Manfred Kriessler ist überzeugt: ein anderes, regeneriertes Christsein in Praxis und Theorie brauchen und suchen wir heute. Welche Anstöße der protestantischen Reformation sind dafür hilfreich? Ein Vergleich zwischen dem vor 70 Jahren ermordeten Dietrich Bonhoeffer und dem Reformator Johannes Calvin soll Hinweise geben.

Reformationserinnerung meint: von der protestantischen Reformation einen Bogen zu unsrer Gegenwart schlagen und fragen: Was von diesem 500 Jahre alten Ereignis hat noch Bedeutung für uns und bleibt weiterhin wichtig? Wohl hat manches, was im 16. Jh. fundamental war, heute seine Bedeutung verloren (z.B. die Antiposition zum Papsttum oder die Streiterei über das Abendmahlsverständnis). Doch gibt es Kontinuitäten des Christseins über Jahrhunderte. Viele, untereinander verschiedene, Menschen sehen sich mit Jesus von Nazareth verbunden. Sie – wir eingeschlossen – tragen seine Funktionsbezeichnung (Christus, Messias, von Gott Gesalbter und Beauftragter) als ihren Namen. Welcher Auftrag ist uns damit heute übertragen?

Im Folgenden soll auf einige inhaltliche Erkenntnisse und Orientierungen hingewiesen werden, die sich von der Reformation bis in unsere Zeit hinziehen, von Calvin bis Bonhoeffer. Bonhoeffer möchte ich für »unsere Zeit« reklamieren. Er hat in der Zeit nach dem 1. Weltkrieg gelebt. Diese »Urkatastrophe« bedeutete die selbst bewirkte Zusammenstürzung des europäischen Selbstbildes kulturell höchststehender Völker. Und Bonhoeffer hat den beginnenden Holocaust mitbekommen. Hier wurde aus der vom europäischen Christentum vertretenen (theologischen) Verwerfung der Juden die (praktisch-politische) Folgerung gezogen, Juden (und anderen) ihr Lebensrecht abzusprechen. Manche, auch Bonhoeffer, distanzierten sich davon. Französische, holländische, dänische, polnische, bulgarische Christen blieben solidarisch mit Juden. Trotzdem: »Der Holocaust ist die größte Glaubwürdigkeitkrise des Christentums, die es je gab«, Franklin Littell).

Darum und immer noch: Ein anderes, regeneriertes Christsein in Praxis und Theorie brauchen und suchen wir heute. Welche Anstöße der protestantischen Reformation sind dafür hilfreich? Dazu mag ein Vergleich zwischen Bonhoeffer und Calvin Hinweise geben. Von einer Beziehung zwischen Bonhoeffer und Calvin kann man kaum reden. Ganz anders steht es mit Luther. Mit ihm hat sich Bonhoeffer intensiv befasst, er zitiert niemand so oft wie Luther, hunderte Male; er ist und versteht sich als Lutheraner. Bonhoeffer hat zwar auch Calvin zitiert und er hat die fünfbändige Calvin-Ausgabe von Peter Barth (OS), erschienen 1926-1936, besessen. 1935-1937 im Lehrbetrieb in Finkenwalde stehen neben 63 Nennungen von Luther 6 von Calvin. Doch in seiner Vorlesung über »Amt und Gemeinde« stellt Bonhoeffer eine »Gegenthese« zum lutherischen Amtsverständnis auf: das Amt des Predigers wird durch Berufung der Gemeinde konstituiert (14,311), und er referiert das (calvinsche) kollegiale Gemeindeleitungsmodell, bei dem neben den Pfarrern und Lehrern noch Älteste und Diakone (Laien!) stehen (14,550f). Das berührt sich mit der Erfahrung der Finkenwalder, dass Gemeinden, nicht Bischöfe die Bekennende Kirche getragen und ihre Pfarrer gestützt haben. Des Weiteren erwähnt er noch, dass im schottischen Calvinismus »die Tyrannen nicht im eigentlichen Sinn Obrigkeit« seien (14,319). 1940 findet Bonhoeffer Calvins Briefe(n) an Hugenotten (es sind Trostbriefe an Verfolgte) »(s)ehr eindrucksvoll« (16,83).

Mit alledem lässt sich kaum eine Verbindung von Bonhoeffer zu Calvin nachweisen. Anders sieht es aus, wenn man auf inhaltliche Gesichtspunkte achtet, solche die beiden wichtig sind. Ich will einige nennen, die mir auf gefallen sind.


1. Beten und Tun des Gerechten unter den Menschen

So formuliert es Bonhoeffer 1944 für seinen Patensohn, der unter veränderten Umständen aufwachsen wird. Es ist, in aller Kürze, das, was das Christsein ausmacht (nach der Shoah!), was die Aufgabe der Christen ist. Zur Annäherung an Calvin kann der Heidelberger Katechismus (1563) beitragen, der von überragender Bedeutung für den evangelisch-reformierten Protestantismus ist. In seinem 3. Teil wird unter dem Obertitel »Von der Dankbarkeit« besprochen: Das Tun der (zehn) Gebote und das Beten. Vorlage für den Heidelberger ist Calvins Genfer Katechismus von 1545.

Calvin sagt: Das Evangelium (tota Evangelii doctrina) besteht in zweierlei: in Glauben und Buße (poenitentia). Zur Buße gehört die Liebe zur Gerechtigkeit und dass wir unser Handeln (actiones) Gottes Willen unterstellen (CSA 2,17f.54-57). Bonhoeffer sagt: »Buße fordert die Tat« (Ethik; 6,157) und schreibt im Mai 1944: »Unser Christsein wird heute nur in zweierlei bestehen: im Beten und im Tun des Gerechten unter den Menschen« (8,435). Das Luthertum, fixiert auf das sola fide, lagerte gewissermaßen solches Handeln in einen »weltlichen« Bereich aus, in dem zweierlei galt: Der Staat wurde religiös legitimiert, was sich als Obrigkeitsgläubigkeit in der Nazi-Zeit fatal auswirkte, und dem Bereich Staat und Wirtschaft wurde »Eigengesetzlichkeit« zugebilligt.

Die Folge der »strikten Trennung der Bereiche des staatlichen und kirchlichen Handelns« wurde im April 1933 sichtbar. Die protestantischen Kirchenführer entschieden sich zum »Schweigen hinsichtlich der beginnenden Entrechtung und Verfolgung der Juden im NS-Staat« (Smid 59). Lutherische Bischöfe gestanden dem Staat das Recht zu, so zu handeln.

Bonhoeffers Text von 1933 »Die Kirche vor der Judenfrage« (DBW 12,349ff) lässt erkennen, dass er dieser Einstellung nahe steht, aber sich von ihr löst. Er beginnt mit einem Lutherzitat (von 1546), dass die Juden »sich bekehren … und Christum annehmen« sollen, und sagt noch, dass »der Staat berechtigt (sei) hier (sc. in der Judenfrage) neue Wege zu gehen«, also der NS-Staat! Doch findet er hin zu der »dreifachen Möglichkeit kirchlichen Handelns dem Staat gegenüber«, deren dritte ist, im Ernstfall, gegen den Staat, dem Rad in die Speichen zu greifen.


2. Die Unterscheidung von Letztem und Vorletztem

Bonhoeffer entwickelt sie in der Arbeit an der »Ethik« 1940f (DBW 6), und im Tegeler Gefängnis ist sie präsent: Wir leben im Vorletzten und glauben an das Letzte (15.12.1943), und: Glauben ist die Teilnahme am Sein Jesu, am »Für-andere-Dasein« bis zum Tod (1944).

Im Warten auf Gottes Zeit, auf das Letzte, dem Ziel des Lebens bei Gott, hin ausgerichtet, sollen wir zuvor, im Hier und Jetzt, im Vorletzten eben nicht nichts machen, sondern uns den vorgelegten Aufgaben stellen: »Der Hungernde braucht Brot, der Obdachlose Wohnung, der Entrechtete Recht, der Vereinsamte Gemeinschaft, der Zuchtlose Ordnung, der Sklave Freiheit« (6,155)! Im Vorletzten auf Gott hin orientiert sein, heißt auch, sich nicht den herrschenden Mächten zu beugen, sei es dem Nationalismus (und Antisemitismus), sei es dem Geld und der Profitgier. Vielmehr sollen wir in unserem Menschsein und mit dem Gutsein umkehren, weg von diesen Beherrschungen, und einen Weg bereiten zu einem Leben, das Christus annimmt. Wegbereitung ist Buße, sagt Bonhoeffer, und: Wegbereitung ist gestaltendes Handeln – ein Auftrag von unermesslicher Verantwortung für alle, die das Kommen Jesu Christi erwarten (DBW 6,137-160).

In Calvins bedeutendem Werk »Institutio christianae religionis«, Grundlegung des christlichen Glaubens, das nicht nur christliche Lehre entfaltet, sondern ebenso zu christlichem Leben anleitet, findet sich im Buch III in den Kapiteln 6-10 ein »Traktat über das christliche Leben« (Plathow, Link). Einiges, was Calvin anspricht, findet sich bei Bonhoeffer wieder. Beiden geht es nicht nur um den Glauben, etwa im Sinne einer »Weitergabe des Glaubens«, sondern um eine aus Überzeugungen des Christseins heraus gestaltete Praxis des Miteinanderlebens in immer neuen Herausforderungen.

Calvin spricht in Kap. 6 von der Gleichgestaltung mit Christus, die die Glaubenden in ihrem Leben zur Abbildung bringen. Ebenso redet Bonhoeffer (im Kapitel »Ethik als Gestaltung«, DBW 6,93-124) von der Gleichgestaltung mit Christus. Calvin sagt: Christus, der Erlöser, rechtfertigt die Sünder und bringt sie zu einem erneuerten, »regenerierten« Leben – bei Bonhoeffer finden sich ähnliche Äußerungen im Kapitel »Schuld, Rechtfertigung, Erneuerung« (DBW 6,125-136). In den Kap. 7 und 8 beschreibt Calvin die Merkmale des Christseins mit: Zucht, Gerechtigkeit, Gottseligkeit und Tragen des Kreuzes. Das erinnert an Bonhoeffers Gedicht von den »Stationen auf dem Weg zur Freiheit«: Zucht, Tat, Leiden, Tod. Zucht – man kann das Wort kaum mehr hören – heißt bei Calvin auf Lateinisch disciplina und bedeutet: Verzichtbereitschaft, Mäßigkeit, auch besonnener Genuss. Gerechtigkeit begegnet den Mitmenschen mit Recht und Billigkeit. In »Gottseligkeit« ist der Mensch ausgerichtet auf die Heiligung in der Gemeinschaft mit Gott. Und Leiden und Kreuz in der Nachfolge Christi wenden unseren Blick auf die Zukunft Gottes. Das darauf folgende Kap. 9 bei Calvin heißt: »meditatio futurae vitae« – Vorbereitung auf bzw. Streben nach dem zukünftigen Leben. Die Überschrift des 10. Kap.: »Wie wir das gegenwärtige Leben und seine Mittel gebrauchen sollen« – nämlich im Blick auf das Ziel unseres Lebens, das wir nicht durch eigene Kraft gewinnen, das aber Gott für uns vorsieht; es ist das »Erbe der ewigen Herrlichkeit«.

Hier sehe ich die deutlichste Parallele bei Bonhoeffer zu Calvin. In unserem gegenwärtigen Leben – dem Bereich des Vorletzten – sollen wir so leben, dass es zur Vorbereitung wird für das Letzte, für das Ziel in Gottes Leben. Meditatio heißt (auch) Vorbereitung. Bonhoeffer nennt es Wegbereitung. In seiner Ethik finden sich die gleichen Schritte wie bei Calvin: Gleichgestaltung mit Christus wird ermöglicht dadurch, dass Christus uns aus der Schuld herausreißt (»rechtfertigt«), und so unsere Umkehr (Buße) und Erneuerung auf den Weg bringt zu einem Leben, das im Vorletzten durch die Anrufung Gottes und im Tun der Gebote bzw. des Willens Gottes sich zum Letzten hin orientiert, wo Gott uns entgegenkommt.


3. Die Betonung des AT bzw. die Gleichgewichtigkeit von AT und NT

Wir finden sie bei Bonhoeffer, als er 1940 ein Büchlein über die Psalmen (»Das Gebetbuch der Bibel«, auch Gebetbuch für Jesus) veröffentlichte, was ihm ein Veröffentlichungsverbot einbrachte. In den Briefen aus dem Gefängnis schreibt er an Bethge, dass das AT für ihn immer mehr an Gewicht gewinnt (2. Adv. 1943; 8,226). Das ist zu sehen gegen eine Abwertung des AT in Kirche und Theologie.

Bei Calvin sind AT und NT die integralen Bestandteile der Bibel (das ganze Kapitel Inst. II,10). Das AT enthält schon die Verheißungen des Evangeliums (Inst. II,10,3). Er sagt (Inst. III,17): Wir Christen fassen die Bibel ganz und recht, wenn wir sie als Vereinigung der Verheißungen des Gesetzes und des Evangeliums verstehen (promissionum legis et Evangelii conciliatio). Deshalb macht Calvin die lutherische Abwertung des Gesetzes gegenüber dem Evangelium nicht mit. Vielmehr: »Christus bezeugt diese Übereinstimmung von Gesetz und Evangelium«. Das hat seinen Grund in Gottes Bund, der unverbrüchlich bleibt – für Juden und Christen. Zur Abwertung des AT gehörte, im Gefolge Luthers, auch die Abwertung der Juden.


4. Die Einstellung zum Judentum

Bei Calvin und der reformierten Theologie gilt vom Bundesgedanken her: Gott verbündet sich mit den Menschen, ihnen zugut, zuerst exemplarisch mit dem jüdischen Volk. Calvin (Inst. II,10,4) nennt die Juden sogar »expertes Christi«, mit ihnen ist »der Bund des Evangeliums (Evangelii foedus) geschlossen, dessen Fundament Christus ist«. Darum verdrängen in diesem Bund nicht die Christen die Juden, sie selber werden kooptiert. Es ist von Gott her ein Bund, von den Menschen her, von der Differenz, in der sich Christen gegenüber Juden sehen, gewissermaßen ein gedoppelter Bund.

Calvin sagt (Inst. I,11,3): Halten wir uns im Spiegel vor, wie sehr der menschliche Geist zur Vergötzung tendiert. Wir belegen die Juden mit dem Laster, welches uns allen gemeinsam ist. Indem wir uns auf diese Weise in trügerischen Schmeicheleien wiegen, als ob wir keineswegs schuldig wären, ähneln wir denen, die wir verdammen. – Das ist eine ganz andere Stimme und Stimmung als wir sie bei Luthers hysterischen Hassausbrüchen gegen die Juden finden. Und es gibt in der Reformationszeit noch freundlichere Äußerungen: »A nôtre allié et confédéré, le peuple de l’alliance de Sinai, Salut!« Diesen Gruß in der französischen Bibelübersetzung von Olivetan, in der auch Vorworte von Calvin enthalten sind, richtet aus: VFC. Es ist wahrscheinlich Wolfgang Fabritius Capito aus Straßburg.

Und nun Bonhoeffer: 1933 setzt er sich für Judenchristen ein. Um 1935 sein Ausspruch: »Wer nicht für die Juden schreit, darf nicht gregorianisch singen, kann nicht den Anspruch machen, Christ zu sein.« Und 1942 – Bonhoeffer hat schon Deportationen von Juden in Berlin mitbekommen – sagt er in der Ethik: Die abendländische Geschichte ist nach Gottes Wille mit dem Volk Israel unlöslich verbunden, nicht nur genetisch, sondern in echter unaufhörlicher Begegnung. … Eine Verstoßung der Juden aus dem Abendland muß die Verstoßung Christi nach sich ziehen, denn Jesus Christus war Jude (DBW 6,95).

Ab 1933 wendet sich Bonhoeffer ab von dem christlich bestimmten Antisemitismus des national-konservativen Luthertums (Thamer, 218); ebenso lehnt er, mit dem radikalen Flügel der BK, ab die »aus der lutherischen Zwei-Reiche-Lehre abgeleiteten Gedanken von einem ›schiedlich-friedlichen Nebeneinander‹ von Staat und Kirche« (Thamer, 236; Zitat E. Busch). Sabine Dramm sagt über das Verhältnis Bonhoeffers zu den Juden: »Seine innere Beziehung zum Volk des Alten Bundes und zum alttestamentlichen Glauben und Denken nahm im Lauf seines Lebens an Intensität zu« (Dramm, 192).


5. Ökumene

Die Zusammengehörigkeit der einen Kirche Jesu Christi über Grenzen und Differenzen hinweg ist Calvin wie Bonhoeffer elementar wichtig. Nachdem Calvin das Evangelium entdeckt hatte – nicht in der Papstkirche –, erlebt er, dass Christen dafür verfolgt wurden, und er erfährt die durch das Evangelium erneuerte Kirche als Kirche von Flüchtlingen, die unter verschiedenen Umständen lebt und sich entwickelt. Von daher liegt Calvin die Gemeinschaft der unterschiedlichen Kirchen an verschiedenen Orten am Herzen – und deren kollegiale Leitung. Von Genf aus schickt er Briefe nach Frankreich, Italien, Deutschland, Ostfriesland, England, Polen, mit denen er Verbindungen knüpft, berät und sie tröstet. Einigkeit in Bezug auf die in Christus zusammengehörenden Gemeinden und Kirchen ist ihm wichtiger als Einheitlichkeit. Auch theologische Unterschiede sollen keine Ursache für Trennungen sein. Das zeigt sich am Consensus Tigurinus von 1549, jenem Zürcher Konsens in Abendmahlsfragen – damals das beliebteste Streitthema, besonders der lutherischen Theologen. Calvin hat in geduldigen Verhandlungen mit dem Leiter der Zürcher Kirche, Bullinger, eine Einigung im Abendmahlsverständnis erzielt, bei dem zwinglische und von Calvin vertretene (modifizierte) lutherische Ansichten zur Übereinkunft gebracht werden. Das Gegenbeispiel: Im Marburger Religionsgespräch 1529 sind sich Wittenberger, Zürcher und Straßburger Theologen in 14 Punkten einig, im 15. – dem Abendmahl – nicht. Für Luther ein Grund zum Bruch. Der Starrsinn Luthers, von lutherischen Theologen übernommen, führt zur Trennung der protestantischen Konfession. 1530 werden die Schweizer und Straßburger beim Augsburger Reichstag nicht berücksichtigt; 1555 bleiben die Reformierten vom Augsburger Religionsfrieden ausgeschlossen! Es besteht zwischen Lutheranern und Reformierten keine Abendmahlgemeinschaft bis Leuenberg 1973. Ab 1933 wird in Deutschland die Bekennende Kirche zusammengezwungen und sie »entschied (sich) im Glauben für Abendmahl- d.h. Kirchengemeinschaft« (»im Glauben« präzisiert Bonhoeffer mit »Führung Gottes« und also »nicht primär theologisch« (DBW 16,71)! Die Zustimmung der Lutheraner kam erst Jahre nach 1945.

Noch einmal zu Calvin: Ab Mitte des 16. Jh. wird Genf zu einem Zentrum europäischer evangelischer Ökumene. Calvin beteiligte sich (wie Melanchthon) an Unionsverhandlungen und bemühte sich, die auseinanderstrebenden Kräfte zu einen. Christian Link nennt Calvin wegen seiner »nicht nachlassenden Bemühung um die gefährdete Einheit der jungen protestantischen Kirchen« »einen der ersten protestantischen Ökumeniker« (CSA 8,2011, S. VI+VII). Die eine Kirche Jesu Christi, die überall vorkommt, und darum die »allgemeine«, die »katholische« heißt, wird lange nach der Kirchenspaltung des 16. Jh. als Ökumene gewissermaßen wiederentdeckt, zuerst zwischen den protestantischen Kirchen und der Orthodoxie, dann auch unter Einbeziehung der römisch-katholischen Kirche.

Bonhoeffer erlebte seine erste Begegnung mit der ökumenischen Christenheit 1928 in Barcelona, danach 1930/31 in New York. 1932 wird er internationaler Jugendsekretär des »Weltbundes für Friedensarbeit der Kirchen«. Er sprach vom »Anspruch ihres Herrn auf die ganze Welt« und sieht die »Zerrissenheit der einen wahren Kirche« (DBW 11,331.343). Er hatte erlebt, wie die ökumenische Bewegung sich für die bekämpfte Bekennende Kirche in Deutschland eingesetzt hatte. Das war für die deutschen Kirchen »etwas ganz Neues, was sich Bahn zu brechen begann, nämlich … die evangelische Ökumene« (DBW 14,379); dabei war es etwas ganz Altes seit dem NT, »daß die Kirche Christi nicht an nationalen und rassischen Grenzen haltmacht« (ebd.), dass also die »Ökumenizität der Kirche« (DBW 14,380) ein prinzipielles Merkmal der christlichen Kirche ist.

Und heute? Ökumene – das ist der Ort (die Erde), den Gott als Wohnort für alle Menschen geschaffen hat (Jes. 45,18). Daraus folgt: Ökumene ist der Auftrag an die Christen, auf dem Weg Jesu, in seiner Weise, für das Miteinanderleben der Menschen einzutreten. Was sie dazu instand setzt, ist die Übernahme der guten Worte des Jesus, des Evangeliums von Jesus Christus, das die Gerechtigkeit, die Gott will, ausbreitet (Mk. 1,1; Röm. 1,16; Dt. 10,17-20). Davon redeten im November 2013 Papst Franziskus und die 10. Vollversammlung des ÖRK in Busan/Korea. Papst Franziskus ruft im Apostolischen Schreiben »Evangelii Gaudium« dazu auf, in der Verbundenheit mit Jesus die soziale Ungleichheit zu bekämpfen, unter der ein Großteil der Menschen der Erde leidet. Sein »Nein« zu einer Wirtschaft, die ausbeutet, zum Geld als Gott, zur sozialen Ungleichheit, die Gewalt hervorruft, ist der eindeutigen Verkündigung, dass Jesus der Herr ist, geschuldet. Busan sagt: Die Einheit der Kirche, die Einheit der menschlichen Gemeinschaft und die Einheit der ganzen Schöpfung gehören zusammen. Sie sind untrennbar miteinander verbunden. Christus, der uns eins macht, spornt uns (!) an, gemeinsam für Gerechtigkeit und Frieden in Gottes Welt einzutreten.


Literatur

CSA = Calvin Studienausgabe (8 Bände), 1994-2011; Institutio (= OS 3ff)

DBW = Dietrich Bonhoeffer Werke (17 Bände), 1986-1999

Michael Plathow, Aszetik als Gestalt evangelischer Frömmigkeit – Das »goldene Buch des christlichen Lebens« von Johannes Calvin, in: DPfBl 8/2012, 451-456

Christian Link, Johannes Calvin – Humanist, Reformator, Lehrer der Kirche, 2009

Christian Link, Vom Glauben ins Leben, Calvins Impulse für Gemeinde und Gesellschaft, in: DPfBl 7/2009, 348-353

Marikje Smid, Protestantismus und Antisemitismus 1930-1933, in: Kaiser/Greschat (Hg.), Der Holocaust und die Protestanten, 1988, 38-72

Hans-Ulrich Thamer, Protestantismus und »Judenfrage« in der Geschichte des Dritten Reichs, in: Kaiser/Greschat (Hg.), Der Holocaust und die Protestanten, 216ff

Sabine Dramm, Dietrich Bonhoeffer. Eine Einführung in sein Denken, 2001


 

Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 4/2015

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