Zum Reformationsfest 2013 hat Johannes Wallmann mit einem Beitrag in der »FAZ«-Rubrik »Fremde Federn« für gehörigen Diskussionsstoff gesorgt. Inhaltlich wirft er darin der EKD vor, bei der Vorbereitung des Reformationsjubiläums zu einseitig auf die antijüdischen Schriften Martin Luthers zu rekurrieren und damit die eigene Herkunftsgeschichte zu verleugnen. Demgegenüber erinnert Johannes Wallmann mit dem israelischen Historiker Hillel Ben Sasson daran, dass die evangelische Kirche bis ins 20. Jh. hinein den Luther der judenfreundlichen Schrift von 1523 vor Augen gehabt hat.*


Im selben Maß, in dem der Pietismus Luthers antijüdische Spätschriften zur Vergessenheit brachte, ist durch ihn die Schrift von 1523 zu einem von Luthers bekanntesten Werken geworden. Bewusst in die Tradition dieser Schrift stellt sich Johann Salomo Semler (1725-1791), Schüler Baumgartens, der sich vom Pietismus abwandte und der aufklärerischen Neologie zugerechnet wird.1 Semler hat 1760 gleichzeitig mit dem Pietisten Michaelis in Halle ein ausführliches Gutachten für den Rabbiner Eybeschütz gegen die von den Frankisten gegen die Juden erhobene Blutbeschuldigung verfasst. Mit seinem Gutachten, das als christliches Zeugnis wider die Blutbeschuldigung 1892 in einem jüdischen Hauskalender wieder abgedruckt wurde,2 folgt er der Linie des Pietismus.3


Luther als Judenfreund?

Vom Pietismus her setzt sich in der deutschen Aufklärung, die anders als in Frankreich überwiegend positiv zum Christentum eingestellt war, der Einsatz für die Juden fort. Johann Ludwig Ewald (1748-1822), aus dem Pietismus stammender Vertreter der Aufklärung, 1805 Professor der Theologie in Heidelberg, seit 1807 Oberkirchenrat in Karlsruhe, schrieb gegen die in den Befreiungskriegen aufbrechende Welle der Judenfeindschaft zur Verteidigung der Juden gegen die Frühantisemiten Jakob Friedrich Fries und Friedrich Rühs zwei Schriften: Ideen über die Nötige Organisation der Israeliten in christlichen Staaten4, wo er nahezu denselben Text aus Luthers Schrift von 1523 zitiert wie mehr als hundert Jahre später Dietrich Bonhoeffer5 und Einige Fragen und noch mehr unläugbare Wahrheiten, Juden- und Menschennatur, Juden- und Menschenbildung betreffend6. Luthers späte Judenschriften bleiben in dieser ersten, mit dem Erwachen des deutschen Nationalismus verbundenen antijüdischen Bewegung des frühen 19. Jh. unbekannt. Der jüdische Publizist Samuel Ascher nennt Fries, der die Juden bekämpft, Eisenmenger den Zweiten, nicht Luther den Zweiten, und bezeichnet den Reformator als »großen Mann«.7

Der Pietismus hat allerdings nicht die ganze evangelische Kirche erfasst, neben ihm lief noch für eine Weile die ihn scharf bekämpfende Spätorthodoxie fort. Dass hier die Judenfeindlichkeit weiterlebte, zeigt der Artikel »Juden oder Jüden« im 14. Band des Zedlerschen Universallexikons von 1735, der wohl den Gipfel christlicher Judenfeindschaft im älteren deutschen Protestantismus darstellt. Der Verfasser Erdmann Neumeister (1671-1756), der letzte orthodoxe Theologe, der den in der evangelischen Kirche längst nicht mehr umstrittenen Philipp Jakob Spener zu bekämpfen für nötig hielt, beruft sich aber für seinen Kampf gegen die Juden nicht auf Luthers Spätschriften, sondern auf den reformierten Hebraisten Johann Andreas Eisenmenger, dessen aus dem Talmud geschöpftes Entdecktes Judentum (1700) bis ins 19. Jh. hinein die Hauptquelle für den Antisemitismus bilden wird.8 Luthers antijüdische Schriften sind selbst bei diesem orthodoxen Theologen vergessen.

Es ist nicht zu sehen, dass in der Zeit der Aufklärung und im 19. Jh. ein anderes Bild von Luther vorherrschte als das des Judenfreunds. Heinrich Heine hat Luther in den höchsten Tönen gepriesen und von seinen Schriften gegen die Juden so wenig gewusst wie die Dichter und Denker der Klassik und der Romantik. Wo man sich ihrer auf jüdischer Seite erinnerte, hielt man sie, mit Ausnahme des Historikers Heinrich Graetz, gegenüber seinen Verdiensten für irrelevant. Vorherrschend auch bei den Juden ist die Lutherverehrung, wie sie etwa bei den Reformationsjubiläen des 19. Jh. bis hin zum Lutherjubiläum 1917 in zahlreichen Schriften zum Ausdruck kommt.9 Bei den Trauerfeierlichkeiten für die Märzgefallenen auf dem Berliner Gendarmenmarkt 1848 amtierten evangelische und katholische Geistliche sowie jüdische Rabbiner einträchtig zusammen.

Kaum ein evangelischer Theologe hat sich während des 19. Jh. auf Luthers antijüdische Schriften berufen. Wurde überhaupt an sie erinnert, dann fehlte es fast nie an deutlicher Distanzierung. »Diese Stellung, die Luther in seinen späteren Jahren zu den Juden einnahm, ist allerdings recht geeignet, uns den Unterschied zwischen ihm und den Aposteln zur Anschauung zu bringen und zu zeigen, wie bedenklich es wäre, sich einem solchen Meister unbedingt und ohne Prüfung nach der Schrift hinzugeben, was auch die Lutherische Kirche nie gethan hat«, so Ernst Wilhelm Hengstenberg (1802-1869), der Herausgeber der in der evangelischen Kirche des 19. Jh. einflussreichsten Kirchenzeitung.10 Zwei Jahre später hat er das in Buchform noch einmal wiederholt.11


Der Berliner Antisemitismusstreit

Besondere Aufmerksamkeit gebührt dem Berliner Antisemitismusstreit (1879-1881), den Heinrich von Treitschke durch die Schlagzeile »Die Juden sind unser Unglück« in einem Aufsatz in den Preußischen Jahrbüchern veranlasst hatte. Der zwischen den Historikern Treitschke und Mommsen geführte, vor allem aber die jüdische Öffentlichkeit erregende Streit – damals »Treitschkiade« genannt – war bald beendet, hat aber langwährende Wirkungen gehabt. Einmal, weil in der Bevölkerung beider Konfessionen die seit den Befreiungskriegen im Untergrund schwelende Judenfeindlichkeit an die gesellschaftliche Oberfläche geschwemmt wurde und mit dem von Wilhelm Marr 1879 erfundenen Begriff »Antisemitismus« das Leitwort für eine politische Bewegung erhielt. Zum anderen, weil auf protestantischer Seite der Hofprediger Adolf Stoecker (1835-1909) seinen bisher gegen die Sozialdemokratie geführten Kampf gegen die Entchristlichung der Arbeiterschaft jetzt in einen Kampf gegen das Judentum umzupolen begann. Stoeckers Kampf gegen das Judentum war nicht religiös bedingt, auch nicht rassisch; vom Antisemitismus grenzte er sich ab, wenn er auch für die antisemitische Bewegung Verständnis zeigte. Stoecker sah seinen Kampf gegen das Judentum als sozial-ethisch bedingt an. Nicht gegen die Juden in Jerusalem, sondern gegen die Juden in der Jerusalemer Straße, dem Zentrum des Berliner Finanzkapitals, wollte er kämpfen. Auf die judenfeindlichen Schriften Luthers hat Stoecker sich ebenso wenig wie Treitschke berufen und sie wohl nicht gekannt.12

Wenn man auf die Auswirkungen des Antisemitismusstreits in der evangelische Kirche blickt, so ist neben Stoecker eine Schrift zu erwähnen, die am Ende des Streits erschien und die nach dem Urteil der Evangelisch-Lutherischen Kirchenzeitung unter allen in der Judenfrage bisher erschienenen Schriften, »was die Weite des Blickfelds, die Beherrschung des Stoffs und die Objektivät der Darstellung betrifft, wohl den ersten Platz«13 einnahm: Karl Heinrich Christian Plath – Was machen wir Christen mit unseren Juden!?, Nördlingen 1881.14

Karl Heinrich Christian Plath (1829-1901), Missionsinspektor und Privatdozent, später Professor an der theologischen Fakultät der Berliner Universität, wo er als einer der ersten das Fach Missionswissenschaft vertrat, beklagte ähnlich wie Stoecker die zunehmende Macht des Judentums im Schul- und Gerichtswesen, in Presse und Wirtschaft und forderte zwar nicht die Rücknahme der Emanzipationsgesetze, wohl aber deren Einschränkung durch Juden von leitenden Positionen ausschließende Verwaltungsrichtlinien. Erfüllt von der Idee eines christlichen Staates fand Plath es unerträglich, dass unter dem christlichen Kreuz Christen vor jüdischen Richtern bei Gott schwören sollten. Doch den auch von ihm für notwendig gehaltenen Kampf gegen die angebliche Macht des Judentums verband er anders als Stoecker mit dem Gedanken der den Christen aufgegebenen Liebe zu den Juden.

Plath, der in seinen Anfangsjahren als Lehrer an den Franckeschen Stiftungen in Halle ein gründliches Studium Speners betrieben hatte,15 stellte die Liebe zu den Juden in den Mittelpunkt seines Buches,16 in dem von Luthers antijüdischen Schriften keine Spur zu finden ist. Von daher wird der Judenfeindlichkeit der Antisemiten eine klare Absage gegeben: »leider ist die Neigung dazu [sc. zur Judenfeindschaft] inmitten der Christenheit noch nicht völlig erstorben und soll auf das entschiedenste bekämpft werden«.17 Weiter heißt es: »Völlig verwerflich und deshalb auch undurchführbar erachten wir jedes gewaltsame Vorgehen gegen das Leben der bei uns wohnenden Israeliten. Selbst im Scherze wolle man von Worten absehen, welche irgendwie darauf hinzielen! Seit der Philosoph Fichte seine Meinung über die Judenemancipation in das bekannte Witzwort kleidet, welches von den alten abzuhauenden und neuen aufzusetzenden Köpfen redet, sind derartige Wendungen vielfach gebraucht worden und tauchen immer wieder auf, besonders widerwärtig, wenn sie sich an biblische Vorgänge aus der Geschichte israelitischen Volkes, beispielsweise an ihre Behandlung in Aegypten, an ihren Auszug aus dem Lande oder an ähnliches anlehnen.«18

Auch den Gedanken der Vertreibung und der Auswanderung nach Palästina lehnt Plath ab. Die Juden sollten in brüderlicher Liebe, wenn auch eingeschränkt in ihren Amtsberechtigungen und ihrer angeblichen Plutokratie, unter den Christen in Deutschland wohnen bleiben. »Vielleicht leben die Juden länger als alle die großen Völker, die jetzt den Erdkreis besiedelt haben,« schreibt Plath im Schlusswort, »vielleicht giebt es noch Juden wie unsre heutigen Juden, wenn von deutscher, von französischer, von englischer Geschichte einmal so die Rede sein wird wie heute von römischer, westgothischer, polnischer.«19


An Judenkritik keinerlei Interesse

Kein Wunder, dass diese aus großer Distanz zu völkisch-rassistischem Denken geschriebene Schrift keinen Eingang in das »Verzeichnis der wichtigsten Schriften über die Judenfrage« fand, die Theodor Fritsch seinem »Antisemiten-Katechismus« beigegeben hat. In der reichen Literatur über den Antisemitismusstreit wird sie nie und in der theologischen Literatur nur am Rande erwähnt. Dabei hat sie auf den »christlichen Antisemitismus« eines Hans Meiser20, möglicherweise auch eines Otto Dibelius und anderer im Kaiserreich groß gewordener Theologen Einfluss gehabt.

Plath fand mit seinem doppelgesichtigen Programm großen Beifall, als er im August 1881 auf einer von 500 Pfarrern besuchten Konferenz in Berlin sprach.21 Dagegen war er verwundert, als die »protestantischen Freunde und Glaubensgenossen in Prag, Wien und Triest«, die er auf seiner dritten Missionsreise nach Indien traf, an seiner Judenkritik keinerlei Interesse zeigten. »Sie hatten weder Verständnis noch auch irgendeinen Zug, gleichfalls ihrerseits sich an dem großen Kampfe zu betheiligen, welcher jetzt in der Reichshauptstadt tobte. Auf Vorhaltungen, welche ich ihnen deswegen machte, erfolgten Antworten, welche deutlich zeigten, daß ihnen der große Ernst der Lage … nicht (im) entferntesten einleuchtete.«22

Von hier werden jene Worte in Hitlers »Mein Kampf« verständlich, die er aus den Erfahrungen in Wien, wo Schönerer und Lueger einen scharfen Kampf gegen das Judentum führten, geschöpft haben will: »Der Protestantismus vertritt von sich aus die Belange des Deutschtums besser, soweit dies in seiner Geburt und späteren Tradition überhaupt schon begründet liegt; er versagt jedoch in dem Augenblick, wo diese Verteidigung nationaler Interessen auf einem Gebiet stattfinden müßte, das in der allgemeinen Linie seiner Vorstellungswelt und traditionellen Entwicklung entweder fehlt oder gar aus irgendeinem Grunde abgelehnt wird. So wird der Protestantismus immer für Förderung alles Deutschtums an sich antreten. … er bekämpft aber sofort auf das feindseligste jeden Versuch, die Nation aus der Umklammerung ihres tödlichsten Feindes zu retten, da seine Stellung zum Judentum nun einmal mehr oder weniger fest dogmatisch festgelegt ist. Dabei aber dreht es sich hierbei um die Frage, ohne deren Lösung alle anderen Versuche einer deutschen Wiedergeburt oder einer Erhebung völlig unsinnig und unmöglich sind und bleiben. Ich besaß in meiner Wiener Zeit Muße und Gelegenheit genug, auch diese Frage unvoreingenommen zu prüfen und konnte dabei noch im täglichen Verkehr die Richtigkeit dieser Anschauung sorgfältig feststellen.«23


Der »Antisemiten-Katechismus«

Eine Folge des Berliner Antisemitismusstreites war die Bildung und Formierung einer Bewegung, die sich ausdrücklich Antisemitismus nannte. Im »Antisemiten-Katechismus«, der 1887 erstmals erschien24, gab ihr Theodor Fritsch die geistige Grundlage. Das kleine Büchlein enthält eine Fülle von Informationen (Aussprüche berühmter Männer über die Juden, eine besonders ausführliche Darstellung der Juden in Russland, Polen, Ungarn etc., eine kurze Geschichte des jüdischen Volkes, breite Auszüge aus dem Talmud, verschiedene statistische Angaben über die Zahl der Juden in einzelnen Ländern, Städten, Universitäten, Schulen, der jüdischen Verlage, Zeitschriften usw., ein »Verzeichnis der antijüdischen Literatur« u.a.).

Luther kommt in dem Kapitel »Urtheile über die Juden« vor, in dem nach griechischen und römischen Urteilen, Urteilen des Rabbinismus und arabischer und persischer Schriftsteller und Urteilen aus dem 12. bis 17. Jh. auf den Seiten 38-40 viertens Urteile Luthers aus Von den Juden und ihren Lügen (nicht die berüchtigten Ratschläge, aber Aussprüche über den Wucher) und den Tischreden angeführt werden, bevor Urteile von Herder, Fichte, Friedrich II., Napoleon, Bismarck, Richard Wagner und anderen folgen. Im »Verzeichnis der antijüdischen Literatur« wird Von den Juden und ihren Lügen mit der falschen Jahreszahl 1538 angegeben, in späteren Auflagen wird die Schrift ganz gestrichen.25

Aufschlussreich ist, wie die von jüdischer Seite dem Antisemiten-Katechismus entgegengesetzte Schrift »Anti-Anti« dem antisemitischen Rückgriff auf Von den Juden und ihren Lügen begegnet: indem sie unter dem Stichwort »Luther und die Juden« neben judenfreudlichen Aussagen Luthers aus den Tischreden ausschließlich Luthers Schrift von 1523 ­zitiert.26

Angesichts des in Russland Ende des 19. Jh. anschwellenden Antisemitismus urteilt der Dorpater Theologe Friedrich Lezius (1859-1939) 1892 über Luthers antijüdische Spätschriften: »Es liegt auf der Hand, daß Luther hier nicht aus dem Geist des Neuen Testamentes und der Reformation heraus argumentiert … Die evangelische Kirche hat daher die Irrtümer des alternden Reformator als für sich nicht maßgebend abgelehnt und sieht in der Schrift Luthers, daß Jesus Christus ein geborener Jude sei, welche 1523 erschien, den wahren Ausdruck reformatorischen Geistes«.27

Wilhelm Herrmann (1846-1922), der bedeutendste lutherische systematische Theologe im späteren Kaiserreich, schrieb 1913: »In einem Staat z.B., in dem ein grundsätzlicher Antisemitismus herrschte, fände ein Mensch, der zu Jesus Christus gehören will oder überhaupt zu sittlichem Ernst gekommen ist, kein Vaterland.«28 Drei Jahre vorher hatte der Rabbiner Reinhold Lewin 1910 die erste wissenschaftliche Untersuchung über »Luthers Stellung zu den Juden« vorgelegt29, eine Dissertation an der evangelisch-theologischen Fakultät der Universität Breslau. Wenn Lewin von denen spricht, die sich für ihren Kampf gegen das Judentum auf Luthers Spätschrift Von den Juden und ihren Lügen berufen, meint er die Antisemiten und nicht protestantische Theologen. Lewin erhielt für diese Dissertation einen Ehrenpreis der evangelisch-theologischen Fakultät Breslau.


Entscheidende Zäsur Erster Weltkrieg

Der Erste Weltkrieg bildet die entscheidende Zäsur in der Geschichte der Rezeption von Luthers antijüdischen Schriften von 1543. Denn nach dem Krieg begannen evangelische Theologen erstmals, Luthers späte judenfeindliche Schriften partiell positiv aufzunehmen. Es war wohl der Einfluss von Stoeckers »christlichem Antisemitismus«, der nach dem Ersten Weltkrieg in der immer weitere Kreise ziehenden antijüdischen Stimmung die jahrhundertelange Orientierung evangelischer Christen an dem Luther von 1523 zu überdecken begann. Die Spur, auf der der deutsche Protestantismus seit dem Pietismus dem Luther von 1523 gefolgt war, wird hier verlassen.

Das zeigt sich an der umfangreichen Artikelserie, die ab März 1921 der Rostocker Lutherforscher Wilhelm Walther in der wöchentlich erscheinenden Allgemeinen Evangelisch-Lutherischen Kirchenzeitung unter der Überschrift Luther und die Juden schrieb.30 Verursacht war Walthers Aufsatz durch die unter dem gleichen Titel erschienene Schrift des Antisemiten Alfred Falb.31 Die Stoßrichtung, in der Walther gegen Falb kämpft, zielt auf dessen Verhöhnung des AT als Judenbibel. Mit aller Energie protestiert er dagegen, dass der heutige Antisemitismus »sich nicht damit begnügt, den Juden, mit denen wir es heute zu tun haben, ihre Fehler vorzuhalten, sondern auch das Alte Testament der Verachtung, ja dem Haß preiszugeben, für geboten hält.«

Das klingt, als wäre es gegen die berüchtigte Sportpalastrede vom November 1933 gesprochen, die dem Siegeszug der radikalen Deutschen Christen ein Ende setzte. Doch es folgen Sätze bei Walther, die in ihrer Berufung auf Luther partiell mit den Antisemiten übereinstimmten. »So schroff die Antisemiten Luther widersprechen, wenn sie das Alte Testament in den Schmutz zu ziehen suchen, so berechtigt sind sie, bei ihrem Kampfe gegen den jüdischen Geist sich auf Aussprüche Luthers zu berufen. Sie vermögen auch um so tieferen Eindruck mit dieser ihrer Berufung auf Luther deshalb zu machen, weil dieser lange Zeit hindurch eine viel freundlichere Stellung zu den Juden eingenommen hat, also erst durch viele betrübende Erfahrungen zu seinem harten Urteile über sie gekommen ist. «32 Hier ist klar erkennbar, wie Stoeckers Judenfeindlichkeit lutherische Theologen für die Judenfeindschaft der Antisemiten anfällig gemacht hat.

Die Leserschaft der Allgemeinen Evangelisch-Lutherischen Kirchenzeitung war das konservativ-konfessionelle lutherische Bürgertum. In anderen Kreisen der evangelischen Kirche und Theologie, liberalen, nicht konfessionell lutherischen, unierten etc. las man andere Blätter. Das wird auch für die Kreise gelten, in denen Bonhoeffer sich bewegte. Dass die Kenntnis von Luthers Judenfeindlichkeit in den 20er Jahren protestantischer Allgemeinbesitz wurde, erreichten Artikel wie der Walthers nicht. Nur so wird verständlich, dass die Antisemiten, die sich seit Ende des Ersten Weltkrieges immer lauter und seit 1933 in Julius Streichers antisemitischen Hetzblatt »Der Stürmer« und anderen Schriften mit propagandistischer Lautstärke auf Luther beriefen, diese Berufung regelmäßig mit dem Vorwurf an die evangelische Theologie und Kirche verbinden, Luthers Warnungen vor den Juden dem deutschen Volk vorenthalten zu haben.33


Luthers Judenfeindschaft unterschlagen?

Diese zahlreichen, in der Forschung keineswegs unbekannten Behauptungen widerlegen die Meinung, Luthers Judenfeindlichkeit sei in christlichen Kreisen weit verbreitet gewesen. Neben den bereits angeführten Stimmen von Mathilde Ludendorff34 und Karl Grunsky35 verweise ich auf zwei weitere Beispiele, die sich noch beliebig vermehren ließen. So beklagt der nicht zu den braunen Machthabern, sondern zum Tannenbergbund gehörende Hans Ludolf Parisius, der ca. 1931 eine gekürzte »Volksausgabe« von Luthers Schrift Von den Juden und ihren Lügen veranstaltet hat, im Anhang vermehrt durch Auszüge aus Vom Schem Hamphoras, Luthers Judenfeindlichkeit sei »– auch in theologischen Kreisen – unserer Zeit so gut wie unbekannt«, was er darauf zurückführt, dass Von den Juden und ihren Lügen nur in den wissenschaftlichen Gesamtausgaben, aber nicht in den weiter verbreiteten Auswahlausgaben enthalten sei.36 Allerdings räumt Parisius ein, dass es Luther »lediglich um die religiöse Seite« ging und er eine Rassenfrage nicht kannte.37

Als zweites Beispiel sei Julius Streichers antisemitisches Hetzblatt »Der Stürmer« genannt.38 Hier wird im November 1933 über das Lutherjubiläum des Jahres Klage geführt: »Dr. Martin Luther steht jetzt wieder einmal im Mittelpunkt des protestantischen Denkens. 450 Jahre sind verflossen seit einer Geburt. Aus Anlaß dieses Gedenktages sind deshalb jetzt viele neue Bücher und Schriften über sein Werk erschienen. Man sollte meinen, daß diese Neuerscheinungen den Kampf Luthers vollkommen behandeln würden. Leider ist zu beobachten, daß auch jetzt eine Seite seines Kampfes wieder ganz unberücksichtigt gelassen wird. In keiner der neuen Schriften wird erwähnt, daß Luther einen geradezu fanatischen Kampf gegen das Judentum geführt hat. Es hat den Anschein, als wollte dieser auch jetzt verschwiegen werden. Deshalb sehe ich es als meine Aufgabe, auf ihn gebührend hinzuweisen.«39 Dass im Folgenden auf zwei Schriften Luthers hingewiesen wird, auf Von den Juden und ihren Lügen und Vom Schem Hamphoras, legt nahe, dass der Autor sich auf Parisius stützt. »So steht Luther vor uns als der Kämpfer gegen die überstaatliche Macht der Juden. Und als solcher ist er uns totgeschwiegen worden. Das ist die große Unterlassungssünde aller verantwortlichen Volkserzieher.«40

Im Mai 1941 erklärt »Der Stürmer«, warum die Rede von Luthers Judenfeindlichkeit unter den evangelischen Christen allgemeine Verwunderung errege. »Waren doch Luthers judengegnerische Schriften bis in die Gegenwart ›vergessen‹ und unbekannt geblieben. Die älteren umfangreichen Gesamtausgaben von Luthers Werken brachten sie noch, aber in den neueren, mehr zu praktischen Zwecken bestimmten Ausgaben (Braunschweiger, Bonner, Münchner) fehlten sie durchweg.« Und noch im Dezember 1943 warnt »Der Stürmer« davor, dass judenfreundliche Protestanten ein Interesse daran hätten, »Luthers Kampf gegen das Judentum totzuschweigen. Es ist daher notwendig, Luthers judenfeindliche Äußerungen in das Licht der Öffentlichkeit zu bringen.«


Auseinandersetzungen um Luther in den USA

Meine Forschungen zur Wirkungsgeschichte von Luthers Judenschriften sind mehr als fünfzig Jahre alt, und das meiste von dem, was ich hier vorbringe, stammt aus einen im Jubiläumsjahr 1983 im Haus des American Jewish Committee gehaltenen Vortrag. Im Jahr des 500. Geburtstags Luthers gab es in den USA Irritationen zwischen Juden und Lutheranern wegen einer Lutherbriefmarke. Diese stieß bei den aus Deutschland emigrierten Juden, die sich an die Berufung der braunen Machthaber auf Luther erinnerten, auf Protest, worüber sich die amerikanischen Lutheraner verwunderten, da ihnen Luthers antijüdische Schriften, die in der amerikanischen Lutherausgabe damals noch nicht erschienen waren, allermeist unbekannt waren.

Bei der traditionell guten Zusammenarbeit zwischen Juden und Lutheranern in den USA beschloss man, noch im Jubiläumsjahr eine gemeinsame wissenschaftliche Konferenz über Luther und die Juden zu veranstalten. Zu der im Oktober 1983 anberaumten Konferenz, zu der beiderseits jeweils etwa 20 Wissenschaftler eingeladen wurden, konnte das Lutheran Council of Churches amerikanische Lutherforscher und Reformationshistoriker heranziehen. Doch fand man in den USA niemanden, der über die Wirkungsgeschichte von Luthers antijüdischen Schriften Auskunft geben konnte. Zur Wirkungsgeschichte im 20. Jh. wurde der israelische Historiker Uriel Tal angefragt. Für die Wirkungsgeschichte vom 16. bis zum 19. Jh. lud man mich ein, der ich auf dem von vielen amerikanischen Forschern besuchten Lutherkongress in Erfurt über meine seit langen Jahren betriebenen Forschungen dazu berichtet hatte. So habe ich als einziger Deutscher unter den zwei Dutzend jüdischen und lutherischen Gelehrten an der vom 11. bis 13. Oktober 1983 abgehaltenen Tagung 1483–1983. Martin Luther’s Quincentenary: New Beginnings for Lutherans and Jews teilgenommen und im Haus des American Jewish Committee in New York einen Vortrag über die Rezeption von Luthers Judenschriften von der Reformation bis zum Ende des 19. Jh. gehalten.

Das Echo auf jüdischer Seite war überaus freundlich. Wir vernehmen von deutscher Seite ständig Schuldbekenntnisse für Luthers Judenschriften, aber noch niemand hat ihre Wirkungsgeschichte erforscht, hörte ich von jüdischer Seite. Am meisten beeindruckte mich, dass ein jüdischer Kollege, mit dem ich mich beim Heimweg unterhielt, als er erfuhr, ich sei in der DDR aufgewachsen, und bemerkte, dass ich Mühe mit dem Englischen hatte, plötzlich ins Deutsche wechselte. In Berlin als Sohn eines Charlottenburger Rabbiners aufgewachsen, habe er niemals mehr das Deutsch Martin Luthers in den Mund nehmen wollen. Mein Vortrag habe ihm gezeigt, dass er seine Vorbehalte gegen die deutsche Sprache zurücknehmen könne.

Die New York Times hat am nächsten Sonntag über diese Tagung berichtet und meinen Vortrag mit seinen Hauptthesen ausführlich besprochen. Der Plan eines Tagungsbandes zerschlug sich, nicht wegen meines Beitrags, der zunächst in finnischer Übersetzung gedruckt wurde41, sondern wohl wegen des Beitrags von Uriel Tal, der statt von Luthers Von den Juden und ihren Lügen zu reden, den in der Forschung bisher unbeachteten Kampf lutherischer Theologen gegen die völkische Bewegung, deren Rassismus sie mit dem zionistischen Judentum gleichsetzten, darstellte, was nicht zum Thema der Tagung gehörte. Mein Vortrag ist später in Amerika gedruckt worden.42 Damit mein Aufsatz, der dem in Deutschland dominierenden Interesse an der Geschichte des Antisemitismus nicht entsprach, nicht als apologetischer Versuch verstanden wurde, habe ich bis zum heutigen Tag auf die Veröffentlichung einer deutschen Fassung verzichtet. Für die wesentlichen von mir hier vorgetragenen Argumente wird man in jenem englischen Text die Belegstellen finden.


Interesse am jungen Luther

Ernst Troeltsch hat einmal einen Satz formuliert, den er als »grundlegenden Satz, der die Voraussetzung für jedes historische Verständnis des Protestantismus ist«, bezeichnet: »Der Protestantismus ist zunächst in seinen wesentlichen Grundzügen und Ausprägungen eine Umformung der mittelalterlichen Idee, und das Unmittelalterliche, Moderne, das in ihm unleugbar bedeutsam enthalten ist, kommt als Modernes erst voll in Betracht, nachdem die erste und klassische Form des Protestantismus zerbrochen ist.«43 Dieser Satz gilt auch für das Verständnis von Luthers Judenschriften. Mit dem Pietismus zerbricht in langjährigen erbittert geführten Streitigkeiten, die bis heute noch nicht zureichend erforscht sind, die erste und klassische Form des Altprotestantismus, die Orthodoxie. Nicht zufällig heißt das Jahrbuch, das der Erforschung des Pietismus gewidmet ist, »Pietismus und Neuzeit«. Das Lutherbild des Pietismus unterscheidet sich von dem der Orthodoxie dadurch, dass es sich von dem von der Orthodoxie bevorzugten alten Luther abwandte und mit Entschiedenheit auf den Luther der frühen 1520er Jahre zurückging.

Wenn man einmal die Schriften Luthers zusammenstellen würde, die in der lutherischen Orthodoxie maßgeblich waren, so wären es die Schriften gegen den Papst, die Sakramentierer (Zwinglianer), die Täufer, die Türken und die Juden. Erst der Pietismus brachte die Wende zum jüngeren Luther, die am deutlichsten Gottfried Arnold aussprach, für den der alte Luther durch die Rezeption des Aristotelismus in der Theologie, den Bekenntniszwang und das landesherrliche Kirchenregiment wieder ins Mittelalter zurückgefallen war. Wir stehen heute in der Lutherforschung, die weit über Karl Holl und Heinrich Boehmers »Der junge Luther« hinaus im frühreformatorischen Luther das Wesen der Reformation gefunden hat, nach wie vor auf den Schultern des Pietismus. Als sich die Reformationsgeschichtsforschung bei der Vorbereitung auf Luthers 500. Geburtstag 1983 erstmals wieder mit dem späten Luther befasste, fand sie sich vor die Aufgabe gestellt, »das Werden des Reformators genau zu sehen und zugleich herauszuarbeiten, worin das Reformatorische eigentlich bestand«.44

So können wir die Haltung, die die Reformation nach der Etablierung des landesherrlichen Kirchenregiments gegenüber den Täufern eingenommen hat und die noch viel härter ausfiel, als das, was Luther hinsichtlich der Juden gefordert hat (nicht Vertreibung, sondern Todesstrafe), historisch verständlich machen, wir können uns aber nicht mehr an ihr orientieren. Sie ist meilenweit entfernt von jenem wahrhaft revolutionären und zukunftsweisenden Satz, den der frühreformatorische Luther geschrieben hat und für den er exkommuniziert wurde: »Ketzer zu verbrennen ist wider den Heiligen Geist«.

Nicht immer lässt sich das spannungsreiche Miteinander von Gegensätzen auf den Unterschied von jüngerem und altem Luther aufteilen. Die Aufgabe, das Reformatorische und nach wie vor Orientierende genauer zu bestimmen, aber bleibt. Sie wird in der EKD offenbar gar nicht gesehen. Das zeigt beispielsweise das von ihr herausgegebene Themenheft »Reformation und Toleranz«, das wegen seines niedrigen Niveaus und der Fülle von Fehlern in einigen Beiträgen nicht nur bei mir Entsetzen erregt hat – eine Peinlichkeit, die man allerdings nicht der Botschafterin für das Reformationsjubiläum anlasten kann.


Was zu tun bleibt

Unter die Untaten, die in deutschem Namen in der ersten Hälfte des 20. Jh. verübt worden sind, kann in absehbarer Zeit kein Schlussstrich gezogen werden. Auch die Rolle, die Luthers antijüdische Schriften dabei gespielt haben, lässt sich nicht verschweigen. Aber es gibt eben auch die andere Seite der Geschichte, die aus der Nachwirkung von Luthers Schrift von 1523 entspringt. Sie wird durch die von mir beklagte Einseitigkeit, mit der heute das Verhältnis von Christen und Juden allein unter dem Gesichtspunkt des Antisemitismus betrachtet wird, verdeckt. Wie gut, ja freundschaftlich das Verhältnis von Judentum und christliche Kirche im 19. Jh. oft war, zeigt der heute ungläubige Verwunderung erregende Tatbestand, dass der jüdische Seidenfabrikant Abraham Henoch, der 1819 das Rittergut Gleissen in der Neumark (heute Glisno) erwarb, die Pflichten eines Kirchenpatrons wahrnahm und der evangelischen Gemeinde Gleissen mit beträchtlichem Kapitaleinsatz von Friedrich Schinkel eine neue Kirche bauen ließ. Über ihrem Eingangsportal ließ er eine Inschrift anbringen: Dieses Gotteshaus erbaute seiner christlichen Gemeinde im Jahre 1837 der derzeitige Besitzer der Herrschaft Gleissen Israel Moses Henoch.45 Ich habe in meiner Familie Zeugnisse, wie freundschaftlich mein Ururgroßvater, Pfarrer in einer Kleinstadt nahe Bromberg, mit dem Rabbiner verkehrte und wie er christliche Kinder züchtigte, die den Juden Hep-Hep hinterherriefen.

Zeugnisse des friedlichen Zusammenlebens von Christen und Juden gibt es sicherlich mehr, als wir wissen. Man müsste familiäre Nachlässe und Gemeindearchive einmal darauf durchgehen. Spuren des Fortlebens von Luthers Mahnung in seiner Schrift von 1523 bis hin zu Dietrich Bonhoeffers Einsatz für die Juden von 1933 nachzuzeichnen, sollte zu den Vorbereitungen des Reformationsjubiläums 2017 gehören. Dazu ist aber in der EKD eine Neubesinnung fällig.


Anmerkungen:

* Der Autor hat beklagt, dass der Hinweis auf Hillel Ben Sasson nicht schon im Intro zum ersten Teil erfolgt ist, sondern dort einer redaktionellen Kürzung zum Opfer fallen musste. Die Schriftleitung bedauert das Missverständnis. Wallmann bezieht sich hierbei auf: H.H. Ben Sasson, Geschichte des jüdischen Volkes, München (5. Aufl.) 2007, 795.

1 Udo Arnoldi, Pro Iudaeis. Die Gutachten der hallischen Theologen im 18. Jahrhundert zu Fragen der Judentoleranz (Studien zu Kirche und Israel 14), Berlin 1993, 213, Anm. 60.

2 A.a.O., 218.

3 A.a.O., 219.

4 J.L. Ewald, Ideen über die nöthige Organisation der Israeliten in christlichen Staaten, Karlsruhe 1816. Neudruck mit einem Nachwort hg. von Johann Anselm Steiger, Heidelberg 1999.

5 Den Hinweis darauf verdanke ich Prof. Dr. Inge Mager/Hamburg.

6 J.L. Ewald, Einige Fragen und noch mehr unläugbare Wahrheiten, Juden- und Menschennatur, Juden- und Menschenbildung betreffend, Karlsruhe 1820.

7 Dorothea Wendebourg, Die Reformationsjubiläen des 19. Jahrhunderts, in: ZThK 108, 2011, (270-335) 327.

8 Das gilt etwa für den aus Preußen vertriebenen, in der Schweiz und Frankreich eine neue Heimat suchenden Hartwig Hundt-Radowsky (1780-1835), der der ersten Welle von Frühantisemiten folgt und in der Reaktionszeit eine Fülle von hasserfüllten, teilweise pornographischen antijüdischen Schriften verfasst und von seriösen Antisemitismusforschern für singulär gehalten wird. Luther ist für Hundt-Radowsky völlig marginal, er wird auf zwei Seiten seiner umfangreichen Bände mit antijüdischen Sätzen seiner Tischreden zitiert, Luthers späte Judenschriftten kommen nicht vor. Seine Hauptquelle ist Eisenmenger.

9 Vgl. Dorothea Wendebourg, Jüdisches Luthergedenken im 19. Jahrhundert, in: Markus Witte/Tanja Pilger (Hgg.), MAZEL TOV. Internationale Beiträge zum Verhältnis von Christentum und Judentum, Leipzig 2012, 195-213.

10 E.W. Hengstenberg, Die Juden und die christliche Kirche. Evangelisch-Lutherische Kirchenzeitung 60, Berlin 1857, (449-459; 497-504; 505-520; 652-662; 665-667; 673-680) 453.

11 Ders., Die Opfer der heiligen Schrift. Die Juden und die christliche Kirche, Berlin 1859, 59.

12 Dass Adolf Stoecker sich – entgegen anders lautender Behauptungen (J. Rogge, Luthers Stellung zu den Juden, in: Luther. Zeitschrift der Luther-Gesellschaft 40, 1969 [14-24], 16) – in seinem Kampf gegen die Juden nicht auf Luthers antijüdische Judenschriften bezog, zeigt Johannes Brosseder, Luthers Stellung zu den Juden im Spiegel seiner Interpreten, München 1972, 76, Anm. 16. Zuvor hatte bereits Karl Kupisch darauf hingewiesen (K. Kupisch, Alfred [sic!] Stoecker – Hofprediger und Volkstribun. Ein historisches Porträt, Berlin 1970, 43).

13 Allgemeine Evangelisch-Lutherische Kirchenzeitung, Jg. 14, Leipzig 1881, Nr. 40, 954f.

14 Karl Heinrich Christian Plath, Was machen wir Christen mit unsern Juden!? Erörtert und beantwortet, Nördlingen 1881.

15 Albrecht Ritschl stützt sich in seiner Geschichte des Pietismus (II, 513) auf die Biographie des engsten Freundes Speners aus seiner Berliner Zeit Carl Hildebrand von Canstein, die sein einstiger Schüler Plath verfasst hatte.

16 Der Rezensent (s. Anm. 13) empfindet den Ton des Buches als eine »Liebesklage um Israel«.

17 Plath (wie Anm. 14), 172.

18 A.a.O., 172f.

19 A.a.O., 185.

20 Lukas Bormann, Der »Stürmer« und das evangelische Nürnberg (1924-1927). Zur Entstehung von Hans Meisers Artikel aus dem Jahr 1926 »Die evangelische Gemeinde und die Judenfrage«, ZBKG 78, 2009, (187-212) 208, Anm. 90.

21 K. H. Ch. Plath, Welche Stellung haben die Glieder der christl. Kirche dem modernen Judenthume gegenüber einzunehmen? Augustkonferenzvortrag, Berlin 1881.

22 K. H. Ch. Plath, Goßners Segensspuren in Nordindien. Eine geschichtliche und missionstheoretische Reisebeschreibung. Friedenau-Berlin 1896, 4f.

23 Mit »dogmatisch festgelegt« meint Hitler vermutlich das protestantische Schriftprinzip, das den Protestantismus an die Jüdische Bibel, das AT, band (vgl. u. Anm. 31).

24 Thomas Frey (Pseudonym für Theodor Fritsch), Antisemiten-Katechismus. Eine Zusammenstellung des wichtigsten Materials zum Verständnis der Judenfrage. Dritte unveränderte Auflage, Leipzig 1887 (Verlag von Theodor Fritsch), 258 S.

25 Der »Antisemiten-Katechismus«, der 20 Jahre später in der 17. Auflage in »Handbuch zur Judenfrage« umbenannt wurde, erhielt eine große Zahl von Auflagen, deren Auflagenhöhe aber mit 5000 Exemplaren lange Zeit niedrig war. Erst im Dritten Reich ist mit der 40. Auflage 1939 eine Auflagenhöhe von über 250.000 erreicht, sodass man von weiter Verbreitung sprechen kann. Das entspricht dem Tatbestand, dass der Antisemitismus im Kaiserreich vor dem Ersten Weltkrieg ein gesellschaftliches Randphänomen war.

26 Anti-Anti-Blätter zur Abwehr: Tatsachen zur Judenfrage. Hg. Vom Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens. Berlin s.a. [1924], 37. Luther habe zwar, »als Kind seiner Zeit« zeitweise »die Vorurteile seiner Zeit gegen die Juden geteilt«, sei aber »kein Antisemit« (Fettdruck im Original) gewesen. Den Hinweis auf diese Schrift verdanke ich Prof. Dr. Dorothea Wendebourg/Berlin.

27 F. Lezius, Luthers Stellung zu den Juden, Baltische Monatsschrift 39, 1892, (336-345), 344f. Friedrich Lezius, ab 1912 Professor in Königsberg, war mit seinen Brüdern Josef und Hermann Studienfreund von Reinhold Seeberg in Dorpat.

28 Nicht umsonst hat der spätere norwegische Erzbischof Eivind Berggrav, der den Kampf der norwegischen lutherischen Staatskirche gegen das Quisling-Regime und die deutsche Besatzung leitete und den höchst eindrücklichen, vorbildhaften Einsatz der norwegischen Kirche für die Juden anführte, Wilhelm Hermann seinen wichtigsten Lehrer genannt.

29 Reinhold Lewin, Luthers Stellung zu den Juden. Ein Beitrag zur Geschichte der Juden in Deutschland während des Reformationszeitalters (Neue Studien zur Geschichte der Theologie und Kirche 10), Berlin 1910.

30 Wilhelm Walther, Luther und die Juden, Allgemeine Evangelisch-Lutherische Kirchenzeitung 54, 921, 130-133; 146-150; 162-167;196-199;213-217; 475-476. Erschienen auch als Buch unter dem erweiterten Titel W. Walther, Luther und die Juden und die Antisemiten, Leipzig 1921.

31 Alfred Falb, Luther und die Juden (Deutschlands führende Männer und das Judentum, Bd. 4) München 1921. Zu Falb s. Brosseder (wie Anm. 12), 156ff. Falb, ein Artur Dinter nahe stehender Autor der völkisch-religiösen Bewegung, veröffentlichte 1921 eine Schrift Luther und die Juden, in der er der Reformation die Verjudung des deutschen Volkes vorwarf. Grund sei das protestantische Schriftprinzip, die das jüdische AT enthaltende Bibel. An Luthers Judenfeindlichkeit war Falb nach ihrer theologischen Seite nicht interessiert, es ging ihm allein um den Kampf eines Germanen gegen den jüdisch-römischen Geist. Luther besitze eine ungeheure Bedeutung für die arische Menschheit: Er sei »Erwachen germanischer Seele zu arischer Gotteserkenntnis und Wiedergeburt«.

32 A.a.O., 146.

33 Vgl. A. Falb (wie Anm. 31). Zu dem hier nur knapp angerissenen Zusammenhängen vgl. J. Brosseder (wie Anm. 12).

34 Mathilde Ludendorff, Die Fälschung der Reformation Luthers durch die protestantische Kirche, in: Deutsche Wochenschau 5, Nr. 4, Berlin 1928, 1f.

35 K. Grunsky, Luthers Bekenntnisse zur Judenfrage (Der Aufschwung, Deutsche Reihe, 2. Heft), Stuttgart 1933.

36 Von den Jüden und ihren Lügen von M. Luther 1542. Als Volksausgabe herausgegeben von Hans Ludolf Parisius. Nebst Anhang: Aus Luthers Schrift: Vom Schem Hamphora, Und vom Geschlecht Christi. Ludendorffs Volkswarte-Verlag G.m.b.H. München [ca. 1931], 4. Der verbreiteten Unkenntnis will Parisius durch seine »Volksausgabe« abhelfen, die er nach eigenen Gesichtspunkten zurechtgestutzt hat (s. nächste Anm.).

37 A.a.O., 4. Da diese religiöse Seite im zeitgenössischen Kampf gegen das Judentum wenig relevant ist, zeichnet sich Parisius’ »Ausgabe« vornehmlich dadurch aus, dass er die bei Luther den ganz überwiegenden Teil des Textes ausmachenden theologischen Passagen drastisch gekürzt hat. Seine Ausgabe ist immerhin noch umfangreicher als die nach 1933 unter dem Titel von Luthers Schrift verbreiteten Pamphlete.

38 Ich zitiere den »Stürmer«, den ich in meiner Bochumer Zeit gründlich durchgesehen habe, nach der sorgsam gearbeiteten Studie von J. Brosseder (wie Anm. 12), 7. »Nationalsozialistische Lutherdeutung A. Der Stürmer«, 182ff.

39 Stürmer, 11. Jg., Nr. 46 vom November 1933, 4.

40 Ebd.

41 Mit Genehmigung des Institute of Jewish Affairs in London erschien er in Teologinen Aikakauskirja/Teologisk Tidskrift 91/1986, 576-589.

42 J. Wallmann, The Reception of Luthers Writings on the Jews from the Reformation to the End of the 19th Century, Lutheran Quarterly 1, 1987, 72-97.

43 Zit. nach Heinrich Bornkamm, Luther im Spiegel der deutschen Geistesgeschichte, Heidelberg 1955, 273.

44 Helmar Junghans, Vorwort zu: Leben und Werk Martin Luthers von 1526 bis 1546. Festgabe zu seinem 500. Geburtstag. Im Auftrag des Theologischen Arbeitskreises für Reformationsgeschichtliche Forschung herausgegeben von Helmar Junghans, Bd. I, Berlin 1983, 9.

45 S. im Internet das Suchwort Gleissen. Für die Inschrift über dem Portal s. Ludwig Fischer, Dr. Martin Luther von den Jüden und ihren Lügen: Ein crystallisirter Auszug aus dessen Schriften über der Juden Verblendung, Jammer, Bekehrung und Zukunft. Ein Beitrag zur Charakteristik dieses Volkes, Leipzig 1838, 47.


Über die Autorin / den Autor:

Prof. Dr. Dr. theol. h.c. Johannes Wallmann, Jahrgang 1930, emeritierter Professor für Kirchengeschichte der Evang.-Theol. Fakultät der Ruhruniversität Bochum, Mitglied der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften, seit 2002 Honorarprofessor an der Humboldt-Universität Berlin; zahlreiche Veröffentlichungen (s. www.wallmann.de).

Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 7/2014

2 Kommentare zu diesem Artikel
06.08.2014 Ein Kommentar von Kleve Karl-Heinz Ich habe den Artikel aufmerksam gelesen , jedoch stelle ich fest ich , dass der Vf auf die wissenschaftliche Arbeit von Prof Heinz Kremers , Duisburg ( verstorben 1988 ) , nicht eingeht. Kremers hatte im Lutherjubiläumsjahr 1983 einen Kongress zum Thema Luther und die Juden initiiert Darüber hat er später einen Sammelband veröffentlicht , in dem alle Vorträge - von Christen und Juden - enthalten sind Dieser Band sollte unbedingt im Blick sein , um dem schweren Thema gerecht zu werden , auch 2017 !
28.07.2014 Ein Kommentar von Dr. Hans Maaß Wirkungsgeschichte ist eine lebendige Angelegenheit und gehört zu Aussagen als deren Wirklichkeit hinzu; aber sie ist deshalb auch dem lebendigen Fluss unterworfen. – Auch wenn der Piestismus die „judenfreundliche“ Schrift von 1523 in den Vordergrund stellte, bleibt erschütternd, dass Luthers letzte Worte, die er als Anhang einer wegen eines Schwächeanfalls abgebrochenen Predigt anfügte, einen solchen Schmutzkübel über die Juden ergossen, dass man dies nicht übergehen kann. Und ist die Schrift von 1523 tatsächlich so judenfreundlich, wenn sie in der Hoffnung auf „Bekehrung“ der Juden gründet? Ist Judenmission nicht eo ipso judenfeindlich? Dr. Hans Maaß, Karlsruhe
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