Das »Magazin für Politische Kultur« »Cicero« brachte im April 2014 ein Heft mit dem Lutherportrait Cranachs auf dem Titelblatt. Darunter den Text: »Judenfeind Luther. Die überfällige Debatte zur 500-Jahrfeier: Die Protestantin MARGOT KÄSSMANN bezieht Position, der Kriminologe CHRISTIAN PFEIFFER führt Beweis«.

Zuerst ein achtseitiger Artikel des bekannten hannoverschen Kriminologen, der nicht zufällig die gleiche Überschrift Die dunkle Seite der Reformation trägt wie der vorjährige Artikel Margot Kässmanns in der FAZ. Dann ein Expertengespräch über Luther zwischen Margot Kässmann, dem durch seine Lutherbiographie bekannten Historiker Heinz Schilling und dem katholischen Kirchenhistoriker Werner Brandmüller. Kässmann spricht von der in der evangelischen Kirche des letzten Jahrhunderts verbreiten Judenfeindlichkeit, aber nicht mehr von ihrer jahrhundertelangen Prägung durch Martin Luthers Judenschriften. Schilling meint sogar: »Um eine Traditionslinie zu den Nationalsozialisten ziehen zu können, müßte der Beweis erbracht werden, dass die antijudaistischen Schriften flächendeckend in den Bibliotheken protestantischer Prediger gestanden haben. Dieser Beweis fehlt. Im Gegenteil: Hitler beschwerte sich, dass die Kirchen den Deutschen den wahren, den antisemitischen Luther vorenthalten hätten.«


Recherchen eines Hobby-Historikers

Der Kriminologe Pfeiffer unternimmt es, den fehlenden Beweis zu führen und eine Traditionslinie von Luthers späten Judenschriften durch die Geschichte des Protestantismus hindurch bis zu Adolf Hitler durch eine Fülle von Indizien zu belegen. Dazu setzt er sich ausführlich mit meiner in der FAZ aufgestellter Behauptung auseinander, die er eine umstrittene These nennt, aber richtig wiedergibt: »Diese Schriften Luthers seien in späteren Jahrhunderten innerhalb der evangelischen Kirche anders als seine projüdische Schrift von 1523 abgelehnt worden und bald in Vergessenheit geraten. Erst die braunen Machthaber hätten die Christen an das vergessene Erbe erinnert.«1

Pfeiffer wendet ein: »Wallmann kann die kirchliche Ablehnung allerdings nur im Hinblick auf die relativ kleine Gruppe der Pietisten belegen.« Zweifelhaft werde seine Argumentation zudem, weil er sich auf nationalsozialistische Historiker oder völkische Antisemiten berufe. Nun habe ich in der Fremden Feder den nationalsozialistischen Historiker Karl Grunsky genannt, der darüber klagt, dass in allen volkstümlichen Lutherausgaben die antijüdischen Spätschriften fehlen. Pfeiffer setzt diese Klage mit der ganz andersartigen Klage Mathilde Ludendorffs gleich, diese Schriften seien nicht in die Gesamtausgaben von Luthers Schriften aufgenommen worden. Diese Klage habe der Theologe Steinlein bereits 1932 widerlegt. »Wallmann negiert damit völlig, daß bereits der Theologe Steinlein diese Thesen im Jahr 1932 als antikirchliche Propaganda entlarvt habe«.

Für Pfeiffers Argumentation ist Steinlein der Kronzeuge erstens, dass Luthers Spätschriften in die Gesamtausgaben aufgenommen wurden, zweitens, dass es vom 16. bis zum 19. Jh. vier gesonderte Nachdrucke gab und drittens, dass sich »seit dem Tode Luthers über die Jahrhunderte hinweg« eine große Zahl von evangelischen Theologen intensiv mit diesen Schriften befasst habe.

Nun habe ich mich nicht auf Mathilde Ludendorffs Klage bezogen, sondern auf die Klage Grunskys, Luthers Spätschriften seien nicht in die volkstümlichen Ausgaben aufgenommen. Nur darum geht es. Über den Unterschied zwischen Gesamtausgaben und Auswahlausgaben, von denen Steinlein nirgendwo redet, habe ich an dieser Stelle hinlänglich gehandelt. Steinlein wird von mir keineswegs negiert, vielmehr kann ich niemand besseren als ihn als Zeuge für meine Behauptung anführen. Dass er nur zwei Nachdrucke aus der Zeit vor dem Dreißigjährigen Krieg anführt, habe ich bereits gezeigt. Steinlein führt nur Theologen aus der Zeit vom16. bis zur zweiten Hälfte des 17. Jh. an, was meiner These nicht widerspricht, sondern eher bestätigt, dass der auf die lutherische Orthodoxie folgende Pietismus die Abwendung des Protestantismus von Luthers antijüdischen Schriften zugunsten seiner judenfreundlichen Schrift von 1523 brachte.

Pfeiffer wendet ein, beim Pietismus handele es nur um eine »relativ kleine Gruppe«. Damit zeigt er, dass er vom Pietismus keine Ahnung hat. Der Pietismus wandte sich von der in der lutherischen Orthodoxie festgehaltenen Endzeit-Mentalität Luthers ab und brachte durch Speners Hoffnung besserer Zeiten für die gesamte evangelische Kirche einen Bewusstseins- und Mentalitätswandel, der sinnvolles Handeln für das Reich Gottes in dieser Welt möglich machte. Christopher Clark spricht in seinem Preußenbuch vom Pietismus als einer die ganze Kirche erfassenden »Gegenkultur innerhalb des deutschen Luthertums«2. Ich habe in meinen Beiträgen das wichtigste über die Bedeutung des Pietismus gesagt und brauche dem nicht noch weiteres hinzuzufügen. Unter dem Titel »Wenn Kriminologen historische Beweise führen«, den »Cicero« in gekürzter Fassung und nur unter »Cicero online« veröffentlicht, habe ich alles zu Pfeiffers Beweisgang Nötige gesagt. Es lohnt nicht, auf Pfeiffers angeblichen Beweisgang einzugehen und man muss sich wundern, dass ein um politische Kultur bemühtes Magazin wie der »Cicero« auf einen solchen Hobby-Historiker hereingefallen ist.


Ein bedenkliches Edikt Friedrich Wilhelms III.

Zwischen der Abfassung der Begründung meiner Fremden Feder, die ich noch am Ende des Vorjahrs abgefasst habe, und der Drucklegung ist ein halbes Jahr vergangen. Dreierlei ist heute zu meiner Begründung notwendig nachzutragen. Erstens: ein sehr wichtiges Argument habe ich in meiner Beweisführung nicht nennen können. Der Leipziger Kollege Kurt Nowak, neben Klaus Scholder der bedeutendste Kirchenhistoriker für die Neuzeit, machte mich kurz vor seinem Tod in einem mündlichen Gespräch während des Bachfestes in Leipzig 2000 aufmerksam auf ein Edikt Friedrich Wilhelms III. gegen die Religionsverbrüderung evangelischer Pfarrer mit jüdischen Rabbinern. Nowak sah mit mir die heute in der Kirchengeschichtswissenschaft dominierende Meinung, von Luthers Spätschriften leite sich eine jahrhundertelange Judenfeindschaft der evangelischen Kirche her, als einen verhängnisvollen Irrtum an und sah in diesem Edikt und seiner strikten Befolgung durch das ganze 19. Jh. das wichtigste Argument zur Widerlegung. Ich habe vergeblich in den Acta Borussica nach diesem Edikt gesucht, von dem ich die Behauptungen meiner Fremden Feder damit am überzeugendsten zu begründen meinte. Erst kürzlich habe ich bemerkt, dass Nowak, was er mir mündlich erzählt hatte, als eine seiner letzten Veröffentlichungen gerade zum Druck gegeben hatte.3

Das die Juden zu annähernd gleichberechtigten Bürgern erklärende preußische Emanzipationsgesetz von 1812, das sie zur Annahme bürgerlicher Namen verpflichtete, wurde bekämpft von einer Reihe von Autoren, die man als Vorläufer der Ende des 19. Jh. flutartig anschwellenden Welle der Antisemiten ansehen kann. Ihre bekanntesten sind die Professoren Friedrich Rühs (1781-1820) und Jakob Friedrich Fries (1743-1843), denen man noch den geradezu manisch gegen die Juden schreibenden Literaten Hartwig von Hundt-Radowsky (1780-1835) hinzufügen kann. Dass Christian Pfeiffer die Judenfeindlichkeit dieser drei von Luthers antijüdischen Schriften herleitet, kann ich übergehen. Über sie ist hier schon das Notwendigste gesagt. Alle drei sind Nachfolger Eisenmengers. Hundt-Radowsky hielt Luther für einen mittelalterlichen Obskuranten.

Dass das die Juden in die Gesellschaft aufnehmende Emanzipationsgesetz 1812 zu einer religiös-kulturellen Annäherung zwischen Juden und Christen führte, wurde von Friedrich Wilhelm III., der im Unterschied zu seinen Vorgängern Friedrich II. und Friedrich Wilhelm II. sein Amt als summus episcopus der protestantischen Kirche sehr ernst nahm, mit Sorge betrachtet. Das führte ihn zu einigen Einschränkungen seiner Wirkung. Friedrich Wilhelm III. untersagte es 1816 in einer Ordre, dass sich die Juden ohne Taufe christliche Taufnamen beilegten.4

Im Sommer 1821 wurde dem König bekannt, dass der ostpreußische Generalsuperintendent und Bischof Ernst Ludwig Borowski, der bekannte Biograph Immanuel Kants, in Königsberg an einer Bar-Mizwafeier für die heranwachsenden Töchter des Judentums teilgenommen hatte.5 Der König griff selbst zur Feder, schrieb am 27. Juni 1821 an den Oberpräsidenten der Provinz Ostpreußen und machte ihn dafür haftbar, dass dergleichen nicht mehr vorkommt. Die Teilnahme an solchen für das Gedeihen der Jugend bestimmten Handlungen wolle er keineswegs missbilligen, doch billige er nicht, wenn sich die Teilnahme »durch die öffentlichen Autoritäten, ja sogar durch den Zutritt des Bischof in einer Art offenbart, die für die geheiligten Gesetze der christlichen Kirche verletzend« ist. Der Anspruch auf Duldung finde darin seine Grenze, »wenn er in ein Zurückschreiten in dem, was für das Heil des Menschen gewonnen ist, ausartet. Der christliche Glaube kann in dem Judenthum dieses Heil nicht finden, es kann also eine ausgezeichnete durch geistliche und weltliche Behörden bethätigte Theilnahme nur zum allmählichen Erkalten seines Werthes und zu einer Annäherung führen, die dem System der christlichen Religion fremd und mit den Formen, in welchen das Judenthum besteht, ganz unverträglich ist«. Darauf verbot das Konsistorium in einer Verfügung vom18. Oktober 1821 Evangelischen die Teilnahme an jüdischen Feierlichkeiten.


Disziplinierungen evangelischer Geistlicher in Preußen

Als im Februar 1822 in Landsberg an der Warthe die evangelischen Geistlichen Seliger, Kieter und Bohnstedt der Einladung zu einer jüdischen Einsegnungsfeier folgten und an einem Sabbat im Haus des Kaufmanns Levin an einer Bar-Mizwa teilnahmen, ergriff das Konsistorium Maßnahmen gegen die drei Geistlichen6. Sie wurden an die Verfügung vom Vorjahr erinnert. Pastor Kieter von der Concordienkirche teilte dem Konsistorium mit, an einem Festakt in der Synagoge hätte er sich nicht beteiligt.7 Das half ihm nicht. Er bekam einen Verweis. Das Konsistorium nahm den Vorfall im neumärkischen Landsberg zum Anlass, die Teilnahme christlicher Pfarrer an jüdischen Religionsfeierlichkeiten bei Strafe zu verbieten. Fortan war es den Geistlichen der preußischen Landeskirche bei Androhung von Strafe verboten, sich an jüdischen Religionsfeierlichkeiten zu beteiligen, welches Verbot sich zunächst auf die Feierlichkeit der Einsegnung jüdischer Kinder (Bar-Mizwa), im späteren 19. Jh. vor allem auf Feierlichkeiten bei der Einweihung neuerbauter Synagogen bezog.

Die staatliche Kirchenbehörde nahm an dem näheren Zusammenrücken von Juden und Christen Anstoß. Die Strenge und die Häufigkeit, mit der der Erlass vom 6. Juli 1822 durch das ganze 19. Jh. befolgt wurde und die vielen Fälle, in denen er nicht befolgt wurde – 1834 nahm der Generalsuperintendent der Kirchenprovinz Sachsen an der Einweihung eines neuen Rabbiners in Magdeburg teil und 1891 waren bei der Einweihung einer neuen Synagoge in Eberswalde zwei Geistliche beteiligt8 – zeigt, dass das Näherrücken von christlicher Kirche und Judentum im 19. Jh. nicht aufzuhalten war. Es wurde von der evangelischen Pfarrerschaft oder jedenfalls großer Teile derselben eher begrüßt. Ein näheres Zusammenrücken von Juden und Christen wurde vom Staat und nicht von der Kirche und ihrer Theologie verhindert. Die evangelischen Pfarrer sahen zwar das konsistoriale Reskript von 1821 am Ende des Jahrhunderts als »völlig« veraltet an, wurden aber gleichwohl ständig daran erinnert.9

Der Eberswalder Pfarrer Jonas, der für seine Teilnahme an der Synagogeneinweihung geltend machte, bei der Einweihung der großen Synagoge in der Oranienburgerstraße in Berlin hätten die »erlauchtesten der höchstgestellten Männer, unter ihnen der damalige Kultusminister selbst« teilgenommen, erhielt einen konsistorialen Tadel, blieb aber von Bestrafung verschont. Erst in der zweite Hälfte des 19. Jh. kommt es durch die massenweise Einwanderung der sich als Fremdlinge fühlenden Ostjuden, was auch zu Spannungen mit den deutschen Juden führte, sodann durch den nach der Reichsgründung unter den Protestanten anwachsenden Nationalismus, ein Deutscher zu sein, schließlich durch die im evangelischen Bürgertum breiten Anhang findende Stoeckerbewegung zu jenem Entfremdungsprozess zwischen Geistlichkeit und Judentum, der die Teilnahme lutherischer Geistlicher an einer jüdischen Bar-Mizwafeier, die etwa in den USA gar nichts besonderes war, in Deutschland zu einer seltenen Besonderheit machte.


Eine ingeniös vorausschauende editorische Entscheidung

Zweitens: Auf eine interessante Ausnahme bei der Aufnahme der Judenschriften Luthers in Auswahlausgaben bin ich erst vor kurzen aufmerksam geworden. Zwar ist richtig, dass, wie ich in meinem Aufsatz gezeigt habe, Luthers antijüdische Spätschriften in keine vor dem Dritten Reich herausgegebene Auswahlausgabe aufgenommen wurden. Erstmals der Ergänzungsband 3 zur Münchener Lutherausgabe Schriften wider Juden und Türken, erschienen 1936, enthält die judenfreundliche Schrift von 1523 und die antijüdischen Schriften von 1543. Aber Luthers judenfreundliche Schrift von 1523 Daß Jesus Christus ein geborener Jude sey ist wenige Jahre vor dem Anbruch des Dritten Reiches, offensichtlich in Abwehr des nach dem Ersten Weltkrieg sich ausbreitenden Antisemitismus, in eine für breite Kreise bestimmte Auswahlausgabe von Luthers Schriften aufgenommen worden.

Im Phaidon-Verlag in Wien erschien 1927 ein 600 Seiten starker gebundener Dünndruckband Martin Luthers Deutsche Schriften, eingeleitet von Ricarda Huch.10 Zwar gibt die der Titelseite folgende Seite an, der Band sei ausgewählt und herausgegeben von Ludwig Goldscheider, einem jüdischen Kunsthistoriker, dessen Vater aus Galizien stammte. Zehn Jahre später musste er aus Österreich emigrieren und seinen der Herausgabe von Werken zur Kunstgeschichte gewidmeten Phaidon-Verlag nach London verlegen. Die originelle Auswahl der Schriften ist aber zweifellos von Ricarda Huch vorgenommen worden, die 1916 in Briefform ein Lutherbuch herausgab, das Heinrich Bornkamm als Durchbruch durch das Lutherbild des 19. Jh. unmittelbar neben Karl Holls Lutheraufsätze stellt.11

Ricarda Huch war schon 1924 der unsägliche Judenhass von Adolf Hitler aufgefallen. Ihr Lutherbuch von 1927, das einem antisemitisch denkenden Freund Luther nahe zu bringen sucht12 und ihm durch ausführliche Reflexionen über die Besonderheit des jüdischen Volkes klarmacht, warum Christus ein geborener Jude war13, hat den jungen Helmut Gollwitzer zum Studium der Theologie veranlasst, wie er ihr bei einem Besuch in Jena 1938 erzählte14. Dass sie Luthers judenfreundliche Schrift von 1523, am Ende um die messianischen Weissagungen gekürzt, in die Auswahl aufnahm und bei der Auswahl der Stücke aus den Tischreden keines der nicht seltenen abfälligen Urteile über die Juden aufnahm, zeigt die ingeniöse Vorausschau der Frau, die Thomas Mann 1924 nicht nur die erste Frau Deutschlands, sondern wahrscheinlich die erste Frau Europas nannte.15

Im Frühjahr 1933 trat Ricarda Huch wegen ihres bewussten Widerstands gegen die nationalsozialistische Rassendoktrin aus der preußischen Akademie der Künste aus. Mit Band 2 ihrer deutschen Geschichte, der eine Darstellung Luthers und der Reformation gibt, sei ein Buch erschienen, »gegen das sich jeder freie und ehrliebende Deutsche mit leidenschaftlicher Empörung zur Wehr setzen muß«, wie ein nationalsozialistischer Kritiker urteilte.16 Seit 1932 war sie mit dem Heidelberger Pfarrer Hermann Maas bekannt und teilte mit ihm den unbeirrbaren Widerstand gegen die Verfolgung der Juden. Maas hielt ihr nach ihrem Tod 1947 die Trauerrede. Es ist kein gutes Zeichen, dass Huch, die in ihrem Buch »Der Sinn der heiligen Schrift« (1918) dem modernen Menschen den Gottesglauben verständlich zu machen sucht, heute in evangelischen Christenheit in Vergessenheit geraten ist. Ihre Ausgabe von Luthers Deutsche Schriften ist selbst unter Lutherspezialisten kaum bekannt.


Ein verhallter Appell an die geistlichen Führer der evangelischen Kirche

Drittens ein Nachtrag, auf den ich erst vor kurzem beim Studium der im Evangelischen Zentralarchiv liegenden Akten aufmerksam geworden bin: Der bejahrte Johannes Berlit, ein pensionierter Kasseler Stadtrat und bekannter Mäzen, ein protestantischer Christ, der von den Nationalsozialisten als jüdischstämmig eingestuft wurde, richtete im Oktober 1933 einen Appell »An die geistlichen Führer der evangelischen Kirche« und sandte ihn nach Berlin. In dem Appell forderte er die evangelische Kirche eindringlich zum Eintreten für die durch die Deutschen Christen aus der Kirche ausgeschlossenen getauften Juden und Nichtarier auf. Auf den ersten drei Seiten zitierte er lange Passagen aus Luthers judenfreundlicher Schrift von 1523 nach der Lutherausgabe von Ricarda Huch: »Sind nun, meine Herren Geistlichen der reformierten und lutherischen Kirche, die hier vorgetragenen Lutherworte heute nicht ebenso wahr wie vor 400 Jahren, so daß kein Einspruch gegen die Entrechtung unschuldiger jüdischer Mitmenschen aus ihnen laut wird?«17 Seinen Appell verteilte er in mehreren Abdrucken in Kassel, unter anderem an das Landeskirchenamt.18

Am 27. Oktober sandte er eine Postkarte, darauf den Titel von Luthers »Denkschrift« Daß Jesus Christus ein geborener Jude sei wiederholend, an Reichsbischof Müller. Zornig schrieb er zum Schluss »Pereat Iustitia! Pereat Eccclesia!«19 Noch einmal erinnerte Berlit am 8. November an seine Denkschrift. »Auf meine 13 seitige Denkschrift habe ich keine einzige Antwort bekommen. Ist der alte lutherische Kampfgeist erloschen? … Ich bekenne mich zu den in meinem Schriftstück wiedergegebenen Grundsätzen des großen Reformators.«20

Diesen Einspruch blieb die evangelische Kirche schuldig. Nicht nur dass Berlit von der inzwischen braun gefärbten Kirchenleitung (Reichsbischof Müller) keine Antwort bekam, auch die nicht von den Deutschen Christen beherrschte Evangelische Kirche blieb im Jahre 1933 ein von vielen erwartetes Wort zur Entrechtung der Juden und Nichtarier schuldig. Der von Hitler in Mein Kampf vom Protestantismus erwartete sofortige Widerstand gegen die Befreiung der Deutschen vom Judentum wurde erst durch die Sportpalastrede eines radikalen Deutschen Christen erregt, der ein vom AT und vom jüdischen Geist des Rabbiners Paulus gereinigtes deutsches Christentum forderte. Damit blieb sie auch schuldig, so mit dem Erbe Martin Luthers umzugehen, wie sie es seit der Zeit des Pietismus gelernt hatte und wie es die lutherischen Kirchen Dänemarks und Norwegens, die sich mit Berufung auf Luther für die Juden einsetzten, taten.


Johannes Wallmann


Anmerkungen:

1 Christian Pfeiffer, Die dunkle Seite der Reformation, in: Cicero, Magazin für Politische Kultur, April 2014, 17-23.

2 Christopher Clark, Preußen. Aufstieg und Niedergang 1600-1947, 2008, 155.

3 Kurt Nowak, Judenpolitik in Preußen. Eine Verfügung Friedrich Wilhelms III. aus dem Jahre 1821, in: Anselm Doering-Manteuffel u. Kurt Nowak (Hrsg.), Religionspolitik in Deutschland. Von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart. Martin Greschat zum 65.Geburtstag, Stuttgart/Berlin/Köln 1999, 127-147.

4 Nowak, a.a.O., 140, Anm. 32.

5 Nowak, a.a.O., 133.

6 Nowak, a.a.O., 132.

7 Nowak, a.a.O., 140, Anm. 32.

8 Nowak, a.a.O., 143. Vgl. die bei Nowak, a.a.O., 146, Anm. 47, angeführten weiteren Fälle.

9 Nowak, a.a.O., 145.

10 Martin Luthers Deutsche Schriften. Eingeleitet von Ricarda Huch, Phaidon-Verlag Wien 1927, 600 S. (vh. Staatsbibliothek Berlin, eigener Besitz).

11 Heinrich Bornkamm, Luther im Spiegel der deutschen Geistesgeschichte, (1955, 75f) Göttingen 19702, 112-140.

12 Ricarda Huch, Luthers Glaube, (Inselverlag) Berlin 1916.

13 Neben ausführlichen, keineswegs einseitig philosemitischen Reflexionen über die Besonderheit des jüdischen Volks schreibt Ricarda Huch über Luther beiläufig: »Als brauche er einen neuen Gegenstand des Zorns, nachdem er den Papst endgültig aus dem Feld geschlagen hatte, fing er einen Feldzug gegen die Juden an« (Luthers Glaube, 194).

14 Marie Baum, Leuchtende Spuren. Das Leben Ricarda Huchs, Tübingen 1950, 337.

15 Thomas Mann in der Frankf. Allg. Zeitung vom 6.7.1924.

16 Nationalsozialistische Monatshefte, Jg. 6, München 1935, Heft 63 (Juni), 70.

17 Zentralarchiv der Evang. Kirche 7/3688.

18 Stadtarchiv Kassel, Bestand S 1, Nr. 2623. Unter dem Namen Jean Berlit ist der Appell gekürzt gedruckt, die ersten vier Seiten aber vollständig, in: Heinz Daume u.a. (Hg.) Getauft, ausgestoßen – und vergessen? Zum Umgang der evangelischen Kirchen in Hessen mit den Christen jüdischer Herkunft im Nationalsozialismus. Ein Arbeits-, Lese- und Gedenkbuch, Hanau 2013, 47-49.

19 Zentralarchiv der Evang. Kirche Berlin 1/3069 S. 100.

20 Eingegangen beim Evang. Oberkirchenrat 11.11.1933 (EZA 7/3668).


 

Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 8/2014

Kommentieren Sie diesen Artikel
Pflichtfelder sind mit * markiert.
Ihre E-Mail Adresse wird nicht veröffentlicht.
Spamschutz: dieses Feld bitte nicht ausfüllen.