bunter und reicher ist die Welt, sind die Menschen um mich herum. Wittgensteins Formulierung »Die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner Welt« gilt auch und vielleicht in besonderem Maße für »meine« Emotionalität, meine Gefühle und ihren Ausdruck. GFK zu erlernen, bedeutet auch emotionale (Selbst-)Erziehung. Das, wofür heute immer weniger oder schon gar kein Raum mehr ist, wird möglich: Herzensbildung. Dieses früher aktuelle Bildungsideal rechnet sich nicht und bleibt gleichwohl zentral – als Möglichkeit oder eben als oftmals krank machendes Defizit.14

Gefühle spüre ich in konkreten Situationen. Deshalb beginnt das Kommunikationsmodell der GFK mit der Beobachtung: Der erste Schritt zielt darauf, eine Beobachtung – gleichsam im fotografischen Blick – zu äußern, ohne dass irgendeine Bewertung mitschwingt. Rosenberg zitiert in diesem Zusammenhang den indischen Philosophen Jiddu Krishnamurti: »Die höchste Form menschlicher Intelligenz ist es, zu beobachten, ohne zu bewerten.« Es kommt in GFK nicht darauf an, auf Bewertungen zu verzichten, sondern diese klar von meinen Beobachtungen zu trennen. Oft äußern Menschen Beobachtungen, sogleich verbunden mit einem Urteil, einer Analyse, mit Kritik, Lob oder Diagnose. Dies macht es dem/der Zuhörenden schwer, sich auf die Beobachtung zu konzentrieren, weil er/sie sogleich die Bewertung mithört und sich verteidigen muss. Die Beschreibung der Beobachtung ist also so angelegt, dass sie von dem/der anderen vermutlich geteilt werden kann.

Das Kommunikationsmodell schließt mit einer Bitte. Eine Bitte »bezieht sich auf das Hier und Jetzt (sie ist also sofort umsetzbar). Sie ist konkret und handlungsbezogen. Sie ist also erfüllbar. Sie bezieht sich auf das, was Sie wollen (Was genau soll jetzt beginnen?), statt auf das, was Sie nicht wollen (Was soll aufhören?).«15

Bitten unterscheiden sich von Forderungen dadurch, dass zu ihnen »Ja« und »Nein« gesagt werden kann. Ihr zentrales Kennzeichen ist, dass sie Freiwilligkeit voraussetzen und ermöglichen. Bitten achten die Autonomie von Menschen, Forderungen dagegen signalisieren Zwang. Wenn ich auf eine Bitte mit Nein antworte, signalisiert dies, dass ich zu etwas oder jemandem anderem in diesem Moment Ja gesagt habe.16 Dazu ein Gedanke von Helder Camara: »Herr, lehre mich ein Nein sagen, das nach Ja schmeckt.« Ein, in GFK formuliertes Nein schmeckt nach Ja, weil es Kommunikation nicht abbricht, sondern Nachfragemöglichkeiten eröffnet.

Wenn ich die vier Schritte des Kommunikationsmodells zusammenfasse, dann lautet dieses: Wenn ich sehe …, bin ich …, weil mein Bedürfnis nach … nicht erfüllt ist. Ich bitte dich … Und in einem schulischen Beispiel: Statt dass ich sage: »Also Marc, ich bin stinksauer, weil du nie Hausaufgaben erledigst! Du bleibst heute Nachmittag in der Schule und erledigst alle deine Hausaufgaben!«, sagt der Lehrer in GFK: »Marc, ich sehe, dass du in dieser Woche in Deutsch dreimal deine Hausaufgabe nicht dabei hattest.« – »Da bin ich besorgt,« – »weil mir Sicherheit wichtig ist, dass alle Schülerinnen und Schüler der Klasse sich am Unterricht beteiligen können«. – »Bist du bitte bereit, mit mir in der nächsten großen Pause darüber 10 Minuten zu sprechen?«

Wenn ein Lehrer so denkt, spricht und sich entsprechend verhält, dann kommt Marc in großer Wertschätzung gegenüber das zum Ausdruck, was jetzt im Lehrer lebendig ist – nicht was er irgendwann einmal gelernt hat, nicht was an Urteilen oder moralischem Richtig oder Falsch in seinem Kopf ist oder an hierarchischen Vorstellungen über das Lehrer-Schüler-Verhältnis. Was er jetzt fühlt und braucht, das ist wichtig. Da kann Neues passieren. Und genau das ist Thema der GFK zwischen Menschen: Ich nehme das wahr, was jetzt in mir lebendig und deshalb wichtig ist. So kann Begegnung gelingen.

Hinter diesem Kommunikationsmodell steckt eine bestimmte Haltung. Sie ist geprägt von einem »ewigen Vertrauen des Menschen, das ihn immer glauben lässt, man könne bei einem anderen Menschen menschliche Reaktionen hervorrufen, wenn man mit ihm in der Sprache der Menschlichkeit rede«17.


Gewaltfreie Kommunikation als Haltung

Rosenberg beschreibt diese Haltung: »Jedem Menschen eine grundsätzliche Wertschätzung entgegenzubringen, ist die schönste Umgangsform, die wir uns selbst gegenüber wählen können. Denn jedes Mal, wenn wir ein Arschloch sehen, zahlen wir dafür, denn dann leben wir in einer Welt voller Arschlöcher. Wenn ich mich dafür entscheide, in jedem Menschen seine Schönheit zu sehen, dann behandle ich auch mich selbst mit Liebe.«18 Die Haltung, zu der Rosenberg ermutigen möchte, erinnert an eine, wenn auch in ganz anderer Sprache geschriebene Formulierung Albert Schweitzer: »Nicht aus Gütigkeit gegen andere bin ich sanftmütig, friedfertig, langmütig und freundlich, sondern weil ich in diesem Verhalten die tiefste Selbstbehauptung bewähre. Ehrfurcht vor dem Leben, die ich meinem Dasein entgegenbringe, und Ehrfurcht vor dem Leben, in der ich mich hingebend zu anderem Dasein verhalte, greifen ineinander über.«19

GFK will als Haltung eingeübt und gelebt werden – und nicht lediglich als Sprachmuster. Das Üben der vier Schritte hilft dazu, »die innere Haltung und die Beziehung zu sich und anderen«20 zu verändern. Die vier Schritte sind auch und vielleicht vor allem ein Angebot und eine Möglichkeit zur (Selbst-)Reflexion und bieten damit eine Möglichkeit der Entschleunigung – allein dies ist ein politischer Akt: Die vier Schritte helfen zu engagierter Gelassenheit!

Rosenberg selbst sieht die Methode GFK als ein Werkzeug an, das über »kulturellen Konditionierungen« wie Konkurrenzdenken, Siegen-Wollen, andere Klein-Machen-Wollen hinweghilft. Dazu hat er seine Methode einmal mit Hilfe einer abgewandelten buddhistischen Parabel mit einem Floß verglichen: »Sie stehen am Ufer eines Flusses, den Sie überqueren wollen, um an einen wunderbaren Ort zu gelangen. Deshalb besorgen Sie sich ein Floß. Dieses Floß ist genau das richtige Hilfsmittel, um Sie über den Fluss zu bringen. Sobald sie erst einmal auf der anderen Seite des Flusses angelangt sind, müssen Sie nur noch wenige Kilometer zurücklegen, um diesen wunderbaren Ort zu erreichen. Und die buddhistische Parabel endet folgendermaßen: »Der ist ein Narr, der den Weg zum heiligen Ort fortsetzt, und sich dabei das Floß auf seinen Rücken lädt«. Gewaltfreie Kommunikation ist ein Werkzeug, um mir über meine kulturellen Konditionierungen hinwegzuhelfen, damit ich zu dem wunderbaren Ort gelangen kann. Gewaltfreie Kommunikation ist nicht der Ort.«21

Diesen heiligen, wunderbaren Ort, von dem die buddhistische Fabel zu berichten weiß, kennen offensichtlich auch der islamische Sufipoet Rumi aus dem 13. und der jüdische Dichter Jehuda Amichai aus dem 20. Jh. Rumi formulierte den Satz: »Jenseits von richtig und falsch liegt ein Garten, dort treffen wir uns.«22 Und Jehuda Amichai dichtete:

An dem Ort, an dem wir Recht haben,
werden niemals Blumen wachsen
im Frühjahr.
Der Ort, an dem wir Recht haben,
ist zertrampelt und hart wie ein Hof.
Zweifel und Liebe aber
lockern die Welt auf
wie ein Maulwurf, wie ein Pflug.
Und ein Flüstern wird hörbar
an dem Ort, wo das Haus stand,
das zerstört wurde.
23

Ich versuche eine Übersetzung: Jenseits von »meine Strategie ist richtig« und »deine Strategie ist falsch« liegt der Garten der Bedürfnisse. Lass uns dorthin gehen, auf der Ebene der Bedürfnisse uns verbinden und so Verständigung einüben. Wenn wir Recht behalten wollen mit unseren Strategien, entstehen Gewalt und Härte. Verständigung und Kommunikation werden dagegen möglich, wenn wir Zweifel zulassen und liebevoll uns einander zuwenden, nach den uns gemeinsamen Bedürfnissen fragen und Strategien suchen, die gewaltfrei, friedensfördernd und lebensdienlich sind. Dann gehen wir sanftmütig und liebevoll miteinander um – »ein Flüstern wird hörbar«, das Verständigung ermöglichen hilft …


Eine positive und lebensfreundliche Anthropologie

Eine weitere Herausforderung für mein theologisches und religionspädagogisches Nachdenken sehe ich in dem für GFK zentralen Stichwort der Schönheit, einer daraus resultierenden Wertschätzung meiner selbst und aller Menschen und damit verbunden eines positiven und ebenso lebens- wie fehlerfreundlichen Bildes vom Menschen. Ein Gedicht von Kathy und Red Grammer lautet »See Me Beautiful – Sieh die Schönheit in mir«:

Sieh die Schönheit in mir,
such’ das Beste in mir.
Das ist es, was ich wirklich bin
und was ich wirklich sein will.
Es mag etwas dauern,
Es mag schwer zu finden sein,
aber sieh die Schönheit in mir.
Sieh die Schönheit in mir,
jeden Tag:
Kannst du das Wagnis eingehen,
kannst du eine Möglichkeit finden,
in allem, was ich tue,
mich durchscheinen zu sehen
und meine Schönheit wahrzunehmen
24

Wenn »wir in unserer Theologie fast erstickt sind an einer pessimistischen, menschenverachtenden Anthropologie«25, dann macht GFK darauf aufmerksam, dieses Menschenbild und die damit verknüpfte Anthropologie neu zu bedenken. Gedichte wie das gerade zitierte realisieren weltlich, »was die überlieferte religiöse Sprache verschlüsselt aussprach«26. Es ist spannend, genau danach zu fragen. Ich habe dies mit Studierenden unseres theologischen Seminars in Braunschweig getan. Lediglich zwei Hinweise aus dieser Entdeckungsreise:

Der Text lädt dazu ein, zwischen der Person und dem, was jemand tut, zu trennen, und verweist so auf den Topos der Rechtfertigung oder Gnade Gottes und erinnert uns an ein Liebesgedicht »Wenn du mich anblickst, werd’ ich schön« von Gabriela Mistral, das F. Steffensky gerne als poetische Umschreibung von »Gnade« zitiert und das vielleicht deutlicher sagt, was Gnade ist, als viele religiöse Texte:

Wenn du mich anblickst, werd’ ich schön
schön wie das Riedgras unterm Tau.
Wenn ich zum Fluss hinuntersteige,
erkennt das hohe Schilf mein sel’ges ­Angesicht nicht mehr.
27

Es geht um den wertschätzenden Blick, um die Erfüllung des Bedürfnisses, gesehen zu werden: Bartimäus wollte sehen und sehen, dass er gesehen wird; Patricia Cavalli dichtete: »Schau mich an! Auferstehe mich!«; und der gnadenvolle Blick sieht den Menschen – gleich was er tut oder getan hat.

Der Text ermutigt, die Frage nach der eigenen Identität zu stellen: »Wer bin ich?« und erinnert so an ein Gedicht Bonhoeffers:

Wer bin ich?

Bin ich das wirklich, was andere von mir sagen?

Oder bin ich nur das, was ich selbst von mir weiß?

Wer bin ich? Der oder jener?

Bin ich denn heute dieser und morgen ein anderer?

Bin ich beides zugleich?

Wer bin ich? Einsames Fragen treibt mit mir Spott.

Wer ich auch bin, Du kennst mich, Dein bin ich, o Gott!28

Die Fragen Bonhoeffers fordern dazu heraus, das Wagnis einzugehen, in allem, was einer oder eine tut, ihn oder sie durchscheinen zu sehen: einander sehen, wie Gott uns sieht.

Wenn »Religion diese und andere ungebändigte Wünsche enthält«29, so möchte ich dies auch für GFK reklamieren: GFK ermöglicht Unterbrechungen der Gewalt, die uns einmauert in mancherlei Gefängnisse unserer biographischen Gewohnheiten, unserer erlernten Regeln und unserer gesellschaftlichen und kirchlichen Konditionierungen. Sie ist Auferstehungssprache, sie will der Lebendigkeit Ausdruck geben, die ich jetzt spüre und will diese Lebendigkeit anderen schenken. Damit verändert sich auch meine theologische Arbeit. Sie verliert ihren anmaßenden Charakter, wissenschaftlich Bescheid geben zu können, wird kritisch-helfendes Nachdenken zum Leben und zu einem gebildeten Glauben. Ich entdecke ihre poetischen Möglichkeiten.


Anmerkungen:

1 Vortrag beim Stuttgarter Kirchentag am 6. Juni 2015 auf Einladung des Stuttgarter Netzwerkes für Gewaltfreie Kommunikation. Vgl. G. Orth, Gewaltfreie Kommunikation in Kirchen und Gemeinden. Die Nächsten lieben wie sich selbst. Paderborn 2016.

2 L. Rasmussen, Friede mit der Erde – Das große neue Werk. In: G. Müller-Fahrenholz (Hrsg.), Friede mit der Erde. Frankfurt/M. 2010, 45-81. Zitat: 62-64 i.A.

3 J. Macy und C. Johnstone, Hoffnung durch Handeln. Paderborn 2014, 41f.

4 Johan Galtung hat folgende Bestimmung von Gewalt vorgeschlagen, die mir plausibel erscheint: »Gewalt liegt dann vor, wenn Menschen so beeinflusst werden, dass ihre aktuelle somatische und geistige Verwirklichung geringer ist als ihre potentielle Verwirklichung.« (J. Galtung, Strukturelle Gewalt. Beiträge zur Friedens- und Konfliktforschung. Reinbek bei Hamburg 1975, 9) Diese abstrakte Definition hat den Vorteil, dass sie physische, psychische und sprachliche Gewalt umfasst.

5 Vgl. G. Orth/H. Fritz, Gewaltfreie Kommunikation in der Schule. Wie Wertschätzung gelingen kann. Paderborn 2013. G. Orth/H. Fritz, Bitten statt fordern. Ein Schulentwicklungsprojekt mit Gewaltfreier Kommunikation. Paderborn 2014. G. Orth, Miteinander reden – einander verstehen. Paderborn 2015. Vgl. weiter: G. Orth, Gewaltfreie Kommunikation in Kirchen und Gemeinden. Paderborn 2015; G. Orth/H. Fritz, »Ich muss wissen, was ich machen will …« Ethisches Lernen und Lehren in der Schule. Göttingen 2008.

6 D. Sölle, Gewalt. Ich soll mich nicht gewöhnen. Dies., Gesammelte Werke. Bd. 4. Stuttgart 2006, 171-204. Zitat: 191.

7 M. Rosenberg, Lebendige Spiritualität. Berlin 2009, 11. Vgl. dazu auch: G. Orth, Gewaltfreiheit – ein Name Gottes. Spirituelle und politische Wege zur Gewaltfreiheit. Hannover 2014.

8 M. Max-Neef, Antonio Elizalde und Martín Hopenhayn, Entwicklung nach menschlichem Maß. Eine Option für die Zukunft. Aus dem Spanischen von Norbert Rehrmann und Horst Steigler. Santiago de Chile 1990; Kassel: Gesamthochschulbibliothek, Reihe: Entwicklungsperspektiven. Band 39. Kassel 1990; vgl. weiter M. Max-Neef, From the outside looking in. Experiences in »barefooteconomics«. London/New Jersey 1992. Es gibt eine ganze Reihe weiterer und sehr viel ausdifferenziertere Bedürfnislisten, dazu auch solche, die in der Sprache von Grundschulkindern formuliert sind; vgl. dazu: G. Orth/H. Fritz, Gewaltfreie Kommunikation in der Schule. A.a.O., 31f. Ein Schulentwicklungsprojekt in einer Förderschule, das seinen Ausgang bei den Bedürfnissen der Schülerinnen und Schüler wie der Lehrerinnen und Lehrer wählt, beschreibt G. Orth/H. Fritz, Bitten statt fordern. A.a.O.

9 Ernst Lange, Sprachschule für die Freiheit. In: Ders., Sprachschule für die Freiheit. Bildung als Problem und Funktion der Kirche. München/�Gelnhausen1980, 117-132. Zitat: 122.

10 A.a.O., 286f.

11 Mk. 10,46-52.

12 Vgl. zu diesen beiden Grundbedürfnissen Ps. 31, insbes. V. 4 und 9.

13 Patricia Cavalli, Diese schönen Tage. Italienisch-deutsch. München 2009, 126f.

14 In einem Gespräch mit dem Theaterregisseur Werner Schroeter, dessen schriftliche Wiedergabe den Doppeltitel hat »Die Idee der Herzensbildung« oder »Man muss den Menschen lieben, um ihn zu verstehen«, wird Schroeter angesprochen auf seinen langen Weggefährten Alexander Kluge, der gerne die Ähnlichkeiten zwischen Kino und Oper betont hat und in beiderlei Hinsichten die Formulierung vom »Kraftwerk der Gefühle« gebrauchte. Schroeter kommt in diesem Zusammenhang des Interviews auf das Stichwort »Herzensbildung«: »Die hat er übrigens von mir. ›Kraftwerk der Gefühle‹ stimmt in jedem Fall. Das ist die einzige Waffe, die wir haben in einem Land, in dem Gefühle als Schande gesehen werden und ihre Verkarstung als Weg zur Vergeistigung. Ohne Herzensbildung kommt man nicht voran. Das Gefühl als Träger des Ausdrucks ist eigentlich die humanste Idee, natürlich immer gekoppelt mit dem Denken.« Darauf der Interviewer: »Kann man das zusammenfassen: Was Sie mit Ihrer Arbeit letzten Endes bezwecken? Was alles vereint?« Und die Antwort Werner Schroeters: »Eine Reaktion hervorzurufen, die zum Denken und Mitfühlen führt – ohne eine Wertung darüber abzugeben. Man muss die Augen öffnen.«

15 Vgl. G. Fritsch, Praktische Selbst-Empathie. Paderborn 2009.

16 Vgl. dazu G. Orth/H. Fritz, Bitten statt fordern. A.a.O.

17 A. Camus, Weder Opfer noch Henker. Über eine neue Weltordnung. Zürich 1996, 10. Das Zitat ist von mir entscheidend verändert, weil ich in einer anderen Situation lebe als Camus. Camus sieht genau diese Möglichkeit, die mir (wieder) Hoffnung macht, zerstört »durch das Schauspiel der Jahre, die wir soeben erlebt haben« (der Text erschien in französischer Sprache bereits kurz nachdem 2. Weltkrieg 1946).

18 M. B. Rosenberg, Konflikte lösen durch Gewaltfreie Kommunikation. Freiburg 2009, 88.

19 A. Schweitzer, Die Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben. In: Gesammelte Werke in fünf Bänden. Bd. 2, 385.

20 K.-D. Gens, Gewaltfreie Kommunikation nach Dr. Marshall Rosenberg. Einführung. Berlin o. J., 5. Vgl. www.gewaltfreiforum.de.

21 M. B. Rosenberg, Konflikte lösen durch Gewaltfreie Kommunikation. A.a.O., 48.

22 Zit. nach M. B. Rosenberg, Gewaltfreie Kommunikation. A.a.O., 35. Vgl. zum Folgenden auch: G. Orth, Toleranz: Anerkennung der einander Fremden und Verschiedenen. Gewaltfrei Toleranz lernen. In: Glaube und Lernen. 1/2011, 84-111.

23 Zit. nach S. Korn, Die Gnade des Zweifels. www.faznet.de (27.9.2009).

24 Copyright: 1986 SmilinAtcha Music Inc. veröffentlicht auf Red Note Records 800-824-2980. Zit. nach: M. B. Rosenberg, Erziehung, die das Leben bereichert. Gewaltfreie Kommunikation im Schulalltag. Paderborn 2005, 80f.

25 Vgl. D. Sölle, Theologie der Befreiung für uns in Europa. In: Dies., Gesammelte Werke. Bd. 4. Stuttgart 2006, 304

26 Vgl. D. Sölle, Das Eis der Seele spalten. Gesammelte Werke. Bd. 7. Stuttgart 2008.

27 Vgl. F. Steffensky, Damit die Träume nicht verloren gehen. Religiöse Bildung und Erziehung in säkularen Zeiten. In: Loccumer Pelikan 4/2000. Vgl. auch: http://www.rpi-loccum.de/material/
pelikan/pel4-00/steffky.

28 D. Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung. DBW Bd. 8. Gütersloh 1998, 513ff.

29 Vgl. D. Sölle, Der Wunsch ganz zu sein. In: Dies., Gesammelte Werke. Bd. 2. Stuttgart 2006, 116.

 

Über die Autorin / den Autor:

Prof. Dr. Gottfried Orth, nach Pfarramt und Evang. Erwachsenenbildung seit 1998 an der TU Braunschweig Prof. für Evang. Theologie und Religionspädagogik, Mitglied im Team des ORCA-Instituts für Konfliktmanagement und Training.

Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 1/2016

Kommentieren Sie diesen Artikel
Pflichtfelder sind mit * markiert.
Ihre E-Mail Adresse wird nicht veröffentlicht.
Spamschutz: dieses Feld bitte nicht ausfüllen.