Im Zuge ihrer gegenwärtigen strategischen Umbauarbeiten ist die evangelische Kirche dabei, wesentliche Aspekte ihres in und seit der ­Reformation gewachsenen Selbstverständnisses preiszugeben – auch schon deshalb, weil manche Kirchenfunktionäre die Herkunfts­geschichte des Protestantismus theologisch nicht mehr begreifen.

Tradition ist nicht das Halten der Asche, sondern das Weitergeben der Flamme. (Thomas Morus)

Es ist ja richtig, auch wenn das Wort von einem Gegner der Reformation stammt: Sprechen wir von Traditionen, dann geht es uns als Christen nicht um die Bewahrung der Asche, sondern um das Schüren und Anfachen der Glut, die unter einer Ascheschicht verborgen noch da ist – heutzutage also um das Bewahren von Glutresten.

Allein mit dem regelmäßigen Zitieren dieses wohl auf Jes. 44,20 zurückgehenden Wortes ist es nicht getan, denn wir leben oberflächlich betrachtet in traditionsvergessenen Zeiten. Über neue Wege und Formen kirchlicher Arbeit angesichts noch vor kurzem ungeahnter Herausforderungen im sog. Medien- und Wissenszeitalter nachzudenken, ist deshalb absolut richtig und notwendig, aber es birgt auch Gefahren, wenn hektischer Aktionismus den Blick trübt! Denn der allzu verständliche Wunsch der Kirche nach medialer Aufmerksamkeit und Wahrnehmung sowie das Bestreben nach Innovation und »Marktförmigkeit« darf nicht dazu führen, dass wir als evangelische Kirche unseren gewachsenen protestantischen Markenkern in der Krise leichtfertig aufgeben und letztlich das Evangelium im gesellschaftlichen oder gar im ökonomischen Mainstream weichspülen. Bei länger anhaltender auch innerkirchlicher Traditions- und damit Identitätsvergessenheit droht dem Protestantismus ansonsten der Verlust weiterer gesellschaftlicher Milieus: die Krise beginnt dann erst recht die Krise zu nähren.

Folgende Fragen stellen sich in diesem Kontext:

– Was ist eigentlich das Besondere am protestantischen Verständnis des Pfarramtes?

– Gibt es neben der Rechtfertigungslehre oder vielmehr: aus ihr heraus resultierend weitere Kernbestände protestantischer Identität, die es zu schärfen gilt?

– Reicht die immer wieder vorgenommene Bezugnahme auf CA V und CA XIV hierfür schon aus oder ist dies nur ein notwendiger, aber unvollständiger Rahmen, den es mit weiteren Inhalten zu füllen gilt?

– Ist es nicht an der Zeit, die Besonderheiten des Pfarramtes bzw. des Pfarrberufes, die sich mehr oder weniger historisch zufällig (Lessing), aber eben auch konkret erfahrbar im Zuge der Reformation herausgeformt und über lange Zeiträume bewährt haben, mehr und genauer in den Blick zu nehmen?

Das landesherrliche Kirchen­regiment – ein historischer ­Glücksfall

Die Jahre von 1525 bis 1918 sind zuerst einmal nicht als ein historischer Irrtum oder theologischer Unfall zu bewerten, sondern sie sind eine sehr tief prägende Wegstrecke für den Protestantismus in Deutschland gewesen, auf der nicht nur alles schlecht gewesen ist. Zum eigentlichen und nach wie vor unverzeihlichen Versagen von Kirche und Theologie kam es doch keineswegs in jener angeblich so finsteren Zeitspanne, sondern v.a. im 20. Jh., als Kirche nicht oder nur in sehr seltenen Ausnahmefällen das lösende Wort fand. Also in einer Ära, in der der Protestantismus durch die weitgehende Trennung von Staat und Kirche im Grunde genommen frei von äußerer Einflussnahme geworden war, aber die daraus resultierende Chance praktisch verspielte. Das sollte nachdenklich machen!

Bekanntlich kam es im Zuge der Reformation seit den 30er Jahren des 16. Jh. zum sog. Landesherrlichen Kirchenregiment (i.F. »LKR«) und infolge dessen zum sog. Notepiskopat durch die protestantischen Landesherren. Und wie so häufig in der Geschichte erwies sich eine Notlösung nicht als die schlechteste und das Provisorium als überaus langlebig. Man wird sogar sagen können, dass das LKR für den Protestantismus, insbesondere für das sich herausbildende Luthertum, eine Art Glücksfall gewesen ist. Zwar gab es manchen Mangel wie z.B. die folgenschwere Unterbelichtung des lutherischen Klerus, was die Freiheit zu politischer Willensbildung betrifft, mit all den schlimmen Spätfolgen nach 1933, genau genommen sogar schon ab 1919. Aber die gefundene Notlösung brachte doch auch manche Vorteile mit sich: Der Pastorenberuf entwickelte sich – dem LKR sei’s gedankt – ganz und gar im Unterschied zum Priesterbild im nachtridentinischen Katholizismus gerade wegen der Existenz der Notbischöfe auf evangelischer Seite zu einer sowohl inhaltlich wie auch formal einzigartigen Profession. Zu einem Berufsbild nämlich, das durch die Weiterentwicklung der vorreformatorischen Pfarrwahl schon zahlreiche Spurenelemente eines modernen Wahlamtes aufwies und zugleich auch dem Gedanken der Entsendung durch eine Zentralinstanz (Konsistorium) entsprach. Denn dadurch, dass eine kirchliche Ämterhierarchie weitgehend fehlte (die freilich auch bereits Luther aus guten theologischen Gründen auf das Schärfste abgelehnt hatte), wurde der Pfarrberuf auf protestantischer Seite zu einer in weiten Teilen eigenständigen Profession mit außerordentlich hoher Autonomie und weitgehender Selbststeuerung: eben zum sog. »Schlüsselberuf der Kirche« (Kirche der Freiheit, 72). Wobei der Freiheitsbegriff hier natürlich immer in der unauflösbaren Diastase von Freiheit und Verantwortung zu sehen ist, wie er von Luther zu Beginn der Freiheitsschrift prägend formuliert wurde: Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Ding und niemand untertan – ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Ding und jedermann untertan.

Verantwortungsbewusste Selbststeuerung, enge und reflektierte Verbindung von Glaube und Vernunft, Ausformung des Kulturprotestantismus, Herausbildung von Pfarrerdynastien als Ausdruck familiären Professionsstolzes, das Zusammenwachsen von Pastorat und Pfarrgemeinde, hinzukommend die gesamte Kultur- und Sittengeschichte des evangelischen Pfarrhauses u.v.m. prägten das mehr und mehr sich herausbildende ministerium verbi divini, gleich, ob man es nun mit Luther als »Amt« oder stärker ntl. akzentuierend als »Dienst« übersetzen mag. Nicht unwichtig ebenfalls: die pastorale Profession ließ i.d.R. hinreichend Raum und Zeit für benachbarte Wissensgebiete wie Kirchenmusik, Philosophie, Ökonomie, Medizin etc. So wurde sie dadurch zu der nachgerade klassischen Dialogwissenschaft. Dass der Pfarrberuf Entfaltungsmöglichkeiten auch für »Wort- und Musikkultur, philosophische und psychologische Anstöße, pädagogische und soziale Aktivitäten, und schließlich … politische Kultur (Greiffenhagen, 12) bot, hat den reformatorischen Kirchen nicht geschadet, denn die Ergebnisse dieses interdisziplinären Kulturschaffens wurden mit der evangelischen Kirche in ihrer Gesamtheit positiv verbunden. Sie formten ein öffentliches Bewusstsein von evangelischer Kirchlichkeit, in dem all diese Glaubensfrüchte im weiteren Sinne (EG 503,13) einer aufklärerischen und somit modernen Gestalt von Kirche (creatura verbi) zugerechnet wurden. »Darüber (sc. Gottesdienste, Unterricht etc.) hinaus bleibt ein weiter Spielraum, in dem der Pfarrer nach seinen Fähigkeiten und Interessen und nach der besonderen Situation seiner Gemeinde Schwerpunkte setzen kann. Seine Arbeit orientiert sich dabei nicht am wirtschaftlichen Nutzen (sic!), sondern am Menschen« … – so eine Werbebroschüre der hannoverschen Landeskirche für das Theologiestudium aus den 1980er Jahren! Worte, die heute, in Zeiten unzähliger Pfarrstellenstreichungen und fortschreitender Ökonomisierung der kirchlichen Arbeitswelt, meilenweit entfernt scheinen!

Innerkirchliche Gewaltenteilung

Entscheidender ist, dass gerade auch das Ephorenamt in der nachreformatorischen Zeit weitgehend im Geiste eines primus inter pares definiert wurde, nicht jedoch im Sinne eines mit Vollmachten und Weisungsbefugnissen ausgestatteten Dienstvorgesetzten oder gar »Regionalbischofs«. Den wünscht sich zwar heutzutage manche Kirchenleitung unter dem Lei(d)twort der sog. Organisationswerdung von Kirche herbei, mehrheitlich ahnt man aber wohl nicht wirklich, welchen gesamtkirchlichen Schaden man damit anrichtet und welch unevangelische Transformation der Landeskirchen man damit betreibt. Es war nämlich weder Zufall noch Notlösung, sondern wohl begründete Entscheidung, dass Luther bei der Formulierung des Ordinationsformulars für evangelische Geistliche auf das katholische Bischofs-Weihformular zurückgriff, um damit deutlich zu machen: hier ist nichts anderes als dort, es gibt nur ein einziges Amt der Verkündigung, nicht mehrere (Kantzenbach, 32f). Das gilt selbst dann, wenn es zu differenzierten Ausformungen des einen Amtes kommen sollte, wie in der heutigen weitgehend funktionalen Gesellschaft unumgänglich. Diese beziehen sich aber vornehmlich auf die Außenrepräsentation von Kirche und dürfen keineswegs zur Folge haben, eine Hierarchisierung innerhalb der Pfarrerschaft zu befördern. Jedenfalls wurden in diesem klassischen Paradigma die Kirchengemeinden mit hoher Wertschätzung bedacht und die zentrale Steuerung in aller Regel auf ein unumgängliches Mindestmaß beschränkt, so wurde hier auch das ntl. Gemeindeprinzip zur Geltung gebracht.

Mit Blick auf die heutige Problemlage in den Landeskirchen ist es v.a. wichtig festzuhalten, dass in jenem »klassischen« System des LKR die heute sog. »Stellenplanungshoheit« über die Pfarrstellen, also die Verantwortlichkeit für Errichtung, Veränderung und Aufhebung von Pfarrstellen, gerade nicht an die Kirchenkreise verlagert wurde, um dann von der Gnade oder Ungnade unter Spardruck agierender lokaler Gremien bzw. Entscheidungsträger abhängig zu sein; vielmehr wurde für die dauerhafte Existenzsicherung der Gemeindepfarrstellen und damit für einen wesentlichen Teil der Kultur der protestantischen Kirchen ausschlaggebend, dass diese von den Summepiscopi bzw. Konsistorien als Vorläuferbehörden der heutigen Landeskirchenämter nominell »auf Ewigkeit«, zumindest aber sehr langfristig, unabhängig von den gerade agierenden Amtsträgern und insbesondere auch frei von der Einflussnahme vor Ort »errichtet« und damit auf Dauer, auch über teilweise lange Vakanzen hinweg, garantiert wurden. Diese strikte Trennung von Dienstaufsicht »an der Basis« (ephoral) einerseits und Stellenplanungshoheit (konsistorial) andererseits wurde somit ein ganz gravierendes stilprägendes Wesensmerkmal der lutherischen Landeskirchen und zugleich des Pfarrberufs. In der Folge entstand ein hoch ausdifferenziertes einzigartiges System von frühneuzeitlicher Gewaltenteilung, diffizil prästabiliert durch eine Vielzahl von »checks and balances«, was Stellenbesetzungen, die Entwicklungsgeschichte der Pfarrwahl, immerhin einer einzigartigen demokratischen Tradition in ansonsten feudalistischer Zeit, Vokation und Wechselmöglichkeiten betraf. Diese absolute Einzigartigkeit des Charakters des Pfarramtes allein schon in seiner formalen Struktur (die allerdings immer auch in Wechselwirkung zu den Inhalten der Verkündigung stand) kommt interessanterweise auch darin zum Ausdruck, dass der Begriff der Vakanz, der die Fortexistenz einer konkreten Pfarre auch im Falle ihrer Nichtbesetzung festhielt, praktisch nur im kirchlichen Bereich, nicht jedoch bei anderen Professionen vorkommt! Genau aus diesem Grunde muss Entwicklungen wie in der hannoverschen Landeskirche, wo unlängst die Stellenplanungshoheit durch Änderung der Kirchenverfassung vom Landeskirchenamt an die Kirchenkreise delegiert wurde, deutlich widersprochen werden, weil sie die Kultur des Pfarrberufes wie -amtes untergraben!

Die Sicherstellung der Gemeindepfarren über alle Zeitläufte hinweg war im übrigen eines der Hauptargumente der Landeskirchen bei der Aushandlung der Staatskirchenverträge nach dem Zweiten Weltkrieg, mit dem staatliche Zuwendungen (Landesleistungen) für die einst seitens der Landesherrn errichteten Pfarrstellen eingefordert und durchgesetzt wurden. In der hannoverschen Landeskirche bedeutet dies immerhin den praktisch vollständigen Besoldungsersatz für ca. 250 (d.h. ca. 20% aller!) Gemeindepfarrstellen. Und dies brachte gleich mehrere Vorteile für die Landeskirchen mit sich: die Pfarrerschaft untereinander brauchte sich nicht um Stellen oder Stellenanteile zu streiten und war intern saturiert und die Gemeinden konnten in der festen Gewissheit leben, dass die viva vox evangelii auch nach dem Fortgang oder Tod eines Ortsgeistlichen nicht verstummen würde.

Freiheit von Verkündigung und Bekenntnis

So wurde der Pfarrberuf im Verlauf des LKR je länger desto mehr zu einer einzigartigen hochspezialisierten Profession. Diese war materialiter natürlich immer eine schwierige, letztlich nie perfekt zu lösende Herausforderung im Sinne des berühmten Diktums von Karl Barth: »Wir sollen als Theologen von Gott reden. Wir sind aber Menschen und können als solche nicht von Gott reden. Wir sollen beides, unser Sollen und unser Nicht-können, wissen und eben damit Gott die Ehre geben«. Formaliter aber stellte sie, sozusagen als Ausgleich des zuvor formulierten und nicht zu unterschätzenden Professionsrisikos, eine dafür mit recht weitgehenden äußeren Sicherheiten kompensierte Berufung dar. Das reichte bis hin zu den Bestallungsurkunden samt dem Pfründewesen. Allein das Disziplinarrecht und später auch (sehr seltene) Lehrzuchtverfahren und die Versetzung »mangels gedeihlichen Wirkens« wurden als Ausnahmetatbestände gefasst, mit denen der Unversetzbarkeitsgrundsatz, das Herzstück dieser lutherischen pastoralen Identität, in Ausnahmefällen angetastet werden konnte. Diese mehrfachen Sicherungs- und Schutzmechanismen für die Gemeindepfarren waren jedoch nicht nur Ausdruck einer Zwangsehe von Thron und Altar, sondern durchaus auch besondere Wertschätzung, die die Feudalherren den Theologen wie ihrer Bevölkerung angedeihen ließen. Weithin wohl unbewusst, aber doch recht effektiv, schützten sie hierdurch nämlich die Freiheit der Verkündigung und die des Bekenntnisses, weil dergestalt Opportunismus, Karrierismus im Amt etc. auf diese Art und Weise weithin eingegrenzt wurden. Hier haben wir es im Kern mit dem Ursprung des gemeinen Kirchenrechts zu tun, das auch weiterhin in der Kirche Schranken vor Willkür und übertriebenem Reformeifer setzen muss!

Doch genau diese Garantie der grundsätzlichen Unversetzbarkeit (von Ausnahmen abgesehen) und die Garantie der tradierten Pfarrstellen wird heute seitens der Kirchenleitung überhaupt nicht mehr wahrgenommen, wenn dieser fundamentale Eckstein im neuen EKD-Pfarrgesetz nicht mehr wie zuvor den Versetzungstatbeständen vorangestellt wird und eine Reihe von Versetzungsmöglichkeiten als normal und selbstverständlich dargestellt werden. Und wenn permanent Stellenstreichungen den Amtscharakter des Pfarrberufs mehr und mehr aushöhlen. Es bleibt somit äußerst fraglich, ob die zur neutralen Amtsausübung und -führung und zur freien unabhängigen Verkündigung dringend erforderlichen Besonderheiten in der Ausgestaltung des kirchlichen Dienstrechts heute überhaupt noch hinreichend eingehalten werden. Ich gehe noch einen Schritt weiter: Sind sie überhaupt noch präsent, wenn wieder einmal die »Pastorenkirche« beklagt und zugleich der hektische Neuaufbruch in diese oder jene Richtung (oft genug doch nur das top-down verordnete mehr oder weniger teure Prestigeprojekt) eingefordert und auch umgesetzt wird, aller Finanzknappheit zum Trotz?

Die Landeskirchen jedoch, die sich seitens der Länder (und damit durch alle SteuerzahlerInnen!) in klammen Zeiten hochwillkommene Landesleistungen für frühere Patronate gern gefallen lassen, sie sollten das Rechtsbewusstsein zeigen, die betreffenden Stellen auch sowohl den jeweiligen StelleninhaberInnen, den Kirchengemeinden wie auch den jeweiligen Landesregierungen vollumfänglich zu garantieren. Allein schon deshalb, um sich nicht dem Vorwurf ausgesetzt zu sehen, Subventionen eigenmächtig in andere Arbeitsfelder umzuleiten (sog. Quersubventionierung). Denn mit viel Mühe wird es dem Steuerzahler heutzutage gerade noch zu vermitteln sein, dass die Länder in die Rechtsnachfolge für etwas eintreten, was von den Kirchen nach wie vor als wichtig erachtet wird, wohl kaum aber, wenn die Landeskirchen diese Gelder eigenmächtig für einen Zweck vereinnahmen, den sie selbst überhaupt nicht mehr estimieren. Den Verfassern des Entwurfes »Kirche der Freiheit«, die die Auflösung von bis zu 50% (!) der Gemeindepfarrstellen zugunsten der Bildung von Profilgemeinden vorschlugen, scheint dieser geschichtliche Zusammenhang nicht einmal mehr bekannt gewesen zu sein!

Wir sind als Pfarrerschaft zu großen Teilen im Vertrauen auf hohe Professions-Sicherheit, sprich: gerade auch in der Erwartungshaltung eines garantierten festen Stellenbestandes, in diesen spannenden, aber mitunter auch heiklen und schwierigen Beruf mit extrem langer Ausbildungszeit hineingegangen. Denn es ist und bleibt – und dies gilt erst recht unter den derzeit obwaltenden Verhältnissen – eine gewaltige Herausforderung und ein letztlich nie einzulösender Anspruch, als TheologInnen an einem fremden Ort, unter persönlich anfangs fremden Menschen, heutzutage ohne nennenswerten wirklichen Amtsbonus nichts Geringeres als das Evangelium Jesu Christi zu verkündigen, die Sakramente zu verwalten und mit den Menschen gemeinsam zu leben (Konvivenz).

Aber wir haben es getan im festen Vertrauen auf stabile Rahmenbedingungen, die uns die Kirche mit ihrer damals noch geballten Autorität versprach – und zwar nicht als unverdientes Privileg, sondern als Teil des durchaus auch mit herben Zumutungen gespickten Gesamtpaketes, das es anzunehmen und in die rechtliche Form eines Dienst- und Treueverhältnisses auf Gegenseitigkeit zu gießen galt (Dienstwohnungspflicht, Wochenenddienst, Entsendung in strukturschwache Gebiete u.a.). Und diese heute so brüchig gewordene Sicherheit in äußeren Dingen gab dann auch die Freiheit, den Mut und die Kraft, sich zu engagieren, also auch schwierige Aufgaben zu meistern. Sie trug durch Enttäuschungen und ermutigte zu Projekten, die von vielen zusätzlich zum Pflichtenkatalog angestoßen wurden. Dies alles ließ viele teilweise sogar auf berufliche Alternativen verzichten, die sich auftaten – eben weil man felsenfest darauf vertraute, dass der historisch gewachsene Pfarrstellenbestand sakrosankt sei, eben weil diese Stellen ja im Wesentlichen seit der Reformation von den Landeskirchen bewahrt worden waren. Dass dies heute keine Geltung mehr zu haben scheint, steigert die Belastungsprofile in den verbleibenden Gemeindepfarren enorm. So waren in der Tat in der Vergangenheit die Pfarrstellen samt ihrer InhaberInnen in einem hohen Maße vor innerer wie äußerer Einflussnahme geschützt. Heute jedoch ist davon nur noch wenig zu spüren, mitunter gar sind die privatrechtlich angestellten MitarbeiterInnen in mancherlei Hinsicht sogar besser geschützt als PastorInnen. Was zwei Weltkriege, Inflationen, Diktatur und sonstige Ereignisse nicht vermochten, nämlich den gesellschaftsprägenden überkommenen Pfarrstellenbestand aus seinen Angeln zu heben, hat übertriebener kirchlicher Reformeifer, sich dabei auf den Rückgang der Gemeindegliederzahlen berufend, nun in wenigen Jahren vollbracht.

Die Aushöhlung des Pfarrberufs

Nun mag mancher meinen, derlei hist. Besonderheiten des Pfarrberufes würden heutzutage doch so gut wie keine Rolle mehr spielen, sie seien eine zwar interessante, letztlich aber belanglose Fußnote der Kirchengeschichte. Und in der Tat ist all das hier Ausgeführte weiten Teilen der Bevölkerung heute nicht mehr bekannt und bewusst – sehr wohl aber einem Großteil der Pfarrerschaft, wie die Auswertungen der Pfarrerbefragungen in mehreren Landeskirchen nachweisen. Für sie war all dies ein wichtiger »Motivationsanker« und somit Kernstück ihrer pastoralen wie theol. Identität, der nun wegbricht. Exakt dadurch geht parallel in ganz erheblichem Maße die in ihrer Bedeutung für die Betroffenen kaum zu überschätzende Rollensicherheit verloren. Das ist nicht selten auch einer der Auslöser für Überlastungsreaktionen und Berufskrankheiten bis hin zum Burn-Out.

Beinahe wichtiger aber noch als der »Motivationsanker« für die Pfarrerschaft ist, dass die Gemeindeglieder i.d.R. zwar keine direkte Kenntnis der Besonderheiten der Ausgestaltung des Pfarrerdienstrechtes und seiner geschichtlichen Herkunft haben. Sehr wohl aber nehmen sie die positiven Folgen all dieser hohen Rechtsgüter wahr und zwar in Gestalt bekenntnisfreudiger, nicht angstbesetzter, sondern motivierter frei agierender Pastoren und Pastorinnen, deren Bestreben zur Verkündigung in erster Linie vom pure docetur (CA VII) geprägt war und nicht primär von Kalkül, Konfliktvermeidungsstrategien u.a. – eben weil sie, wie es in den Ordinationsurkunden auch ausgedrückt ist, in ihren Rechten zu schützen seien. Es ist im Übrigen geschichtlich eindeutig nachzuweisen, dass eben nicht, wie leider aus utilitaristischen Gründen heraus oft behauptet, das Pfarrerrecht zu späterer Zeit dem Beamtenrecht nachgebildet worden sei. Vielmehr diente exakt andersherum das Pfarramt protestantischer Provenienz den Preußenkönigen, v.a. Friedrich Wilhelm I. sowie Friedrich d. Gr. als Typus, um in der aufkeimenden Neuzeit das Beamtenrecht und damit Grundlagen des öffentlichen Dienstes zu formen. D.h. aber doch wohl auch: es gibt nicht nur im staatlichen Bereich die sog. »hergebrachten berufsprägenden Merkmale des Berufsbeamtentums«, wie sie durch Art. 33 Abs. 5 GG geschützt sind, sondern noch ältere typische überlieferte Wesensmerkmale, sprich überkommene Grundprinzipien des Pfarrberufs, die zum protestantischen Markenkern untrennbar dazugehören, quasi als ungeschriebenes, ehernes protestantisches Kirchenrecht, das es weiterzuentwickeln gilt.

Inmitten der kirchlichen Finanz- wie Mitgliederkrise wollen die Kirchenleitungen jetzt ebendiese klassischen professionstypischen Garantien nicht mehr gewähren, sie zweifeln sie gar an und wundern sich doch andererseits, dass kaum noch jemand ins Gemeindepfarramt strebt, eben weil der inzwischen eingetretene Attraktivitätsverlust des Pfarrberufs beträchtlich ist. Die Folgen dieser Verunklarung des Berufsbildes »Gemeindepfarramt« sind deutlich und zeigen sich im Bestreben vieler, in Funktionspfarrstellen bzw. andere Berufsfelder auszuweichen, was jeder Personaldezernent bestätigen kann.

Dieses Verhalten folgt im Übrigen auch der verqueren System- und Steuerungslogik vieler Landeskirchen, die längst zu einer falschen Mittel- und infolgedessen auch Personal-Allokation geführt hat: Solange GemeindepfarrerInnen durch die Gemeindefusionen z.T. sogar mehrfach visitiert und beurteilt werden, Jahresanfragen und- gespräche über sich ergehen lassen müssen, ohne dass ihnen daraus im Falle ausgesprochenen Vertrauens ein Schutz vor Versetzung etc. erwachsen würde, langanhaltende Vakanzen zu tragen haben, ist der Brain Drain aus den Gemeinden heraus in die funktionalen Dienste, wo völlig andere Rahmenbedingungen gelten, nur logisch und vollkommen nachvollziehbar!

Berücksichtigt man dann noch, dass es überdurchschnittlich besoldete Stellen praktisch ausschließlich im Funktionsdienst gibt, ist das Verhalten der Pfarrerschaft nur allzu erklärlich, doch führt es eben zu mittlerweile gravierenden Verschiebungen in der Tektonik der pastoralen Dienstgemeinschaft und wächst sich somit zum Schaden und Nachteil der Gesamtkirche aus. Dies alles sollte uns äußerst nachdenklich und sorgenvoll stimmen, denn das Gemeindepfarramt ist und bleibt der Schlüsselberuf in der Kirche katexochen, praktisch der einzige, der die in Zeiten des demographischen Wandels so eminent wichtige Mitgliederbindung sichert und die dauerhafte Präsenz von Kirche vor Ort garantiert (Rothen).

War im ersten Entwurf zum EKD-Pfarrgesetz gar noch die Frage der Amtszeitbegrenzung vor Ort vorgesehen, was weitere hohe Belastungen für Pfarrfamilien mit sich gebracht hätte (Schul- und Jobwechsel für Kinder und Ehepartner), so wird dies nun landeskirchlichen Regelungen vorbehalten. Doch man bedenke: Gerade in Zeiten allerorten zunehmender Austauschbarkeit und Unverbindlichkeit liegt doch in der Wiedererkennbarkeit von AmtsinhaberInnen, die einen langen und treuen Dienst vor Ort leisten, eine besondere Chance für das einzigartige Profil der protestantischen Kirche. Die kath. Kirche hat sich durch die ständige Versetzbarkeit (und damit Austauschbarkeit) ihrer Priester dieser einmaligen Chance beraubt. Sie wird allerdings ohnehin um eine weitgehende Neudefinition ihres Amtsbegriffs nicht umhin kommen.

Natürlich können in freiwilligen Pfarrstellenwechseln auch Chancen liegen. Aber warum wohl will man ausgerechnet dort, wo PastorInnen, Kirchenvorstände und Gemeindeglieder friedlich-schiedlich miteinander auskommen, als Kirchenleitung dazwischengehen und Trennungen amtlich verordnen? Und warum will man PfarrerInnen den zwangsläufigen Verlust ihrer Nebenämter, in die sie gewählt wurden, ihrer nichtkirchlichen Ehrenämter wie Schulelternräte, Vereinsämter usw. zumuten? Wie oft wurde in Sonntagsreden gerade deren Wichtigkeit betont – jetzt werden sie vollständig zur Disposition gestellt. Und genau dies meine ich mit protestantischer Selbstvergessenheit. Auf hoher See wechselt kein Reeder den Kapitän aus, sondern er versucht ihn mit allen Mitteln wieder zu motivieren. Dies fordere ich ein von unseren Kirchenleitungen: Zeichen (und Taten!) der Wertschätzung und ein Bekenntnis zum historisch gewachsenen und versprochenen pastoralen package deal (Karle). Sonst könnte es schon in kürzester Zeit ein böses Erwachen geben, wenn nämlich unsere Noch-Mitglieder sich Freikirchen und freien Theologen als Kasualrednern zuwenden, weil allein diese noch vor Ort sind, während wir uns auf vermeintlich »kirchliche Orte« (Pohl-Patalong) zurückgezogen haben, die aber in Wahrheit längst unkirchliche Orte geworden sind. Man bedenke, dass das Beteiligungsverhalten in Kirchengemeinden im nichturbanen Bereich erwiesenermaßen deutlich höher ist als andernorts.

Hoffentlich ist im Verlauf der Ausführungen deutlich geworden, dass es in unserer ausdifferenzierten spätmodernen Gesellschaft kein Zurück zu den nachreformatorischen Gegebenheiten geben kann. Es ist selbstverständlich, dass eine Organisation Öffentlichkeitsarbeit, Corporate Identity, Kampagnenfähigkeit u.v.m. besitzen muss, um bestehen zu können, einschließlich der dafür erforderlichen hochqualifizierten Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen. Und dennoch muss die heute zu findende Antwort ein für alle Seiten vertretbarer Kompromiss sein und keine Blindcopy von topdown-ausgerichteten Organisationen, und deshalb ist die Nichtbeteiligung von Pfarrerschaft wie auch der Gemeindebasisbewegungen an den laufenden Reformprozessen wie »Kirche der Freiheit« oder »Zukunftskongress« umso ärgerlicher, zugleich aber auch in hohem Maße bezeichnend für eine sich sakrosankt setzende Funktionärskirche. Der anzustrebende Kompromiss jedenfalls muss Rahmenbedingungen schaffen, die sowohl eine Wahrung der klassischen protestantischen Identität von Kirche, Gemeinde, Pfarramt zulassen sowie eine Adaption des Wissens aus der modernen Organisationslehre, soweit sie mit Schrift und Bekenntnis nicht im Widerstreit steht, ermöglichen. Dabei dürfen weder die reformatorischen noch die ntl. Wurzeln protestantischer Identität verschüttet werden: Jede kirchliche Organisationsstruktur muss sich immer wieder aufs Neue an Schrift und Bekenntnis messen lassen und letztlich der Verkündigung des Christuszeugnisses und damit dem Gemeindeaufbau dienen. Denn das Schema dieser Welt, von dem Paulus spricht, es vergeht in der Tat und wird zur kalten Asche, womit ich zu Thomas Morus zurückkehre. Wie es beispielsweise das Ende des Kommunismus vor 20 Jahren oder die Finanz- und Wirtschaftskrise von 2008/09 mit ihrer Zerstörung von Billionen-»Werten« gezeigt haben. Unsere Aufgabe als reformatorische Kirche bleibt, die biblische Glut wieder zu entfachen, die der Glaube in uns entzünden kann und will. Dazu mögen die wahrlich guten Traditionen unserer Kirche, die es verdient haben, nicht der Vergessenheit anheim zu fallen, auch zukünftig ihren Teil beitragen.

Literatur:

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– Dahm, Karl Wilhelm, Beruf: Pfarrer – empirische Aspekte, München 1971

– Dietrich, Hans-Eberhard, Wider Kirchenraub und Kläffer, Luthers Ablehnung einer Zwangsversetzung von Pfarrern, DPfBl 10/2008, 520-524

– Dubied, Pierre-Luigi, Die Krise des Pfarramts als Chance der Kirche, Zürich 1995

– EKD (Hg.), Kirche der Freiheit – Perspektiven für die evangelische Kirche im 21. Jh., Hannover 2006

– Greiffenhagen, Martin (Hg.) Das evangelische Pfarrhaus, Stuttgart 1984

– Grethlein, Christian, Pfarrer, ein theologischer Beruf, Frankfurt 2009

– Halbe, Jörg, Das Elend im Pfarrberuf heute, in: DPfBl 4/2008, 192-196

– Herborg, Helmut, Kirche und ihre Finanzierung, in: Konföderation, In Freiheit …, 119-128

– Kantzenbach, Friedrich-Wilhelm, Das reformatorische Verständnis des Pfarramtes, in: Greiffenhagen, 23-46

– Karle, Isolde, Der Pfarrberuf als Profession, PThK Bd. 3, Stuttgart 2008

– Dies., Kirche im Reformstress, Gütersloh 2010

– Dies., Kirchenreform. Interdisziplinäre Perspektiven, Leipzig 2009

– Kawalla, Gottfried u.a. (Hg.)., Theologie – Informationsschrift für SchülerInnen, Hg. Landesjugendpfarramt, Hannover 1981

– Konföderation evangelischer Kirchen in Niedersachsen (Hg.), In Freiheit verbunden – 50 Jahre Loccumer Vertrag, Hannover 2005

– Krarup, Martin, Ordination in Wittenberg, Die Einsetzung in das kirchliche Amt in Kursachsen zur Zeit der Reformation, BhTh 141, Tübingen 2007

– Krumwiede, Hans-Walter, Zur Entstehung des landesherrlichen Kirchenregiments in Kursachsen und Braunschweig-Wolfenbüttel, Göttingen 1967

– Nethöfel, Wolfgang (u. Bölts, Stefan) (Hg.), Pfarrberuf heute. Befragungen und Studien zum Pfarrberuf, Berlin 2010

– Pachtmann, Herbert, Pfarrer sein. Ein Beruf und eine Berufung im Wandel, Göttingen 2011

– Riess, Richard (Hg.) Haus in der Zeit, München 1979

– Rothen, Paul Bernhard, Das Pfarramt – ein gefährdeter Pfeiler der europäischen Kultur, Berlin-Zürich 2009

– Schneider, Nikolaus (u. Lehnert, Volker A.), Berufen – wozu? Zur gegenwärtigen Diskussion um das Pfarrbild in der ev. Kirche, Neukirchen 2009

– Summer, Rudolf, Die hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums – ein Torso, in: ZBR 1992, 1-6

– Wagner-Rau, Ulrike, Auf der Schwelle. Das Pfarramt im Prozess kirchlichen Wandels, Stuttgart 2009

Über die Autorin / den Autor:

Pastor Andreas Dreyer, Jahrgang 1962, Pastor in der Evang.-luth. Landeskirche Hannovers (seit 1991), Vorsitzender des Hannoverschen Pfarrvereins und Mitglied im Vorstand des Verbands evang. Pfarrerinnen und Pfarrer in Deutschland.

Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 6/2011

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