Gemeinsam mit Karl-Wilhelm Dahm und Friederike Erichsen-Wendt hat Dieter Becker eine empirische Untersuchung entwickelt, die es erlauben soll, Arbeitszeiten von Pfarrerinnen und Pfarrern exakter und differenzierter als bisher zu erfassen. Seinen Untersuchungsansatz und die Ergebnisse stellt er hier vor.


1. Zugänge zum Pfarrberuf – eine neue theologische Methode

Die Fragen nach dem Pfarrberuf sind in den letzten Jahren mehrheitlich geprägt durch einen Methodenwechsel. Bis zum Ende des letzten Jh. stand vor allem die Frage nach der Deutung von dem, was unter dem Begriff »Pfarrberuf« zu verstehen sei und wie »Theoriemodelle« (z.B. Professionstheorien) anzuwenden seien, im Vordergrund. Neuerdings brechen verstärkt empirische Befunde in die Orientierung der Berufsgruppe ein. Dieser methodische Wechsel von Deutung bzw. Interpretation (hermeneutischer Ansatz) zu einer empirischen (Erst-)Zugangsweise offenbart zugleich eine viel grundlegendere Diskussion um die evangelische Theologie im Allgemeinen. Es geht um die Frage nach der Leitmethode in der evangelischen Wissenschaft und deren Praxisanwendung. Beginnend mit den Kirchenmitgliedschafts-Untersuchungen (KMU) Anfang der 1970er Jahre halten die Methoden der empirischen Sozialforschung zunächst Einzug in die Praxisseite der Theologie und Kirchenorganisation. Empirische Zugänge zu theologischen Themen werden seither immer stärker auch in den wissenschaftlichen Fokus genommen.
Hermeneutik als Leitmethode evangelischer Theologie hat sich ihre Leitrolle durch die Ablösung der historisch-kritischen Methode seit den 1920er Jahren erkämpfte. Im 21. Jh. verliert sie an Bedeutung, wenngleich Unmengen hermeneutischer Deutungen »produziert« werden. Von einem methodischen Ablösungs-»Kampf«, wie noch zwischen Barth oder Bultmann einerseits und Seeberg oder Harnack andererseits, ist in der heutigen Theologie kaum etwas zu spüren. Gleichwohl ist aktuell einer Vielzahl von »jüngeren« Theologen (um 30-50) die Problematik um die Leitmethode der evangelischen Theologie bewusst. Hinsichtlich des Pfarrberufs werden vor allem empirische Daten (z.B. Entwicklung der Kirchensteuer, der Mitgliedszahlen, der »Kunden«-Zufriedenheit, der Kostenstrukturen oder der Leistungsanforderungen) als Ausgangspunkt für nötige oder genötigte Organisations- bzw. Berufsveränderungen verwendet. Dass durch handwerkliche Mängel im Umgang mit empirischen Daten eklatante Fehlinterpretationen entstehen können, hatte ich für das Papier »Kirche der Freiheit« deutlich gemacht.1 Mit der Buchreihe »Empirie und Kirchliche Praxis« fördern die Herausgeber eine empirisch-konstruktive Methode für Theologie. Zudem werden eigenständig Projekte aufgelegt bzw. initiiert und publiziert, so die hier kurz vorgestellte empirische Untersuchung zur pastoralen Arbeitszeit. Die empirischen Ergebnisse sind in einem Sammelband von mehreren Autoren untersucht und interpretiert worden.2


2. Pastorale Arbeitszeit zwischen Realität und Mär

Über pastorale Arbeitszeiten ist in den letzten Jahren trefflich berichtet oder geschrieben worden. Ein Manko fast aller Untersuchungen und Interpretationen lag dabei in der Art der Datenerhebung. Pastorale Arbeitszeitdaten entspringen häufig einer rein subjektiven Einschätzung der Berufsständler, die durch Fragebogen erhoben werden.3
Die hier vorgestellten Daten sind demgegenüber durch eine Zeiterfassung nicht durch Zeitbefragung empirisch erhoben worden. Die pastorale Arbeitszeit wurde dabei in einer 15-Minuten-Taktung Tag für Tag, Zeitblock für Zeitblock erfasst und die jeweiligen Tätigkeiten detailliert von den Pfarrpersonen dokumentiert. Die Daten stellen die erste umfassende Untersuchung evangelisch-pastoraler Arbeitszeit im deutschen Raum dar. Sie grenzt sich damit deutlich von anderen Ergebnissen zum Thema pastoraler Arbeitszeit ab.
Ein Beispiel herkömmlicher Diskussion um pastorale Arbeitszeiten bietet das Berufsleitbild der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz (EKBO) aus dem Jahr 2003/2004.4 Dort wird die Annahme vertreten, dass 54 Arbeitsstunden pro Woche für das Pfarramt durchschnittliche Regelarbeitszeit seien. Diese »magische« Zahl von 54 Stunden wird häufig auch in anderen Texten zitiert oder in Befragungen von Pfarrpersonen angegeben.5 Sie ist eine rechnerische Annahme aus der Mitte der 1980er Jahre und seither im Umlauf. Demnach werden für den Pfarrberuf 9 Stunden pro Tag angesetzt (ein Stunde mehr als die seinerzeitige 40-Stunden-Woche [5 Tage x 8 Stunden]). Zusätzlich wurde angenommen, dass eine Pfarrperson nicht 5 Tage pro Woche arbeitet, sondern 6 Tage. Sechs pastorale Arbeitstage multipliziert mit neun täglichen Arbeitsstunden ergab demnach die Zahl von 54 Wochenstunden. Seither wird diese pastorale »Wochenarbeitszeit« in Gesprächen und Veröffentlichungen kolportiert. Empirisch gesichert ist sie nicht. Die 54-Stunden-Woche ist eine Mär.
Die Zahl »54« suggeriert zudem, dass der Pfarrberuf mit tariflich festgesetzten Arbeitszeitregelungen verglichen werden könnte (oder müsste). Eine feste Zeitstruktur im Pfarrberuf, die mit klaren »Öffnungs-, Büro-, Arbeitszeiten« belegt ist, findet sich zwar in einigen Pfarrberufen wie kirchenverwalterischen Stellen (z.B. im Oberkirchenrat), spezialisierten Berufsausprägungen (wie Religionslehrer) oder Funktionsstellen (wie Beratungsarbeiten). Für die Mehrzahl der Pfarrpersonen ist jedoch eine »feste bzw. strukturierte« Arbeitszeit nur bedingt gegeben. Die Aufwendungen für pastorale Arbeit lassen sich scheinbar eher mit anderen »freiberuflichen, repräsentativen oder politischen« Tätigkeiten vergleichen. Das hohe Maß an »Selbständigkeit« und an Eigenbestimmung im Pfarrberuf fordert von der jeweiligen Person einen spezifischen Umgang mit der eigenen Arbeitszeit, um einerseits dem Eigen- bzw. Fremdanspruch gerecht zu werden und andererseits die Aufgaben bewerten bzw. bewältigen zu können.


3. Arbeitszeit als empirische Zeiterfassung

3.1 Grundlagen der Erfassung
Die empirischen Daten entstammen einer Zeiterfassung im Kirchenkreis Barmen. Im Rückgriff auf eine Arbeitszeiterhebung in der ev. Akademie Arnoldshain und in einer Stadtkirchengemeinde im Hunsrück mit fünf Pfarrstellen ist die Arbeitszeiterfassung in Barmen deutlicher strukturiert. Dazu wurde ein Arbeitsteam im Kirchenkreis gegründet, dem – neben Karl-Wilhelm Dahm und meiner Person – drei weitere Pfarrpersonen angehörten.
Der Erfassungszeitraum lag zwischen den Festtagshäufungen wie Weihnachten und Ostern; und betrug 3 Wochen (die Kalenderwochen 10-12). Es nahmen 18 Pfarrpersonen des Kirchenkreises Barmen teil, davon 13 Gemeinde- und 5 Funktionspfarrstellen. Die 18 Pfarrpersonen hatten 15 Vollstellen, eine 75%-Stelle und zwei 50%-Stellen inne. Die Erfassung der Arbeitszeit erfolgte auf einem täglichen Erfassungsbogen (Papier), der eine 15-Minuten-Taktung (grob vorstrukturiert von 7:30 Uhr bis 22:30 Uhr) enthielt. Die Tätigkeit konnte von den teilnehmenden Pfarrpersonen frei beschrieben werden. In einem Vorbereitungstreffen aller Teilnehmenden wurde darauf hingewiesen, dass bei der jeweiligen Tätigkeit möglichst eine detaillierte Beschreibung (z.B. Familiengottesdienst statt Gottesdienst) gewünscht war, um eine spätere spezifische »Vercodung« zu ermöglichen.

3.2 Verarbeitung der Daten
Die ausgefüllten Erfassungsbögen wurden detailgetreu digital erfasst und die Tätigkeiten anschließend numerisch vercodet. Dabei wurden die Beschreibungen der Teilnehmer in ein Kategoriesystem übertragen. Diese Systematik ermöglicht es, Summen zu bilden, Vergleichs­tabellen zu erstellen und verschiedene Tätigkeiten miteinander zu korrelieren. Insgesamt wurden 9 Hauptkategorien gebildet, die wiederum durch Unterkategorien ergänzt sind:
100:    Gottesdienst/Andachten (Klassische Gottesdienste, Kindergottesdienst, besondere Gottesdienste)
200:    Kasualien (Taufen, Trauung, Beerdigungen)
300:    Unterricht (Schule, KU, Taufunterricht, Konfirmanden-Freizeit)
400:    Gremien (Ausschüsse, Presbyterium, Synode, Pfarrkonvent)
500:    Gruppen/Kreise (Jugend, Erwachsenen, Senioren, Sonstige)
600:    Personal/Kollegen (Mitarbeiter, Kollegen)
700:    Verwaltung (Stellenbezogen, Kontaktmedien [E-Mail, …])
800:    Kommunikation (Besuche, Seelsorge, Gemeindebrief)
900:    Sonstiges (Freizeit, Pausen, etc.)
Bei den Unterkategorien ist auf wiederkehrende Aspekte geachtet worden, um Tätigkeiten – je nach Hauptkategorie – direkt vergleichen zu können:
X10     Allgemeines, Abstimmungen
X11     Vorbereitungszeiten
X17     Teamarbeit
X18     Einzelgespräch/Seelsorge (außer Hauptkategorien 7 bzw. 9)
X19     Fahrten und Wegezeiten


4. Ergebnisse – Überblick

4.1 Reale Erfassungsdaten
Die folgende Übersicht stellt die grundlegenden Realdaten der Arbeitszeiterfassung dar:
54 dokumentierte Wochen (3 Wochen pro Person)
378 dokumentierte Tage
4383 dokumentierte Zeitblöcke; davon ca. 30% als 15-Minutenblöcke, je 15% als 30- bzw. 45-Minutenblöcke sowie je 10% als 60- oder 90-Minutenblöcke
Kleinste Arbeitsblöcke: 15 Minuten (Vorgabe der Erfassung)
Größte zusammenhängende Arbeitsblöcke: Schulunterricht mit 7:15 Std.; Seminar mit Presbyterium mit 7:00 Std. und die Kreissynode mit 5:30 Std.
Erfasste Gesamtstunden (real): 4.194:00 Stunden (inkl. Freizeit, Urlaub etc.)
Davon »pastorale Arbeitszeit« (nicht konsolidiert): 3.136:15 Stunden
Erfasste Wochenarbeitszeit (nicht konsolidiert): 55 Stunden (Funktionsstelle) / 60 Stunden (Gemeindepfarramt)

4.2 Konsolidierte Daten
Für die Bearbeitung und die Analyse pastoraler Arbeitszeiten mussten die Realdaten »konsolidiert« bzw. »bereinigt« werden.6 D.h. Teilstellen werden auf Vollstellen hochgerechnet und »Sonderfälle« (wie Krankheit, Urlaub) vereinheitlicht.

4.2.1 Durchschnittliche pastorale Arbeitszeit von ca. 63 Stunden/Woche
Die folgende Gesamttabelle bildet die Übersicht der bisher geschilderten Vorgehensweise der Konsolidierung bzw. Bereinigung ab. Generelle Aussagen über die Gesamtarbeitszeiten von Pfarrerinnen und Pfarrern sind somit nur durch die untere Tabelle möglich. Demnach arbeiten Pfarrpersonen ca. 9 Stunden pro Tag, 7 Tage die Woche.

Tabelle 1 – Datenübersicht (real und konsolidiert)
Die durchschnittliche Wochenarbeitszeit beträgt konsolidiert 62 Stunden für Funktionsstellen und 64 Stunden für Gemeindestellen.

4.2.2 Übersicht über die Zeiten im Wochenüberblick
Die folgende Abbildung zeigt die Dokumentation der Zeiten nach Wochentagen. Diese Daten sind ungewichtet, also die Realdaten.

Abbildung 1 – Zeiten pro Wochentag
Deutlich wird, dass der Montag niemals »pastoraler Ruhetag« ist. Wenn man überhaupt von »Ruhetag« reden kann, so kommt der Sonntag in Betracht. An den drei Sonntagen des Erfassungszeitraums wurden lediglich 3:52, 5:30 oder 5:49 Arbeitsstunden dokumentiert.
An den Wochentagen liegen die durchschnittlich dokumentierten Zeiten bei ca. 10:59 Stunden (inkl. Samstage) bzw. 8:12 Stunden Arbeitszeit. An den Wochentagen (montags bis freitags) wurden durchschnittlich 12:12 Stunden insgesamt bzw. 9:08 Stunden Arbeitszeit dokumentiert.

4.3 Gemeinde-/Funktionsämter im Vergleich
Vergleicht man Gemeindepfarramt und Funktionspfarramt hinsichtlich ihrer (konsolidierten) Arbeitszeiten (ohne Kategorie 900 – Freizeit, Pausen etc.), so ergeben sich Auffälligkeiten.
Die Zeiten von Funktions- bzw. Gemeindepfarrstellen sind nach den Hauptkategorien geordnet und in Prozent als auch in Zeitangaben von der jeweiligen Gesamtzeit angegeben.

Tabelle 2 – Vergleich Arbeitszeiten: Gemeinde/Funktionsstelle (konsolidierte Daten)
Beobachtet werden können – in einer ersten Übersicht – drei Bereiche:
Mehr Arbeitszeit bei Gemeindestellen ergibt sich in folgenden Kategorien:
Gottesdienste und Andachten (2,5-fache zu Funktionsstellen)
Kasualdienste (8-fache zu Funktionsstellen)
Gruppen und Kreise (6-fache zu Funktionsstellen)
Mehr Arbeitszeit bei Funktionsstellen ergibt sich in folgenden Kategorien:
  • Kirchlicher Unterricht (2,5-fache zu Gemeindestelle)
  • Kommunikation einschl. Seelsorge (2-fache zu Gemeindestelle)
Annähernd gleiche Arbeitszeiten ergeben sich in folgenden Kategorien:
  • Gremienarbeit (12,2% Gemeindestelle / 9,76% Funktionsstelle)
  • Personal/Mitarbeiter (5,88% Gemeindeamt / 3,85% Funktionsstelle)
  • Verwaltung/Management (21,61% Gemeindestelle / 22,03% Funktionsstelle)
Beide pastorale Berufsgruppen wenden einen fast identischen Anteil an der Verwaltungs- bzw. Managementtätigkeit auf – ca. 21-22% der pastoralen Arbeit. Enthalten sind auch Verwaltungs- und Managementaufgaben außerhalb des eigenen Arbeitsbereichs wie z.B. Aufgaben für die Landeskirche, Verbandsarbeit oder spezielle Gremien wie Stiftungsvorstand.
Somit »verbringen« die Pfarrpersonen fast 1/4 ihrer Arbeitszeit mit dem »Verwalten bzw. Managen« von kirchlichen Aufgaben. Nimmt man stellenspezifische Gremienarbeit (Kategorie 400 – Presbyterium etc.) hinzu, erhöht sich der Anteil auf fast 1/3 der Arbeitszeit.

4.4 Halbe Pfarrer/in – Teildienst und Arbeitszeit
Von den 18 an der Erfassung beteiligten Pfarrpersonen waren drei im Teildienst: Eine Person war im Funktionsamt »Seelsorge« mit einer 50%-Stelle und zwei im Gemeindepfarramt mit je 50%- bzw. 75%-Stellendeputat.

Tabelle 3 – Zeiten von Teildienststellen
Aufgrund der wenigen Daten von Teildienstlern bei der Arbeitszeitstudie können lediglich einige Aspekte ausgeführt werden:
  • Auffällig ist die durchweg hohe Stundenzahl bei Teildienstlern.
  • Im Funktionsamt scheint die Stundenbegrenzung noch einigermaßen zu funktionieren. Im Gemeindepfarrdienst erweist sich dies als unmöglich.
  • Die hohe Stundenzahl verweist auf ein grundlegendes Problem: Gemeindedienst ist scheinbar schwer prozentual abgrenzbar; auch wenn die Haushaltspläne der Landeskirchen dies vornehmen. (Dies ist auch eine Erkenntnis aus dem Fusionsprozess des Kirchenkreises Barmen. Karl-Wilhelm Dahm beschreibt im Sammelband die Entwicklungen aufgrund einer Nachbetrachtung und anhand von Interviews mit Beteiligten.)
  • Trifft zudem eine Teilstelle auf einen Menschen, der den pastoralen Beruf quasi als Hirtenamt (immer und überall verantwortlich für die »Herde«) ansieht, sind Probleme vorprogrammiert.
  • 45:40 Wochenstunden oder 6,5 Stunden pro Tag (7 Tage die Woche) verweisen bei einer 50%-Stelle auf die Schwierigkeit von Eigen- oder Fremdbegrenzung.
  • Gerade im Blick auf die Arbeitszeiterfassung war es notwendig, mit den Vorgesetzten und vor allem den Kirchengemeinden zu reden, damit eine zu 50% alimentierte Stelle durch zusätzlich 50% Gotteslohn zur Vollstelle aufgestockt wird.
Teildienstaufträge, im Besonderen für Gemeindestellen, werden aufgrund der hier gewonnenen Erkenntnisse zu einer personalstrategischen Aufgabe der Landeskirchen. Inwieweit es hier zur (Selbst-)Ausbeutung der Arbeitskräfte kommt, bedarf weiterer empirischer Untersuchungen.


5 Ausgewählte Arbeitsfelder

Der Sammelband bietet eine Fülle von Auswertungen zu den einzelnen Kategorien. An dieser Stelle werden lediglich drei pastorale Arbeitsfelder dargestellt. Verwendet werden hier die Realdaten.

5.1 Gottesdienste/Andachten (Kategorie 100)

Tabelle 4 – Arbeitszeiten: Gottesdienste/Andachten
Die Kategorie 100 umfasst die Zeiten für Gottesdienste und Andachten innerhalb der erfassten drei Arbeitswochen. Insgesamt nehmen Gottesdienste und Andachten ca. 1/8 (16,77% oder ca. 10 Stunden pro Woche) der Arbeitszeiten in Anspruch. Die Vorbereitungszeit für diese gottesdienstlichen Veranstaltungen (Summe der Kategorien 112 bis 116: 99:30 Stunden) beträgt 332:45 Stunden. Eine Stunde »Verkündigung« benötigen demnach ca. 3:20 Stunden Vorbereitung.
Die folgende Tabelle macht das Verhältnis von Teamzeiten für die Gottesdienstzeiten deutlich. Nur 9,2 Minuten (9:12) werden für eine Stunde »Gottesdienst« in Vorbereitungsteams verwendet. Teamarbeit und Gottesdienst scheinen sich bei Normal-Gottesdiensten auszuschließen.

Tabelle 5 – Teamzeiten pro Gottesdienststunde
Hinsichtlich der Fahrtzeiten zum Gottesdienst oder der Andacht werden ca. 1/5 einer Gottesdienststunde aufgewendet. 12,81 (12:49) Minuten Fahrzeiten fallen pro Gottesdienststunde an. Da es sich hier beim Kirchenkreis Barmen um eine städtische Kirchenkreisstruktur handelte, dürfte dieser Wert im ländlichen Umfeld deutlich größer sein. Melanie Dango hat dazu einen Erfahrungsbeitrag (»Pastorale Arbeitszeit im ländlichen Raum Ostdeutschlands«) verfasst.

Tabelle 6 – Fahrzeiten pro Gottesdienststunde


5.2 Verwaltung/Management (Kategorie 700 ohne Spezialgebiete)
Der Bereich Verwaltung und Management der eigentlichen Stelle nimmt mit 12,37% (ca. 8 Wochenstunden) einen gleich hohen Anteil ein wie die Gremienarbeit (11,32% – ca. 7 Std. pro Woche). Kombiniert man Gremienarbeit (Kategorie 400) und Verwaltung/Management (700), machen diese beiden Bereiche fast 1/4 aller pastoralen Arbeitszeit aus. Treten spezielle Verwaltungsaufgaben (gemeint sind die Aufgaben für Landeskirche, Verbandsarbeit oder spezielle Gremien wie Stiftungsvorstand) hinzu, erhöht sich der Anteil auf fast 1/3 der Arbeitszeit. Hier ist auch sicher eine der Ursachen für die hohe Frustration im Pfarrberuf zu suchen.
Bereiche wie E-Mail/Internet scheinen sich auszuweiten und die Frage der Erreichbarkeit schlägt sich in 14 Stunden »Anrufbeantworter abhören« (0,45% – 30 Minuten pro Woche) nieder. Zudem werden 80 Minuten (2,08% der Arbeitszeit) wöchentlich nur für Verwaltung »vertelefoniert«.

Tabelle 7 – Arbeitszeiten: Verwaltung/Management

5.3 Seelsorge/Einzelgespräche (60 Minuten pro Woche)
Bei der Auswertung und der Besprechung mit den Pfarrpersonen war ein Thema absolut konträr: die Seelsorgezeiten. Nach Ansicht vieler waren die ausgewiesenen 4,02% (oder 2:30 Wochenstunden für Funktions- und Gemeindepfarramt) viel zu gering; obgleich die Daten lediglich die von den Teilnehmenden dokumentierten Zeiten enthielten. Deshalb wurde ein »Kommunikationscluster« gebildet, um auf eine »akzeptable« Quantität (9,37% oder ca. 5,8 Wochenstunden) zu kommen.

Tabelle 8 – Seelsorge, Gespräch, Besuche
Splittet man demgegenüber aber die Kategorien »Seelsorge, Einzelgespräche« (X-18 ohne 718; Tab. 9) auf, wird deutlich, dass hier auch Gespräche enthalten sind, die »eigentlich« nicht ursächlich zur Seelsorge gerechnet werden können. Zudem waren zwei Funktionsstellen mit einem Spezialauftrag in der Krankenhausseelsorge bzw. der Paarberatung angesiedelt. Würde man diese beiden Stellen aus den Gemeindepfarrstellen herausrechnen, käme man auf annähernd 60 Minuten »Seelsorge« pro Woche.
Insgesamt wurden 135 Zeitblöcke mit insgesamt 126 Stunden in diesem Bereich dokumentiert, was durchschnittlich ca. 56 Minuten pro Gespräch entspricht. Die kleinsten Zeiteinheiten sind 15 Minuten für »Seelsorgegespräch – telefonisch«. Die längste Einheit, ein »Paarberatungsgespräch«, betrug 3 Stunden. Aufgeschlüsselt ergibt sich für die bezifferten Kategorien folgendes Bild:

Tabelle 9 – Kategorien: Seelsorge, Einzelgespräche – Details
Seelsorge ist – durchschnittlich gesehen – hinsichtlich der pastoralen Arbeitszeit eine marginale und geringe Belastung. Die Frage ist drängend, was die Beteiligten als Seelsorgegespräch erfasst und gedeutet haben.
In einem ausführlichen Beitrag im Sammelband7, in dem auch alle aktuellen Seelsorgekonzeptionen vorgestellt und deren Praxisgehalt dargelegt werden, komme ich zu dem Schluss, dass Seelsorge als pastoraler Interaktionsraum erfasst und vor Ort je und je neu bewertet bzw. gestaltet werden muss.
Die Heterogenität von dem, was wir heute unter Seelsorge »verstehen«, erweist sich im Pfarrberuf als höchst problematisch. Die empirischen Befunde zur Seelsorge verweisen auf ein differentes Bild – trotz oder gerade wegen der Heterogenität der Seelsorgelandschaft. Somit erscheint ein kategorialer und inhaltlicher Neuanfang für das, was man zukünftig als Seelsorge fassen kann, sinnvoll. In dem Buchaufsatz lege ich eine neue zweigeteilte Definition von »protestantischer Seelsorge« vor:
  • M.E. ist es einerseits erforderlich, von protestantisch bedingter Seelsorge als (Selbst-)Vergewisserung der Gnadenzusage in Eigen-, Priester- und Gemeindeseelsorge zu reden, die als geschwisterliche Seelsorge unter Christen in Gebet, priesterlichem Gespräch und Abendmahl praktiziert wird. Ziel bedingter Seelsorge: Christen sprechen sich innergemeindlich Gnade und Gewissheit zu.
  • Andererseits muss von einer ethisch un-bedingten Seelsorge gesprochen werden, die – in Konkurrenz zu (psycho-)therapeutischen Ansätzen – als eine ethische Aufgabe in der Welt zu verstehen ist. Sie wird zur Seelsorge, die von Christen für Menschen in der Welt ausgeübt wird. Sie kann un-mittelbar, un-spezifisch, un-klar, un-protestantisch erfolgen. Unbedingte Seelsorge bedarf keiner Glaubensvoraussetzung beim »Beseelsorgten«. Somit kann protestantisch un-bedingte Seelsorge in ihrer un-bestimmten Form letztlich alle therapeutischen, psychologischen oder sozialen Hilfsmethoden für Lebensgestaltung an- und wahrnehmen. Ziel der un-bedingten Seelsorge ist die Wahrnehmung eines innerweltlichen Gestaltungsauftrags, den Christen als eine (unter vielen) Aufgaben in der Welt ausüben. Er hat keine besondere »kirchenorganisatorische« Priorität.
Auch an diesem – hier kurz vorgestelltem Beispiel der Seelsorge – wird der eingangs geschilderte Ablösungsprozess deutlich. Die empirischen Befunde weisen größtenteils in gänzlich andere Richtungen als die bisherigen hermeneutischen Interpretationen.


6. Abschließende Betrachtung

Die empirische Studie zur pastoralen Arbeitszeit hat eine Fülle von Fragen aufgeworfen, die nicht (mehr) durch gängige theologische Theoriemodelle begründet oder legitimiert werden können. Wie schon aus anderen empirischen Studien ergeben sich im 21. Jh. grundlegend neue Anfragen an bisherige Denk- und Gestaltungsmodelle pastoraler Arbeit.
Zunächst liegen nun mit der Untersuchung reliable Daten hinsichtlich der pastoralen Arbeitszeit vor. Die durch die Arbeitszeiterfassung gewonnenen Erkenntnisse geben ein uneinheitliches Bild von dem, was pastorale Arbeit ist oder pastorale Arbeit zu leisten hat. Sie ermöglichen es in einem zweiten Schritt, die individuellen Besonderheiten der jeweiligen Pfarrperson präziser zu beschreiben und das eigene Arbeitsverhalten und das eigene Verhältnis zur Arbeit praxisnäher sowie hilfreicher zu bestimmen. Bei der Studie wurden auch individuelle Auswertungen für Einzelpersonen durchgeführt. Sie förderten ein interessantes Ergebnis zu Tage: Hat die Pfarrperson ein »Hobby«, das sich in ritualisierten Zeithorizonten abspielt (wie »morgendliches Gassi-Gehen mit Hund«, »wöchentlicher Posaunenchor«, »tägliche Mittagstischzeit« oder »regelmäßiger Sport«), so war eine homogenere Zeitgestaltung auch der pastoralen Arbeit sichtbar.
Matthias Welsch, der im Sammelband seine eigene empirische Arbeitszeiterfassung darstellt und mit den Daten von Barmen vergleicht, resümiert8: »Mit dem Instrument der Zeitmessung habe ich gelernt, dass im Pfarramt ein gutes Zeitmanagement unerlässlich ist. Seither ist das in meiner Arbeit immer selbstverständlicher geworden. Die Vorzüge moderner Kalenderprogramme auf dem Computer haben diese Arbeit erheblich vereinfacht. Daraus folgt:
  • Das konsequente Führen einer ›To-do‹-Liste, in der die Aufgaben nach Prioritäten und Erledigungszeitpunkt sortiert sind.
  • Im Kalender werden auch private Termine konsequent eingetragen. Am Anfang habe ich auch Pausenzeiten bewusst mit im Kalender markiert und die freien Tage genauso konsequent für andere Termine blockiert, auch die Bestatter konnten und mussten sich darauf einstellen!
  • Zeitweise habe ich auch die Vorbereitungszeiten für Gottesdienste und Unterricht und andere Arbeiten in den Kalender eingetragen, zumindest solange bis diese Messung beim Blick in den Kalender automatisch passierte und ich sofort einschätzen konnte, ob überhaupt ein zusätzlicher Termin möglich ist.«
Erst die empirische (Selbst-)Analyse ermöglicht es, die vielfältigen eigenen als auch fremden Anforderungen, Wünsche und Erwartungen an die pastorale Arbeit präziser sowie zeitbewusster in den Blick zu nehmen. Erst empirische Messungen innerhalb der Theologie(n), der Kirchen und der Pfarrberufe werden zukünftig befähigen, die veränderte (Pfarrberufs-)Wirklichkeit angemessen wahrzunehmen. Hermeneutische Interpretationen innerhalb der Theologie, die keine empirischen Daten vorauslaufend erheben, müssen demnach zu gänzlich willkürlichen Deutungen kommen; wie beispielsweise das Professionsmodell für den Pfarrberuf deutlich gemacht hat.9 Denn die ehemals eindeutigen Begriffe und Vorstellungen der Theologie haben sich in einer »digital-vernetzten« Epoche zu Fallen vergreister Denk- und Interpretationsmodelle entwickelt.
Kirchen oder Pfarrpersonen, die die neuen Wirklichkeitsbezüge nicht vorauslaufend empirisch erfassen und sich durch die »Daten« neu anregen lassen, werden letztlich an ihren eigenen Illusionen zugrunde gehen, wie auch das EKD-Papier »Kirche der Freiheit« als Negativbeispiel trefflich gezeigt hat.


Anmerkungen:

1    Dieter Becker: Die Kirche ist kein Supertanker, zeitzeichen 12/2006, 12-14.
2    Der Sammelband, der auch die detaillierten Daten sowie deren Analysen enthält, ist 2009 als Band 5 (von bisher 9 Bänden der Reihe »EuKP«) erschienen: Dieter Becker / Karl-Wilhelm Dahm / Friederike Erichsen-Wendt (Hg.), Arbeitszeiten im heutigen Pfarrberuf – Empirische Ergebnisse und Analysen zur Gestaltung pastoraler Arbeit, Frankfurt 2009 (352 S., ISBN 978-3-936985-06-1). Für Leser des deutschen Pfarrerblatts vergünstigt für 29,50 € (inkl. Versand gegen Rechnung) statt 35,80 € bei Bestellung direkt beim Verlag bzw. Autor erhältlich: [email protected]; Tel. 069-979910-11, Fax: 069-979910-25. Das Inhaltsverzeichnis kann unter www.aim-verlagshaus.de/Arbeitszeit-Inhalt.pdf als Download eingesehen werden.
3    Ein exemplarischer, unvollständiger Überblick: Wolfgang Marhold, Religion als Beruf (Band 1+2), Stuttgart 1977. Dieter Becker / Richard Dautermann: Berufszufriedenheit im heutigen Pfarrberuf, Frankfurt 2005 (exemplarisch für die drei großen Pfarr-Befragungen in den Landeskirchen Hessen-Nassau 2001, Kurhessen-Waldeck 2002/2003 und Hannover 2004). Ausnahme: Günter Bormann / Sigrid Bormann-Heischkeil, Theorie und Praxis kirchlicher Organisation, Opladen 1971, 130ff. Bormanns bieten eine empirische Erhebung von »13 Zeitplänen, in denen die Arbeitszeit der Pfarrer in Gemeinden von unterschiedlicher Struktur und Kirchlichkeit festgehalten sind.« (131)
4    Pfarrerin und Pfarrer als Beruf – Ein Leitbild für die Evangelische Kirche in Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz (2004). Dort ist in der Anlage 1 zu lesen: »Als Richtwerte können für die wöchentliche Arbeitszeit einer Pfarrerin oder eines Pfarrers angenommen werden: Vollstelle = 54 Stunden, 80 Prozent Beschäftigung = 43,2 Wochenstunden, Teilzeit mit 50 Prozent = 27 Wochenstunden usw.«.
5    Vgl. Alexandra Eimterbäumer: Pfarrer/innen: Außen- und Innenansichten, in: Jan Hermelink / Thorsten Latzel (Hg.), Kirche empirisch – Ein Werkbuch, Gütersloh 2008, S. 375-394; bes. 384ff. Eimterbäumer verwendet in ihrem Artikel u.a. die hier vorgestellten Daten aus Barmen.
6    Die hier vorgenommene rechnerisch-lineare Konsolidierung der Teilstellen zu Vollstellen wurde von Cornelius-Bundschuh im Sammelband kritisiert. Durch diese rechnerische Konsolidierung würden die Teilstellen überbetont. Das Team hatte sich ausführlich mit den verschiedenen Arten der Konsolidierung ausein­ander gesetzt (1. Realzeit lediglich von Vollstellen-Inhabern berechnen bzw. Begrenzung bei Teilzeitstellen, 2. Deckelung für Teildienststellen im Gemeindepfarramt oder 3. Löschung des jeweils höchsten und niedrigsten Wertes). Diese Arten der Konsolidierung schienen nicht angemessen, die Sachlage des Pfarrberufs zu berücksichtigen. So wäre beispielsweise bei der Berücksichtigung lediglich der 100%-Gemeindestellen auch eine Stelle mit (lediglich) 114 Stunden »Arbeitszeit« in drei Wochen oder durchschnittlich 38 Stunden Wochenarbeitszeit eingeflossen, die durch 10 Krankheitsheitstage bedingt war. Dies hätte die durchschnittliche Wochenarbeitszeit einseitig absenkt. Die Konsolidierung wurde nach reiflicher Überlegung durch lineare Angleichung der Teildienststellen auf 100% vorgenommen; vgl. auch Abschnitt 4.4.
7    Dieter Becker: Protestantische Seelsorge als pastoraler Interaktionsraum – Annäherung an eine diffuse pastorale Größe, in: Becker/Dahm/Erichsen-Wendt, a.a.O., 157-237.
8    Matthias Welsch, Pastorale Arbeitszeit – eine Selbsterfahrung, in: Becker/Dahm/Erichsen-Wendt, a.a.O., 241-267.
9    Zur Kritik am pastoralen Professionsmodell, wie dies federführend von Isolde Karle propagiert wurde, s. meine Ausführungen in DPfBl 10/2008, 524-531.

Über die Autorin / den Autor:

Pfarrer Dr. Dieter Becker, Jahrgang 1963, Pfarrer der EKHN und freier Strategieberater für Wirtschaftsunternehmen, Promotion an der Evang.-Theol. Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster mit einer Arbeit über kirchliche Personalplanung für den Pfarrberuf.

Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 2/2010

Kommentieren Sie diesen Artikel
Pflichtfelder sind mit * markiert.
Ihre E-Mail Adresse wird nicht veröffentlicht.
Spamschutz: dieses Feld bitte nicht ausfüllen.