Das Jahr 2013 war im Rahmen der Lutherdekade unter das Thema »Reformation und Toleranz« gestellt. Viel ist dazu gesagt und geschrieben worden. Auch die dunklen Seiten der Reformationsbewegung hat man nicht ausgespart. Doch auf welcher theologischen Grundlage soll künftig von Toleranz die Rede sein? Reinhold Bernhardt zeigt einen Weg auf, interreligiöse Toleranz aus der Mitte des evangelischen Glaubensverständnisses zu begründen.


Dass Luther tolerant gegenüber anderen Glaubensweisen – christlichen wie jüdischen und muslimischen – gewesen wäre, kann man ihm gewiss nicht nachsagen. Auch wenn man seine Haltung nicht anachronistisch an Toleranzidealen messen darf, die erst Jahrhundert später entwickelt wurden, so muss man doch feststellen, dass sich andere Reformatoren wie Andreas Osiander in Nürnberg oder Heinrich Bullinger in Zürich schon zu seiner Zeit von solchem Furor distanziert haben. Man konnte auch im 16. Jh. anders denken.

Wohlmeinende Lutherinterpreten weisen zu Recht darauf hin, dass sich die diesbezügliche Haltung Luthers erst um das Jahr 1525 radikalisiert habe und zitieren versöhnlichere Aussagen aus der Zeit davor. Noch in diesem Jahr konnte er sagen: »Daraus merke, welche rasenden Leute wir so lange Zeit gewesen sind, die wir die Türken mit dem Schwert, die Ketzer mit dem Feuer, die Juden mit Töten haben wollen zum Glauben zwingen, und das Unkraut ausrotten mit unserer eigenen Gewalt; gerade als wären wir die Leute, die über Herzen und Geister regieren könnten und wir sie möchten fromm und recht machen, was doch allein Gottes Wort tun muss.«1

Je offensichtlicher aber wurde, dass sich Juden, Muslime (»Türken«), »Papisten« und Schwärmer nicht vom rein gepredigten Wort bezwingen ließen, wie er es erwartet hatte, umso schärfer beklagte er deren Verstocktheit. Die Schärfe erklärt sich daraus, dass für Luther hier das Herzstück des evangelischen Glaubens auf dem Spiel stand: die Rechtfertigung allein aus Glauben. Judentum, Islam, der römische Katholizismus und das Schwärmertum waren für ihn Varianten der Gesetzesreligion. Es handelt sich daher bei seinen Aussagen über sie nicht um periphere Ausfälle, sondern um Ableitungen aus dem Nervenzentrum seiner Theologie.

Von hier aus folgte er der Devise: »Der Glaube kann nichts dulden, die Liebe hingegen duldet alles.«2 Während der frühe Luther noch den zweiten Teil dieser Devise zur Geltung bringt, indem er fordert, die noch nicht zum wahren evangelischen Glauben gekommenen Christen und Nichtchristen dürften nicht mit Gewalt, sondern nur mit der Überzeugungskraft der Wahrheit belehrt und bekehrt werden, tritt beim späten Luther der erste Teil dieses Satzes in den Vordergrund. Die Intoleranz des Glaubens hat die Toleranz der Liebe zurückgedrängt.

Die Konsequenz aus diesem kurzen Rückblick muss nun aber nicht sein, auf der Suche nach einer »evangelischen« Begründung für interreligiöse Toleranz Luther hinter sich zu lassen und erst im nachaufklärerischen Neuprotestantismus oder sogar erst in der aktuellen religionstheologischen Debatte anzusetzen. Man kann mit Luther gegen Luther argumentieren, indem man fragt, worum es in der Rechtfertigungslehre letztlich geht. Und aus diesem Grund heraus kann man dann andere Ableitungen vornehmen, als Luther sie vorgenommen hat. Karl Barth kann dabei Hilfestellung leisten.

Natürlich ist ein solcher Denkweg nicht zwingend. Er beansprucht nicht, eine Deduktion im strengen Sinn der Denknotwendigkeit zu vollziehen, sondern zeigt eine Denkmöglichkeit auf. Der Denkweg setzt beim Ziel an, bei der Absicht, interreligiöse Toleranz aus der Mitte des evangelischen Glaubensverständnisses begründen zu wollen, und fragt von hier aus zurück nach der Möglichkeit dazu. Theologische Denkwege verlaufen übrigens in aller Regel nach diesem Muster – wenn auch zumeist unausgesprochen.


1. Der Rechtfertigungslehre auf den Grund gehen

Es geht in der Rechtfertigungslehre um die sachgemäße Unterscheidung und Zuordnung zwischen opus Dei und opus hominis. Die Konstitution der heilshaften Gottesbeziehung des Menschen ist allein Werk Gottes. Nichts kann der Mensch dazu beitragen. In dieser Hinsicht ist er »mere passive«, rein Empfangender. In der Betonung des »sola gratia« artikuliert sich ein soteriologisches Interesse: Nur wenn ganz klar ist, dass der Mensch keinen Beitrag zur Konstitution dieser seine Existenz tragenden Beziehung leisten kann, ist auch ganz klar, dass er ihrer nicht durch eigenes Verschulden verlustig gehen kann. Mit Paulus gesprochen: Nichts kann uns trennen von der Liebe Gottes – keines unserer Werke und auch die Endlichkeit unseres Lebens nicht (Röm. 8,38f). Basta!

Die beiden anderen Leitunterscheidungen der Rechtfertigungslehre – die zwischen Glaube und Werken und die zwischen Gesetz und Evangelium – präzisieren die Grundunterscheidung zwischen opus Dei und opus hominis. Dabei gilt das »mere passive« nur für die Konstitution der Gottesbeziehung. Daraus folgt nicht, dass der Mensch sich nicht befleißigen sollte, gute Werke zu tun. Er soll es und er darf es beflügelt vom Geist Gottes und im Bewusstsein der christlichen Freiheit, in der er sich von allem Leistungsdruck gegenüber Gott befreit weiß.

Karl Barth hat diese Linie weiter ausgezogen, indem er sie nicht nur auf die Werke, sondern auch auf die Gotteserkenntnis des Menschen bezogen hat. Er hat zwischen Glaube und Religion unterschieden. »Glaube« ist opus Dei, »Religion« opus hominum. Im »Glauben« lässt sich der Menschen von Gott die Augen für den unbändigen Heilswillen Gottes öffnen, wie er sich in Christus realisiert hat. In der »Religion« – gemeint ist damit zunächst das anthropologische Phänomen der Religiosität – versucht der Mensch, von sich aus zu Gotteserkenntnis und Gottwohlgefälligkeit zu kommen. Die Gottesbeziehung des Menschen wird nach Barth sowohl im Blick auf das Handeln als auch im Blick auf das Erkennen als auch im Blick auf das Sein des Menschen in unumkehrbarer Einseitigkeit von Gott her konstituiert. Und diese Konstitution ist in Christus ereignet und wird in der Verkündigung zugesprochen. Darin besteht der Zentralgedanke der Barthschen Theologie.

Aus der Unterscheidung zwischen Glaube und Religion ergibt sich bei Barth eine theologische Religionskritik: eine heilsame Selbstrelativierung der Religion, die auch das Christentum als Religion einschließt. Der Christ steht ohne Vorrang in der Solidarität der Sünder mit den Angehörigen aller anderen Religionen. Erst und ausschließlich von Christus her wird das Christentum zur wahren Religion gemacht. Es ist dazu geschaffen, den Christusnamen zu tragen, es ist erwählt, gerechtfertigt und geheiligt. Doch handelt es sich dabei eben um einen Gnadenakt. Wie dem Sünder, so wird der sündigen Religion eine ihr fremde Gerechtigkeit zugesprochen, so Barth.

Die eine Seite dieser Dialektik wird nicht von der zweiten aufgehoben, weder sachlich noch zeitlich. Auch als gerechtfertigte Religion bleibt das Christentum sündige Religion unter Religionen. Es hat kein Recht, das Prädikat »wahre Religion« für seine eigene Religionswahrheit zu beanspruchen. Gegenüber solcher religiöser Selbstgerechtigkeit muss der christliche Glaube und seine Reflexionsform – die Theologie – immer wieder zwischen Gottes- und Religionswahrheit unterscheiden, eben zwischen opus Dei und opus hominum.


2. Absolutheitsansprüche als Toleranzbegründungen

Im Folgenden will ich drei Formen dessen, was man den »Absolutheitsanspruch des Christentums« nennen kann, unterscheiden und zeigen, wie aus diesen Formen drei theologische Toleranzbegründungen werden, wenn man diesen kleinen Unterschied beachtet und sie nicht auf die Religion des Christentums, sondern auf Gottes Wahrheit als deren Grund und Kritik bezieht.

Ich will mich nicht beim Begriff des Absolutheitsanspruchs, seiner Geschichte und seiner Problematik aufhalten3, sondern mich der »Sache« zuwenden, zu deren Bezeichnung dieser Begriff in der Regel gebraucht wird. Er verweist auf die mit dem christlichen Glauben verbundenen Geltungsansprüche. Dabei kann man fragen, ob solche Ansprüche notwendig zum Glaubensinhalt selbst gehören oder ob sie ihm beigelegt werden und also von ihm unterschieden werden können, vielleicht sogar müssen. Sie gehörten dann gewissermaßen nicht zur Glaubenssubstanz, sondern zur Aneignungsweise dieser Substanz und zum Umgang damit. So verstanden würden sie die Art charakterisieren, in der sich der Glaubende nach innen hin zu seinem Glauben verhält und ihn nach außen hin vertritt. Ich neige der zweiten Seite dieser Alternative zu, bin mir aber bewusst, dass sich diese Frage nicht leicht beantworten lässt. Sie soll als Problemanzeige auf dem jetzt zu gehenden Weg mitgeführt werden.

Man kann unterscheiden zwischen Ansprüchen auf exklusive, universale und finale (letztliche) Geltung, also zwischen Ansprüchen auf ausschließliche Alleingeltung (Exklusivität), Allgemeingeltung für alle Menschen (Universalität) und Letztgültigkeit (Unüberbietbarkeit).


2.1 Exklusive Geltungsansprüche

Exklusivansprüche behaupten, dass nur die Wahrheit der eigenen Religion gültig ist und d.h. authentische Gotteserkenntnis vermittelt, zu einem gottwohlgefälligen Leben anleitet und zum Heil führt. Die Gotteswahrheit ist ausschließlich in der eigenen Religionswahrheit gegenwärtig, ja mit dieser identisch. Die sog. Exklusivstellen des NT – vor allem Joh. 14,6; Apg. 4,12 – werden dafür christlicherseits regelmäßig ins Feld geführt. Andere Religionstraditionen – besonders die Mitglieder der Religionsfamilie, die auf semitische Ursprünge zurückgehen – haben ihre je eigenen Belegstellen dafür.

Dass Exklusivansprüche zu geistigen Schwertern werden können, die religiös motivierte Konflikte befeuern können, liegt auf der Hand. Ob sie dabei selbst die Brandursache darstellen oder nur das Öl, das ins brennende Feuer gegossen wird, und ob es um spezifisch religiöse Konflikte geht oder ob religiöse Loyalitäten für die Durchsetzung sozialer, ökonomischer oder politischer Interessen instrumentalisiert werden, ist dabei nachrangig. Entscheidend ist, dass die Einstellung der am Konflikt Beteiligten radikalisiert wird, wenn es ihnen nicht mehr nur um menschliche Interessen, sondern um die eine, einzige und ausschließliche Gotteswahrheit geht.


2.2 Universale Geltungsansprüche

Universale Geltungsansprüche für religiöse Wahrheiten propagieren deren Geltung für alle Menschen. Diese Wahrheit ist demnach nicht nur für die Angehörigen der eigenen Glaubensgemeinschaft gültig, sondern für die ganze Schöpfung. Daraus erwächst der Missionsgedanke. Mission dient dazu, der universalen Wahrheit universale Geltung zu verschaffen. Der für den Universalitätsanspruch des Christentums und seine Wirkungsgeschichte wichtigste Text des NT steht in Matthäi am letzten, der sog. Missions»befehl«.4

Während der Exklusivanspruch allen Mitgliedern der semitischen Religionsfamilie gemeinsam ist – gerade das, was sie voneinander trennt, ist ihnen gemeinsam! – findet sich der Universalitätsanspruch nur im Christentum und im Islam. Das Judentum erhebt ihn nicht. Erst mit der Entscheidung für die Heidenmission wurde er historisch in Geltung gesetzt. Den Religionen indischen Ursprungs – vor allem den unterschiedlichen Ausprägungen des Hinduismus und Buddhismus – ist er demgegenüber von vornherein eigen.

Während der christliche Exklusivanspruch primär in der Christologie und Soteriologie verankert ist, hat der Universalitätsanspruch seinen Nährboden in der Schöpfungstheologie (Gott, der Schöpfer des ganzen Kosmos), in der theologischen Anthropologie (alle Menschen sind zum Ebenbild Gottes geschaffen, verfehlen diese Bestimmung aber notorisch und sind auf Gottes zurechtbringendes Handeln angewiesen) und in der Pneumatologie (der Geist Gottes als die ganze Schöpfung umspannende und durchdringende Kraft). Die Botschaft, dass Gottes Wort »das wahre Licht (ist), das jeden Menschen erleuchtet« (Joh. 1,9), und dass durch Christus »für alle Menschen die Rechtfertigung gekommen (ist), die zum Leben führt« (Röm. 5,18) weist aber auch in die Christologie.

Auch religiöse Universalitätsansprüche können Konfliktstoff freisetzen, etwa dort wo sie dazu führen, aggressive Missionsmethoden zu rechtfertigen. In Indien etwa erzeugt die Missionspraxis bestimmter amerikanischer und südkoreanischer Missionsgesellschaften erhebliche interreligiöse (und auch innerchristliche) Konflikte. Generell gilt: Wo sich solche Universalitätsansprüche mit Macht- und Herrschaftsansprüchen verbinden (wie in der Kolonialmission), kann es zu religiös motivierter Gewalt kommen.


2.3 Ansprüche auf Letztgültigkeit

Die Ansprüche auf Letztgültigkeit besagen: Die Wahrheit der eigenen Religion gilt für alle Zeiten. In ihr ist die Fülle der Zeit repräsentiert und proklamiert. Es ist die prinzipiell unüberbietbare, ultimative, abschließende, volle und vollendete Gotteswahrheit, an der sich letztlich Heil und Unheil entscheidet. Besonders für das Selbstverständnis des Christentums und des Islams spielt dieser Anspruch eine wichtige Rolle. Nicht zuletzt deshalb war die Auseinandersetzung zwischen diesen beiden Religionen so scharf. Es war ein clash der Letztgültigkeitsansprüche.

Jesus hatte angekündigt, dass die Zeit erfüllt und das Reich Gottes im Anbruch begriffen sei (Mk. 1,15). Nach Joh. 5,36 und 17,4 vollendet er die Werke Gottes. Daher musste es einen tiefen Stich ins Herz des Christentums darstellen, als Mohammed diesen Anspruch bestritt und auf sich bezog, in dem er behauptete, er sei das Siegel der Propheten (Sure 33,40). Johannes von Damaskus konnte darin nur das Werk der satanischen, antichristlichen Verführungsmacht erkennen, von der in der biblischen Johannesapokalypse die Rede war. Mohammed sei der falsche Prophet, der dort angekündigt ist (Apk. 19,20). Er sei gekommen, die Christenheit zu verführen, um so die wahrhaft Glaubenden ausfindig zu machen. Diese apokalyptische Deutung hat nicht unwesentlich zur Vergiftung der Beziehung zwischen Christen und Muslimen beigetragen. In manchen christlichen Kreisen wird sie noch heute vertreten.

Letztgültigkeitsansprüche haben ihren theologischen Ort traditionell vor allem in der Eschatologie. Oft waren sie dort in heilsgeschichtliche Schemata eingebunden, die die Gegenwart als Entscheidungszeit für die nahe bevorstehende Endzeit stilisieren. Vor allen in den Endzeitbewegungen im, am Rand oder außerhalb des Christentums spielen sie eine wichtige Rolle, etwa im Dispensationalismus, bei den Adventisten oder den Zeugen Jehovas. Sie sind dort in aller Regel nicht mit einer Gewaltneigung, sondern eher mit pazifistischen Haltungen verbunden.

Es fällt aber auf, dass in den Begründungsmustern religiös motivierter (Selbst-)Ermächtigung zur Gewalt eschatologische Vorstellungen, Erwartungen und Ansprüche einen wichtigen Platz einnehmen. Der Kampf für die Durchsetzung der letztgültigen Wahrheit scheint die Aufhebung jeglicher Hemmschwellen in der Wahl der Mittel zu legitimieren. Der eigene Opfertod des Gotteskämpfers ist dabei in Kauf zu nehmen. Gott wird ihn tausendfach entschädigen und belohnen. In der Ideologie der Kreuzzügler gibt es ebenso Beispiele dafür wie bei islamischen Selbstmordattentätern.

Für die Ansprüche auf Finalität gilt, was auch für die Ansprüche auf Exklusivität und Universalität zu konstatieren ist: Sie stellen nicht an sich eine Gefährdung für den Religionsfrieden an. Sie können aber so interpretiert und angewendet werden, dass daraus interreligiöse Feindschaft entsteht. Sie können ideologisiert und mit Hass aufgeladen werden. Dann werden sie zu Lizenzen im Kampf gegen Andersglaubende oder in der milderen Form zu Vergewisserungen der eigenen Gottwohlgefälligkeit gegenüber denen, die in der selbstverschuldeten Gottesfinsternis sitzen. Es ist nicht primär der Inhalt, sondern der Gebrauch der Absolutheitssprüche, der sie dazu macht.

Aber der Inhalt kann einen solchen Gebrauch fördern oder hemmen. Wenn etwa klar ist, dass sich der Absolutheitsanspruch auf die Unbedingtheit der Nächstenliebe bezieht, dann wird daraus kaum eine Gewaltneigung zu begründen sein. An einem Text aus mennonitischer Tradition wird das exemplarisch deutlich: »Jesus als Herrn anzuerkennen, schließt mehr ein, als seinen Ausschließlichkeitsanspruch anzuerkennen. Es schließt auch die Bereitschaft ein, den Weg zu gehen, den Jesus ging: alle Menschen zu lieben …, bereit zu sein, das eigene Leben sogar für Anderslebende, Andersdenkende, Andersglaubende aufzugeben … Wir bekennen Jesus als den einzig gültigen Weg zu Gott. Andersglaubende sollen wissen, wir werden sie nie verachten, nie verfolgen, nie vertreiben, nie verfluchen, nie vernichten. Stattdessen werden wir sie lieben, segnen und ihnen helfen.«5 Ein »Absolutheitsanspruch« der Nächsten- und Fremdenliebe!

Neben dem Weg, den Absolutheitsanspruch des Christentums an den Inhalt des Evangeliums zurückzubinden, gibt es noch eine weitere Möglichkeit, aus ihm eine Toleranzbegründung zu gewinnen. Man muss ihn nur auf Gott statt auf die Religion beziehen.


2.4 Die Einheit und Einzigkeit Gottes

Bezieht man den Exklusivanspruch auf Gott, dann bringt er die Einheit und Einzigkeit Gottes als Grundbekenntnis der jüdisch-christlich-islamischen Gottesrede zum Ausdruck. Auf die Frage nach dem höchsten Gebot hatte Jesus nach der Überlieferung des Mk. mit den Worten seiner jüdischen Tradition geantwortet: »Das höchste Gebot ist das: ›Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist der Herr allein, und du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüt und von allen deinen Kräften‹« (Mk. 12,29f) … »Und der Schriftgelehrte sprach zu ihm: Meister, du hast wahrhaftig recht geredet! Er ist nur einer, und ist kein anderer außer ihm« (12,32; vgl. auch 1. Kor. 8,4). Das entspricht nicht nur dem jüdischen, sondern auch dem islamischen Verständnis der Einheit Gottes, neben dem es keinen anderen Gott gibt, also dem exklusiven Monotheismus.

Einheit und Einzigkeit Gottes sind dabei widerspruchsfrei mit innerer Differenz zusammen zu denken, so dass das trinitarische Bekenntnis nicht in Spannung zum Monotheismus steht. Gregor von Nazianz hatte von der »Monarchie des dreieinigen Gottes« gesprochen.6 Der eine und einzige Gott kann von sich selbst unterschieden und auf sich selbst bezogen sein.

Zum ersten Gebot gehört auch das Bilderverbot. Die Betonung der Einheit und Einzigkeit Gottes ist verbunden mit dem Theologumenon der Entzogenheit und Transzendenz Gottes. Die unergründliche Wahrheit und Wirklichkeit Gottes liegt allen religiösen Gottesbildern und Gottesvorstellungen uneinholbar voraus. Gott wohnt »in unzugänglichem Licht …, dahin kein Mensch kommen kann« (1. Tim. 6,16). Allein seine Selbsterschließung ermöglicht authentische Gotteserkenntnis. Doch auch diese Gotteserkenntnis kann nicht beanspruchen, »das Ganze« Gottes zu erfassen.

Man muss also die Wahrheit Gottes unterscheiden von der Wahrheitsgewissheit des Glaubens und diese von den Wahrheitsansprüchen der Religion. Wo diese Unterscheidung nicht gemacht wird, kommt es zu Absolutheitsansprüchen für die Religion. Wo sie gemacht wird, kommt es zu einer Selbstzurücknahme der Religion, die es Gott dann auch überlassen kann, Wege zu Menschen anderen Glaubens zu finden. Wenn er will, dass alle Menschen gerettet werden (1. Tim. 2,4), dann ist das auch gar nicht anders zu erwarten.

Die religiösen Traditionen einschließlich ihrer normativen Quellen sind nicht Behälter der Wahrheit Gottes, sondern verweisen auf sie. So wie nach ntl. Bezeugung auch Jesus selbst über sich hinaus auf Gott und den Anbruch der Gottesherrschaft verwiesen hat. »Was nennt ihr mich gut? Gott allein ist gut.« (Mk. 10,18) Selbst in Joh., das die Nähe zwischen Christus und Gott so stark betont, wird diese Verweisstruktur durchgehalten. Der Gottesmittler sucht nicht seine eigene Ehre, sondern die Ehre dessen, der ihn gesandt hat (Joh. 8,50).

Paulus gibt übrigens ein beachtenswertes Beispiel dafür, wie aus der Überzeugung von der Einheit und Einzigkeit Gottes Offenheit gegenüber anderen Formen der Gottesverehrung erwächst – selbst wenn sie als Götzendienst zu brandmarken sind. In 1. Kor. 8,4ff argumentiert er, dass auch der Verzehr von Götzenopferfleisch nicht von Gott, »von dem alle Dinge sind«, trennen kann. Das schließt dann auch die Möglichkeit der Teilnahme an religiösen Veranstaltungen ein, in denen solches praktiziert wird.

In der umstrittenen EKD-Handreichung »Klarheit und gute Nachbarschaft. Christen und Muslime in Deutschland« aus dem Jahr 2006 findet sich eine Passage, die diese Haltung der interreligiösen Offenheit aus christlicher Freiheit schön zum Ausdruck bringt: »Nicht die ängstliche Abgrenzung gegen diese Menschen, ihr Gottesverständnis, ihren Kultus oder ihr Ethos ist gefragt. Weil es um von Gott geliebte Menschen geht, begegnet ihnen die Kirche mit Achtung und Respekt. Christen gehen auf Angehörige anderer Religionen zu und lassen sich von dieser Begegnung auch nicht durch das abhalten, was ihnen zunächst fremd und unverständlich erscheint.«7


2.5 Die Universalität Gottes

Den universalen Wahrheitsansprüchen der Religionen steht das Bekenntnis zur Universalität Gottes gegenüber. Juden, Christen und Muslime beschränken den Machtbereich Gottes nicht auf ihre eigene Religionsgemeinschaft, erklären Gott also nicht zu ihrem eigenen Stammesgott, sondern verstehen ihn als die universale Macht des Lebens, die alle Menschen ins Sein und zu sich als der Fülle des Seins ruft.

In diesem, auf Gott bezogenen Sinn vertritt auch das Judentum einen Universalitätsanspruch, besser gesagt: ein Bekenntnis zur Universalität Gottes, aus dem dann eine Relativierung des Bewusstseins der eigenen Erwählung resultiert. So sehr sich die Juden als erwähltes Volk Gottes sehen, so wissen sie doch, dass in Jes. 19,25 auch die Ägypter als »Volk Gottes« bezeichnet und die Assyrer »das Werk meiner (Gottes) Hände« genannt werden. Die Tora richtet sich nicht an diese Völker, aber sie sind deshalb nicht weniger eingeschlossen in Gottes universalen Segen.

Lukas spricht in Apg. 14,15-17 davon, dass Gott sich den Völkern nicht unbezeugt gelassen hat. Auch Paulus bekennt eindeutig eine universale Offenbarung des universalen Gottes (Röm. 1,18-20; 2,14f). Nach Apg. 17,22-31 bescheinigt er den Athenern in seiner Rede auf dem Areopag, dass der unbekannte Gott, den sie verehren, der von Jesus als »Vater« angeredete Gott Israels sei. Dieser Gott aber »ist nicht ferne von einem jeden unter uns. Denn in ihm leben, weben und sind wir; wie auch einige Dichter bei euch gesagt haben: Wir sind seines Geschlechts« (Apg. 17,27f). Mit Karl Rahner gesprochen: Er erklärt die Athener zu »anonymen Christen«.

Nimmt man noch die Universalitätspotentiale hinzu, die in der Rede vom Geist Gottes liegen, dann ist klar, dass die in der Kraft des Geistes vergegenwärtigte Wahrheit Gottes über die Religionswahrheit des christlichen Glaubens in seinen vielen Variationen hinausreicht. Nach christlichem Verständnis ist der Geist an das Wort gebunden und dieses hat in Christus Menschengestalt angenommen. Die Wahrheit Gottes kann also keine andere sein als die in Jesus, dem Christus, repräsentierte. Aber als solche kann sie über die Wirkungsgeschichte der Christusbotschaft hinausreichen und in möglicherweise gänzlich fremden Gestalten auch außerhalb dieser Wirkungsgeschichte anzutreffen sein.

Der katholische Tübinger Theologe Peter Hünermann hat im Anschluss an den spanischen Dominikaner Melchior Cano aus dem 16. Jh. die Religionen zusammen mit Philosophien, Wissenschaften, der Geschichte u.a. unter die »loci alieni« eingereiht, d.h. es sind fremde Erkenntnisquellen für die Theologie. Wenn man die außerchristlichen Religionstraditionen in dieser Weise theologisch würdigt, dann hat das Konsequenzen für den Umgang mit ihren Anhängern. Die Bezeichnung »Andersglaubende« wird dann zu einem Prädikat: Gerade aus ihrem Anders-Glauben heraus können sie zu Zeugen der Andersheit Gottes werden, der allem Gottesglauben vorausliegt.


2.6 Gott als letztgültige Wirklichkeit und Wahrheit

Dem Anspruch auf Letztgültigkeit der eigenen Religionswahrheit steht die Überzeugung gegenüber, dass Gott selbst die letztgültige Wirklichkeit und Wahrheit ist. Alles Religiöse kann demgegenüber eine (mit Bonhoeffer gesprochen) bloß »vorletzte« Wahrheit sein. Am Ende wird alle Wirklichkeit – auch die Christuswirklichkeit – in Gott eingehen und er wird alles in allem sein (1. Kor. 15,28). Alles Religiöse, alle Glaubensgewissheiten, auch die im Glauben erfasste Botschaft von Jesus Christus steht unter »eschatologischem Vorbehalt«. Sie sind ausgerichtet auf ihre noch ausstehende Vollendung in Gott.

Im locus classicus der biblischen Toleranzbegründung – dem Gleichnis vom Unkraut unter dem Weizen (Mt. 13,24-30) findet dieser Vorbehalt eine wunderbare Inszenierung: Gott ist der Richter, der am Ende der Zeit das Unkraut als solches identifiziert und vom Weizen trennt. Bis dahin soll es auf dem Acker stehen bleiben. Kein Mensch kann und darf diese Scheidung vornehmen. Niemand soll sich anmaßen, diesem Gericht vorzugreifen und das vermeintliche Unkraut auszureißen. »Lasset beides miteinander wachsen bis zur Ernte« (Mt. 13,30) – das ist die Magna Charta der christlichen Toleranz.

Die Religionen gehören zum »Vorletzten«, nicht zum »Letzten«, so sehr es um das »Letzte«, um Gott als das Eschaton und um die Selbstvermittlung Gottes in ihnen geht. Wo sie diese Einsicht in ihr Selbstverständnis integrieren, werden sie sich ihrer Geschichtlichkeit bewusst. In Anlehnung an Paulus: Sie haben den Schatz der göttlichen Wahrheit in irdenen Gefäßen (2. Kor. 4,7). Das Gefäß ist wichtig, sonst würde der Inhalt zerfließen. Aber man darf das Gefäß nicht verabsolutieren. Eine Religion, die ihre eigene Geschichtlichkeit ernst nimmt, kann sich nicht verabsolutieren.

Im Unterschied zum griechischen Verständnis von Wahrheit als ungeschichtlicher, unwandelbarer Ideenschau besagt der christliche Glaube, dass Gottes Logos in die Geschichte eingegangen ist, sich in einer menschlichen Person Geschichtsgestalt gegeben hat und in menschlichen Bezeugungen der heilstiftenden Kraft, die von dieser Person ausgegangen ist, die Menschen in ihren jeweiligen Kontexten anspricht. »Fleischwerdung des Gotteswortes« meint Geschichtswerdung der Selbstmitteilung Gottes. Deshalb muss man diese Selbstmitteilung auch aus den jeweiligen historischen Kontexten heraus verstehen, in denen sie sich zum Ausdruck gebracht hat. Geschichtlichkeit ist aber das genaue Gegenteil von Absolutheit. In seiner lateinischen Grundbedeutung meint dieser Begriff »Losgelöstheit« von allem Geschichtlichen. Aus der Geschichtlichkeit der Christusbotschaft ergibt sich die Notwendigkeit der immer neuen Vergeschichtlichung = Kontextualisierung = Auslegung in die jeweilige Zeit hinein. In diesem Sinne braucht es die fortwährende Inkarnation der Inkarnation.


3. »Tolerantia Dei«?

Bezieht man die drei Arten des »Absolutheitsanspruch des Christentums«, die sich analog auch in anderen Religionen finden, nicht auf das Christentum als Religion, sondern auf Gott, dann werden sie zu religionskritischen Regulativen. Als solche fungieren sie als Gegengewichte gegen die Selbstüberhebung dieser Religion wie auch anderer Religionen. Zugespitzt gesagt: Es sind »Fundamentalismus-Blocker«, denn sie erlegen der Religion aus ihrem eigenen Innersten heraus eine theologische Selbstzurücknahme auf. Sie führen zu einer Selbst-Relativierung der Religion durch Rückbindung (»religio«) an Gott und damit zu einer Haltung, die man »Toleranz aus Glauben«8 nennen kann.

Um Toleranz aus der Wahrheitsgewissheit des christlichen Glaubens zu begründen, greift man evangelischerseits gerne auf einen Gedanken Luthers zurück, den er in seiner Schrift »Disputatio de iustificatione« aus dem Jahr 15369 entfaltet hat und den Gerhard Ebeling 1982 wieder in die Diskussion einbrachte.10 In dieser Disputation über die Rechtfertigung des Sünders im Blick auf Röm. 3,28 hatte Luther von einer »incomprehensibilis tolerantia et sapientia Dei«, einer unbegreiflichen Geduld und Weisheit Gottes gesprochen. Doch darf bei dieser Toleranzbegründung – erstens – nicht unerwähnt bleiben, dass Luther selbst diese Übertragung der »tolerantia Dei« auf den Umgang der Menschen miteinander nicht vorgenommen hat. Dort, wo er den Toleranzgedanken nicht auf Gott, sondern auf die Ordnung der menschlichen Lebensverhältnisse bezieht, gebraucht er ihn – zweitens – nicht zur Bestimmung der Beziehung zwischen den Religionsgemeinschaften, sondern zur Beziehungsbestimmung zwischen der staatlichen Obrigkeit und der Kirche.11 Drittens bezieht sich das Dulden bei Luther nicht auf den Glauben. Denn für ihn gilt die eingangs (nach Ebelings Zusammenfassung) zitierte Devise: »Der Glaube kann nichts dulden, die Liebe hingegen duldet alles.«12 Im unmittelbaren Rückgriff auf Luther lässt sich interreligiöse Toleranz nicht begründen, sondern bestenfalls so, wie ich es hier versucht habe: durch Rückgriff auf die Axiome seiner Theologie, die dann über Luther hinaus weitergedacht werden.13


Anmerkungen:

1 WA 17 II, 124,6-125,17 (Luthers Fastenpostille 1525) (St. L. 11, 506f).

2 »Fides nihil, charitas omnia tolerat« (Gerhard Ebeling, Die Toleranz Gottes und die Toleranz der Vernunft, in: Trutz Rendtorff (Hg.), Glaube und Toleranz. Das theologische Erbe der Aufklärung, Gütersloh 1982, 54-73, 70. In seiner Deuteronomium-Vorlesung von 1525 sagte Luther: »Charitas omnia suffert, omnia tolerat, fides nihil suffert et verbum nihil tolerat, sed perfectum purum esse debet verbum« (WA 14,669).

3 S. dazu: Reinhold Bernhardt, Der Absolutheitsanspruch des Christentums. Von der Aufklärung bis zur Pluralistischen Religionstheologie, Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 1990, 19932.

4 S. dazu: Wolfgang Reinbold, »Gehet hin und machet zu Jüngern alle Völker«? Zur Übersetzung und Interpretation von Mt 28,19f, in: ZThK 109, 2012, 176-205.

5 ACK Bayern (Hg.), Einander begegnen in Kultur und Religion, München 1994, 55f.

6 Oratio XXIX Theol III, 2, in: PG 36, 73-104, 76.

7 EKD Texte 86, 15.

8 Diese in der gegenwärtigen Diskussion um interreligiöse Toleranz oft gebrauchte Formel (s. etwa die Kundgebung zum Schwerpunktthema »Tolerant aus Glauben« der 4. Tagung der 10. Synode der EKD, Berlin, 6.-10. November 2005; http:// www.ekd.de/synode2005/beschluesse_kundgebung.html [06.08.2013]) wurde schon früher in anderem Kontext geprägt: Lutherisches Kirchenamt Hannover (Hg.), Toleranz aus Glauben. Referate und Aussprachen zum Toleranzproblem und zur gegenwärtigen kirchlich-theologischen Situation auf der Lutherischen Generalsynode 1956 in Hannover, Berlin 1956.

9 WA 39 I, 82f.

10 Gerhard Ebeling, Die Toleranz Gottes und die Toleranz der Vernunft.

11 So etwa in seinem Gutachten über die Regensburger Artikel von 1541 (WA Br. 9, 437-439 bzw. 440-442). S. dazu: Heinrich Lutz (Hg.), Zur Geschichte der Toleranz und Religionsfreiheit, Darmstadt 1977, 252-262.

12 S. Anm. 2.

13 Weitere theologische Begründungen habe ich herauszuarbeiten versucht in: Interreligiöse Toleranz, in: epd-Dokumentation 12/2013, Frankfurt/M. 19.3.2013, 15-26.

 

Über die Autorin / den Autor:

Prof. Dr. Reinhold Bernhardt, Jahrgang 1957, seit 2001 Professur für Syst. Theologie/Dogmatik an der Universität Basel, Arbeitsschwerpunkt: Theologie der Religionen; www.unibas.ch/theologie → Personen → Bernhardt.

Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 1/2014

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