Dass sich die Volkskirche in der Krise befände, ist eine viel zitierte und auch viel beschworene Behauptung. Dass sich gegen diesen Befund ekklesiologische Reform-Impulse aus dem Neuen Testament, insbesondere aus dem matthäischen Gemeindeverständnis, aufbieten lassen, vertritt Ulrich Luz mit Nachdruck. Seine exegetischen Betrachtungen führen ihn direkt zu einer Kritik des EKD-Papiers »Kirche der Freiheit«.


I Volkskirche im Wellental

Die Volkskirche bröckelt, obwohl die Reli­gion boomt.2 Unsere Pfarrerinnen und Pfarrer in der Schweiz geben sich eine unglaubli­che Mühe im Konfirmandenunterricht, aber ihren Konfirmand/innen können sie keine Identifikation mit der Kirche mehr vermitteln; im Normalfall sehen sie sie zwischen Konfirmation und Hochzeit nie mehr im Gottesdienst. Warum sollte man sich mit der Kirche identifizie­ren: Für die Kirche zahlt man Steuern – dafür bezieht man bestimmte Service­leistungen, vor allem die religiöse Grundversorgung mit Ritualen. Die Kirche ist in diesem Sinn ein Versorgungsbetrieb. Die Mehrzahl der Jahr für Jahr spärlicher wer­denden Gottes­dienstbesucherinnen und Gottesdienstbe­sucher sind bei uns grau- oder weißhaarig und besuchen den Gottesdienst aus Tra­dition. Es wird immer schwieriger, Kirchgemeinde­räte zu finden.
Alles das ist nicht ge­rade eine Er­mutigung für die Pfarrerinnen und Pfarrer. Manche, vor allem Ältere, sind müde geworden und tun eben ihre Pflicht: Sie versor­gen die Ge­meinde mit Ritualen. Von den Kirchenleitungen kriegen sie wenig Hilfe. Es gibt zwar viel mehr Papier als früher. Auf dem vielen Pa­pier steht oft, dass man leider noch mehr sparen müsse und trotzdem guten Mutes sein solle. Man solle sich vermehrt auf das Kerngeschäft der Kirche kon­zen­trieren, heißt es. Aber was das Kerngeschäft ist, bleibt vage.
In der Öffentlichkeit hat die Kirche bei uns eine nicht gerade eine gute Presse. Das Image des Konservativen und des ewig Gestrigen klebt an ihr, obwohl das für unsere protestantischen Kirchen in der Schweiz gewiss nicht zutrifft. Doch das negative Image des Katholizismus färbt ab, und der Protestantismus wird oft gar nicht mehr als eigene Größe wahrge­nommen.
Von der Ökumene will ich gar nicht erst reden. Vor fünfundvier­zig Jahren keimte die Hoffnung auf einen ökumenischen Aufbruch. Die eine, allgemeine christliche Kirche war eine reale Utopie. Im geteilten Europa waren Kirchen so etwas wie Brücken und Vorhuten der Einheit. Heute ist es umgekehrt. Das eine Europa wird mehr und mehr Realität, aber die Kirchen sind bestenfalls eine Nachhut der Ein­heit. Von der einen, allgemeinen christlichen Kirche wagt niemand mehr zu träumen; man ist damit beschäftigt, wenigstens an der Basis soviel ökumenisches Leben wie es eben heute noch möglich ist, zu erhalten.
45 Jahre Säkularisierung. 25 Jahre ökumenischer Frost. Viel hat sich geändert. Ich will hier kein objektives Bild von der Lage der Kirche heute geben. In jedem Land Europas ist es anders, und auch in Bezug auf die Schweiz würden manche sagen: Das ist ja nur Deine Sicht!
Im Folgenden werde ich vorwiegend mit matthäischen Texten arbeiten. Ich versuche, von der matthäischen Sicht der Kirche in drei Schritten zu sprechen. Der erste Schritt handelt vom Einsatz für die Kirche.


II Das Gottesreich als Chance für Entschlossene (Mt. 13,44)

Mein erster Text ist das Gleichnis vom Schatz im Acker (Mt. 13,44). Im Vergleich mit dem, was uns evangelischen Christinnen und Christen vertraut ist, zeigt Matthäus eine ganz merkwürdige Umkehr der Prioritäten. Die Geschichte vom Schatz im Acker existierte in der Antike in zahllosen Varianten. Horaz kennt unsere Geschichte: Ein armer Lohn­arbeiter findet bei der Arbeit in einem Acker einen Schatz, kauft sich den Acker aus dem gefundenen Geld und wird glücklich und reich (Sat 3,6,20ff). Apollonius von Tyana, der Philosoph und Wundertäter, kauft mit hell­seherischem Blick für einen frommen Mann mit vier heiratsfähigen Töchtern einen Acker, in dem ein Schatz liegt (Philostr. Vit Ap 6,39). In einem jüdischen Gleichnis findet ein armer Kleinbauer einen Schatz im eigenen Acker – es ist der Lohn für seine Wohltätigkeit (DtnR 4,8). In einer anderen jüdischen Erzählung verkauft ein fauler Erbe den verunkrauteten elterlichen Acker um eine Kleinigkeit; der Käufer findet dann im Acker einen Schatz (PesK 11,7u. ö.). Die römischen Rechtsgelehrten disku­tieren die Geschichte als Modellfall für einen Rechtsstreit: Wem gehört beim Kauf eines Ackers der Schatz: Dem Käufer oder dem Verkäufer? Kurz: Jesus hat mit dieser Ge­schichte eine wohl allen seinen Hörern bekannte »fabula« aufge­nommen.
Matthäus überliefert nur eine Kurzfassung
der jesuanischen Geschichte, nur das bloße Erzählgerippe. Jesus wird sie ausführlicher und spannender erzählt ha­ben. Aber die Pointe, die sie bei Jesus bekam, kommt in der matthäischen Kurzfas­sung gut heraus. Der Titelsatz lautet: »Das Himmelreich gleicht ei­nem im Acker verborgenen Schatz.« Nun wissen schon alle, welche Ge­schichte kommen wird. Sie ist bekannt und vertraut. Die Hörer sind gespannt, welche Personen in der Ge­-schichte auftreten wer­den. Im matthäi­schen Erzählgerippe heißt es nur: »Ein Mann fand ihn.« Erst hinterher erfahren wir, dass der Acker nicht ihm selbst gehörte. Vor allem ist auffällig, dass unsere Geschichte keine Exposition hat. Sie fällt gleich mit der Tür ins Haus. Ein Mann findet den Schatz. Das Entdecken des Schatzes ist also nicht die Lösung eines Problems, nicht das Ende-gut-Alles-gut einer Notlage. Es ist auch nicht der Lohn für langjähriges fleißiges und schlecht bezahltes Hacken oder für Mildtätigkeit. John Crossan hat ein schönes Buch über diese Ge­schichte geschrieben mit dem Titel »Finding is the First Act« (1979). Damit hat er getroffen, was an Jesu Fassung der Geschichte beson­ders ist.
Viele, vor allem pro­testantische Ausleger haben immer das Evangelium in den Mittelpunkt gestellt, wenn sie über diesen Schatz sprachen. Luther spricht vom ver­borgenen Schatz des Evangeliums, Christus, dem Schatz der evangelischen Kirche, die nicht wie die katholische die Herrlichkeiten und die Mittel der Welt besitze (WA 38, 568). Andere Ausleger deuten den Schatz des Evangeli­ums inhaltlich, z. B. Johannes Brenz auf die Sündenvergebung, Zinzen­dorf auf den gnadenvollen Martertod Jesu, Leonhard Ragaz auf das Wunder Gottes. Für sie alle war auf Seiten des Menschen die uner­messliche Freude über den ganz unverdientermaßen geschenkten Schatz das Entscheidende.
Auch für uns heute würde das sehr schön passen: Unsere Kirche ist zwar im Wellental und wird von der Gesell­schaft immer weniger beachtet, aber ihr ist der Schatz des Evangeliums geschenkt! Daran soll sie sich freuen. Das ist gewiss wichtig und gut, und ich würde das meiner Kirche auch sagen, wenn sie in eine Depression über ihren Niedergang verfällt. Doch die Gleichniserzählung im Matthä­us­evangelium setzt den Akzent anders: Das Finden des Schatzes ist nur »the first act«, der Anfang des Eigentlichen, das erst nachher erzählt wird. Auch die Freude über den Schatz wird nur en passant erwähnt. Allein wichtig ist, was der Mann jetzt tut. Er hat verschiedene Optionen. Aus diesen hat der Erzähler weder die Moralischste noch die Unmoralischste gewählt. Der Erzähler Jesus wählt eine mittlere Variante: Der Finder deckt den Schatz wieder zu, verkauft alles, was er hat und kauft den Acker. Darauf kommt es der Geschichte an: auf den Einsatz des Mannes. Er ist ent­schlossen und gibt alles für diesen Acker.
Ich blicke wieder auf einige typische Aus­legungen: Vor allem alt­kirchliche und später katholische Ausleger haben gemerkt, dass im Verhalten des Mannes die Pointe der Ge-schichte liegt. Gregor der Grosse meinte, man solle auf fleischliches Lustempfinden verzichten und an nichts Gefallen finden, was dem Fleisch schmeichelt (Hom 11), Baro­nius, ein italienischer Kommentator des 16. Jahrhunderts empfiehlt, Christen sollten nicht Müßiggänger (otiatores), sondern Praktikanten (negotiatores) des Evangeliums werden. Radi­kaler formuliert es Johannes Chrysostomus und die von ihm ab­hängige Tradition: Sie wissen, dass es um den Besitzverzicht geht (Hom 47,1). In der Tat: Die Formulierung »verkauft alles, was er hat« erinnert an Nachfolgeworte wie Jesu Gebot an den reichen Mann in Mt. 19,21. Es ist da­bei unwichtig, wie viel der Acker kostet und wer ihn sich leisten kann. Es gilt für alle dasselbe: Alles verkaufen was man hat. Das ist der Einsatz. Das ist die Pointe dieser Parabel.
Man darf das nicht zu schnell spiritualisieren und auf diese Weise aufweichen. Nicht nur das Lukasevangelium hämmert dieses »alles verkaufen, was man hat«, das zur Jesusnachfolge gehört, ein, sondern auch Matthäus: Es gibt sehr viele matthäische Texte, die zeigen, dass die Besitz-Frage die wich­tigste Frage war, vor die Jesus seine Nachfolgerinnen und Nachfolger stellte (vgl. 6,19-34; 10,8f; 13,22; 16,24f; 19,16-30). Erst dann, wenn man die Forderung des Besitzverzichtes in seiner gan­zen Härte gehört hat, darf man ausweiten und sagen, dass zum Gewin­nen des Schatzes des Gottesreichs auch noch andere Dinge gehören als Verzicht auf Besitz. Aber Verzicht auf Besitz ist die Kernfrage des Evan­geliums.
Was heißt das alles für die Kirche? Matthäus tröstet sie nicht mit dem Evangelium, indem er sagt, dass der Schatz des Evangeliums auch ganz unabhängig vom Einsatz der Kirche glänze, und auch unabhängig davon, wie viel die Gesellschaft davon wahrnimmt und wie viel Respekt sie der Kirche zollt. Er sagt vielmehr, dass das Evangelium eine Chance ist für den, der dafür alles einsetzt. Genau ge-nommen spricht er gar nicht von der Kirche, sondern von jedem einzelnen Menschen, der diese Chance wahrnehmen soll. Auch dies hat mit seinem Verständnis von Kirche zu tun: Kirche ist für Matthäus nicht ein sicherer Hafen, in den sich der einzelne flüchten kann; sie ist nicht ein Heilsrefugium mitten in der bösen Welt. Das zeigen schon das unserer Geschichte vorausgehende Gleichnis vom Unkraut und seine Deutung: Der Acker, wo Weizen und Unkraut durcheinander wachsen, ist die Welt und nicht die Kirche. Ein Sonderterritorium »Kirche« in diesem Acker, wo beim Endgericht das Un­kraut vielleicht glimpflicher davonkäme, gibt es nicht. Kirche sind vielmehr diejenigen in der Welt, die im Endgericht nicht zum Unkraut gehören. Hier ist es ebenso: Reich Gottes als sanftes Ruhekissen gibt es für niemanden. Kirche sein heißt vielmehr: Alles einsetzen für den Schatz des Gottesreichs.


III Die Gestalt der Kirche nach Mt. 10

Ich will zunächst ganz allgemein darlegen, wie Matthäus die Kirche sieht. Seine Vision ist nicht die des Leibes Christi, weder auf der Ebene der Einzelgemeinde wie bei Paulus, noch auf der Ebene der Gesamtkir­che wie im Epheserbrief. Seine Sicht ist also nicht die des corpus mysti­cum Christi. Katholiken identifizieren dieses ja mit der sichtbaren katholischen Kirche; Protestanten neigen eher dazu, das corpus mysticum Christi mit der unsichtbaren Kirche zu identifizieren, die in Wort und Sakrament weltlich sichtbar wird. Die Sicht des Matthäus ist auch nicht die des einen Volkes Gottes, das Gott zunächst aus Israel gerufen hat und das er sich jetzt aus allen Völkern der Erde ruft, wie wir sie im Neuen Testament auch wieder bei Paulus oder ganz ähnlich bei Lukas finden. Und schließlich ist seine Meinung auch nicht, dass die Kirche eine bestimmte Verfassung haben müsse, um Kirche zu sein, etwa eine Ältestenverfassung oder eine bischöfliche. Das ist die Meinung der Pastoralbriefe – aber noch nicht in dem Sinn, dass es iure Divino so sein müsse – und dann etwas später die Meinung des Ignatius von Antio­chien, der in der hierarchischen Struktur der Einzelgemeinde (nicht der Gesamtkirche!) die Entsprechung zur himmlischen Welt, zu Gott, den Aposteln und Christus sieht (Magn. 6,1).
Matthäus versteht die Kirche als Gegenmodell zur Welt: »So wie bei den Herrschern der Welt soll es bei euch nicht sein, sondern wer unter euch groß sein will, soll euer Diener sein« (20,26; vgl. 23,11). So soll es sein, weil allein dies Jesus entspricht, der in die Welt gekommen ist um zu dienen, nicht um be­dient zu werden (20,28). Das matthäische Kirchenverständnis ist extrem geschwisterlich. Die Kirche ist die Familie Jesu (12,46-50); die Jünger sind nach Mt. 28,10 Jesu Brüder.
Das wichtigste ekklesiologische Grundmodell des Matthäusevangeliums ist das der Nachfolge. Kirche sein heißt: Jesu Jünger sein und tun, was er gesagt hat. Kirche sein heißt: Schüler Jesu sein, hören, was er lehrt und dann entsprechende Früchte bringen (Mt. 7,15-27). Dem entspricht, dass wir nirgendwo etwas über eine Kirchenleitung hören, weder von Aposteln, noch von Lehrern, noch von christlichen Rabbinen, noch von anderen Vaterfiguren wie Ältesten oder Bischöfen. Wo nur ein einziger Va­ter ist, nämlich Gott, kann es keine irdischen Väter geben, und wo nur einer Lehrer ist, nämlich Christus, weder Professoren noch Rabbinen (23,8-10).
Die beiden wichtigsten ekklesiologischen Texte im Matthäusevan­gelium sind die sog. Aussendungsrede (Kap. 10) und die sog. Gemeinderede (Kap. 18). Beide sind ekklesio­logische Manifeste. Ich wende mich zunächst Mt. 10 zu. Hier geht es um die Gestalt der Kirche. Es ist ein harter Text. Seine Auslegungsgeschichte ist voller Versuche, ihn zu erleichtern und umzudeuten, z. B. durch allegori­sche Interpretation, oder seinen Geltungsbereich einzuschränken, z. B. auf die Mönche im Sinn eines Evangelischen Rats. Für die spätmittelal­terliche Kirche war dieser Text schwierig, weil er ein Kern­ext für radikale Franziskaner, Waldenser und Katharer war. Für die Reformatoren war er schwierig, weil die Täufer und andere sog. Schwärmer ihn – wie die Bergpredigt – wörtlich verstanden – mit vollem Recht übrigens. In der Neuzeit sehr verbreitet ist der Versuch, die Reichweite der Aussen­dungsrede auf die Zeit Jesu zu beschränken und den Text historisch zu lesen und dadurch außer Kraft zu setzen. Es heißt dann etwa: Bereits die nachösterlichen Apostel hätten ja das Gebot Jesu nicht wörtlich ge­halten. Paulus habe natürlich Schuhe getragen, für seine Reisen das Schiff benutzt und für seine Zeltmacherarbeiten Geld verlangt. Und Paulus stand bekanntlich am Anfang einer Entwicklung, die weit über ihn hinausging und schließlich beim Pfarrhaus, dem Auto und einem mindestens ordentlichen Ge­halt endete.
In der Tat hat sich viel geändert seit der Aussendungsrede: An die Stelle der Wanderradikalen sind die Festangestellten getreten, an die Stelle von Jesu Vollmacht, Kranke zu heilen und Dämonen auszutreiben das erste und das zweite Examen und die nachfolgende Ordination, an die Stelle der Verkündigung des nahen Gottesreichs und des nahen Gerichts trat die der Rechtfertigung allein aus Glauben. Es hat sich wirklich viel geändert und es spricht Ernsthaftes dafür, diese Rede für nicht mehr zeitgemäß zu halten, vor allem aus der Perspektive unserer großen Volkskirchen.
Aber als Exeget muss ich betonen, dass diese Rede für Matt­häus, mit der einzigen Ausnahme von V. 5f, Grundsätzliches und nicht Zeitbedingtes sagen wollte. Alle großen Re­-den des Matthäusevangeliums sind, wie man heute sagen würde, zum Fenster der vergangenen Geschichte Jesu herausgesprochen und richten sich di­rekt an die ge­genwärtigen Leser/innen des Evangeliums. Bei der Aussen­dungsrede zeigt sich das besonders deutlich daran, dass – anders als bei Lukas und bei Markus – die Jünger gar nie ausgesandt wurden. Die Rede endet vielmehr: »Als Jesus seine zwölf Jünger fertig unter­wiesen hatte, ging er von dort weg« (11,1). Gewiss ist sie in allen drei Evangelien in einigen Einzelheiten aktualisiert worden, d. h. Jesu Befehle wurden an die Situation der Gegenwart angepasst. Das heißt dann aber auch: So, wie sie im Evangelium standen, waren sie für die Hörerinnen des Matthäusevangeliums gültig. Vor allem aber war die Rede in ihren Grundpfeilern ein gültiges ekklesiologisches Manifest.
Was sind diese Grundpfeiler? Fast genau in der Mitte der Rede stehen zwei Verse, die auch ihr inhaltliches Zentrum bilden: »Kein Jünger ist mehr als der Meister und kein Knecht mehr als sein Herr. Es ist genug für einen Jünger, wie sein Meister zu werden …« (Mt. 10,24f). Entscheidend für die Kirche ist ihre Christusförmigkeit. Die Jünger sollen so sein wie ihr Lehrer und Meister Christus, nicht mehr, aber auch nicht weniger. »Christusförmigkeit« bedeutet dabei nicht irgend­eine Form von Mystik, sondern sie bedeutet, die Vollmacht, den Auftrag, die Lebensform und das Schicksal des irdischen Jesus teilen.
Genau dies entfaltet die Rede: Sie spricht zu Beginn von der Vollmacht Jesu über Dämonen und Krankheiten, an der die Jünger partizipieren (10,1). Später wird sich zeigen, dass dies die Vollmacht dessen ist, dem alle Gewalt im Himmel und auf der Erde gegeben ist (28,18). Sie teilen seinen Auftrag: Auch sie sollen das Gottesreich verkünden, Kranke heilen, Tote auferwecken und Dämonen austreiben in Israel (10,5-8) und später im Namen des Auferstandenen auch zu den Heiden gehen. In der Bergpredigt und in Kap. 8-9 hatte Matthäus dies von Je­sus berichtet. Die Jünger sollen seine Lebensform teilen. Dazu gehört vor allem die Armut der Nachfolger und ihre Wehrlosigkeit nach dem Modell der Bergpredigt (10,9f.16) und natürlich die Mission unterwegs. Und sie werden Jesu Schicksal teilen: Verfolgungen und Auslieferung an synagogale und politische Instanzen, Spaltungen in der Familie, Hass und Martyrium (10,17-23.37-39). Nachfolge ist nach Mt. 10 Kreu­zesnachfolge, Nachfolge bis zum Martyrium.
Identität der Vollmacht, des Auftrags, der Lebensweise und des Schicksals mit Christus – das sind für Matthäus die »Merkmale«, an denen man Kirche erkennt. Während die katholische Kirche die Voll­macht Jesu wesentlich als eine sakramentale versteht, die im Priester­amt repräsentiert wird, spricht Matthäus von der Vollmacht zu Hei­lun­gen, Exorzismen und zur Verkündigung, die allen Nachfolgern und Nachfolgerinnen gegeben ist. Während mystische Traditionen dazu
nei­gen, die Christusförmigkeit der wahren Gläubigen in Erfahrungen der Verbindung oder Vereinigung mit ihm zu sehen, spricht Matthäus von der Christusförmigkeit in ihrem Verhalten und ihrem Schicksal. Während die reformatorische Tradition in Wort und Sakrament die no­tae ecclesiae sieht, spricht Matthäus von Vollmacht, Auftrag, Lebens­form und Schicksal als Kennzeichen der Kirche. Das ist höchst bedeu­tungsvoll: Wenn man so wie Matthäus von Kirche spricht, kann man zwischen Lehre und Praxis nicht trennen. Es gibt für Matthäus keine »reine Lehre«, wenn sie nicht gelebt und erlitten wird. Ebensowenig kann man zwischen Verkündigung und Gestalt der Kirche trennen. Die Nagelprobe des Evangeliums, das die Kirche verkündet, ist für Matthäus nicht die dogmatische Korrektheit ihrer Verkündigung, son­dern, um es zuzuspitzen, ihr Budget. Wie war es beim Schatz im Acker? Das, was Matthäus interessierte, war, was der Mann im Gleichnis tut: Er verkauft alles, was er hat. Mt. 10 schil­dert, was das für die Kirche bedeutet.
Am Schluss der Rede bündelt Matthäus nochmals ihr Zentrum: »Wer euch aufnimmt, nimmt mich auf, und wer mich aufnimmt, nimmt den auf, der mich gesandt hat« (10,40). Die Jünger repräsentieren also Christus, und dieser ist nach dem Matthäusevangelium der »Immanuel«, die Gegenwart des lebendigen Gottes. Dass sie Repräsentanten Christi und Gottes sind, wird erkennbar an ihrem Auftrag, ihrer Lebens­weise und ihrem Schicksal.
Ist das in unseren Kirchen auch erkennbar? Ich meine nicht, dass wir heute einfach alles wörtlich befolgen könnten, was in diesem Kapitel steht. Ich meine aber auf der anderen Seite, dass es Grenzen der Verwässerung der Christusförmigkeit gibt, jenseits derer Christus nur noch wie durch ein Milchglas hindurch erkennbar wird, oder vielleicht überhaupt nicht mehr. Ich denke auch, dass Christus im allgemeinen durch das dicke Milchglas von solchen Volkskirchen, welche aufgrund ihrer Kirchensteuereinkünfte die Verpflichtung haben, die Gesellschaft mit Riten zu versorgen, weniger gut sichtbar wird als durch das Milch­glas von Freikirchen, welche wenigstens eine Form der Kirchen­-mit­gliedschaft kennen, die auf persönlicher Identifizierung beruht. Inwie­weit sind un­-sere Volkskirchen Institutionen, welche der matthäische Je­sus heute als »meine Kirche« wiedererkennen würde? Ohne an der Stelle Jesu ein Urteil zu fällen: Dann, wenn sie sich nicht um Jesusförmigkeit ihrer eigenen Ge-stalt bemühen und sich nicht in diese Richtung bewusst bewegen, sondern einfach ihre traditio­nell etablierten gesellschaftlichen Po­-sitionen verteidigen, sind sie es wahrscheinlich nicht.
Die Kirche ist für Matthäus nur das, was sie tut und leidet. Sie hat kein Wesen abgesehen von ihrer Praxis und ihrer konkreten Ge­stalt. Sie hat allerdings eine Verheißung. In Mt. 10 ist das nicht Thema, sondern gleichsam nebenbei mitgesetzt. Aber sie ist da. Am Anfang von Mt. 10 war es die Vollmacht, notabene: die bis tief ins Körperliche hineinreichende Vollmacht zu Krankenheilungen und Dämonenaustreibungen. Durch die ganze Rede hindurch ist es die Zu­sage, dass Gott selbst die Jünger begleitet, sodass ohne seinen Willen kein Haar von ihrem Haupte fallen kann. Am Ende der Rede ist es die Zusage, dass die Jesusjünger in der Praxis und im Leiden der Nachfolge Christus und durch ihn Gott selbst repräsentieren. Das ist eine ganz un­geheure Verheißung, denn sie schließt ein, dass Christus und Gott selbst konkret durch die Kirche erfahrbar wird. Aber sie ist daran gebun­den, dass die Kirche tut, was Jesus sagt.


IV Die Gemeinschaft der Kirche nach Mt. 18

Auch die zweite der beiden kleinen unter den fünf großen matthäischen Reden, Mt. 18, ist ein grundsätzliches ekkesiologisches Manifest. Normalerweise wird sie in den Kommen­ta­ren mit »Gemeinde­rede« überschrieben, ältere Kommentare sprechen oft von »Ge­meinde­ordnung« oder Kirchenordnung. Ich möchte lieber von einer »Gemeinschafts­rede« sprechen. Kirche Jesu Christi ist für Matthäus eine Gemeinschaft. Was sind die grundlegenden Merkmale dieser Gemeinschaft nach Mt. 18? Zwei Merkmale hebe ich hervor, welche zugleich dem Hauptakzent des ersten und des zweiten Teils der Rede entspre­chen.
Das erste Merkmal ist die Orientierung nach unten. Niedrig wer­den wie ein Kind – damit beginnt die Rede (18,1-5). Was heißt das? Der Text sagt es nicht – der Leser soll daran arbeiten. Erst später im Evange­lium wird Jesus von Herrschaftsverzicht und Verzicht auf Selbst­darstellung sprechen (20,26-28; 23,8-12). Das dann dominierende Stichwort ist das der »Kleinen«. Einem »dieser Kleinen, die an mich glauben« einen Anstoß geben, ist die schlimmste Sünde die es gibt (18,6). Im zweiten Schlüsselvers dieses Abschnittes, V. 10, heißt es: »Verachtet keinen einzigen dieser Kleinen!«
Wer sind die Kleinen? Die Vorschläge der Ausleger sind zahlreich: die Verachteten in der Gemeinde, die Unbe­kannten, die Ungebildeten, die Neugetauften, die einfachen Leute, die Laien, die Jungen, die Nicht-Theologen, die Frauen, oder – wie Johannes Chrysostomus in einer Predigt an die haute volée von Konstantinopel sagt – »ein Schmied, ein Schuster, ein Bauer, ein Tölpel«? (Hom 59,4). Der Text definiert es nicht. Seine Offenheit ist ein Teil seiner Strategie. Er lädt ein, die Kleinen zuallererst zu entdec­ken, Das ist der erste Schritt dazu, sie ernst zu nehmen. Und wer ist an­geredet? Vielleicht die »Großen« in der Gemeinde? Wiederum nennt der Text keine direkten Adressaten, weder Schriftgelehrte, noch Prophe­ten, noch Älteste, die es vielleicht alle in der matthäischen Gemeinde gegeben hat. Der Text nimmt Amtsträger so wenig wichtig, dass er sie nicht einmal eigens er-wähnt. Nur als Teil der Gesamtgemeinde, als Jünger, betrachtet er sie. Dem entspricht das Kirchenzuchtverfahren nach V. 15-17: Es wird nicht etwa von oben eingeleitet, sondern von un­ten: »Wenn dein Bruder gegen dich gesündigt hat, so gehe …« (V. 15). Die oberste Instanz ist die Ver­sammlung der Lokalgemeinde. Nirgendwo wird einer erwähnt, der sie leitet.
Das zweite Merkmal ist das grenzenlose Verzeihen. Der zweite Teil der Rede setzt mit Jesu Wort vom 77-maligen (oder 490-maligen) Verzeihen ein. Aber schon im ersten Teil war dies entscheidend wichtig, denn – wie die Geschichte vom verlorenen Schaf zeigt – es ist nicht der Wille des himmlischen Vaters, dass ein einziger dieser Kleinen ver­loren gehe (18,14). Wie verhält sich dazu das Kirchenzuchtverfahren von V. 15-17, das ja vermutlich in der matthäischen Gemeinde prakti­ziert wurde? Steht es nicht im Widerspruch dazu? Ich denke: letztlich nein, denn nur dort, wo das Böse als Böses offen benannt wird, kann Verzeihung bedeutungsvoll werden. Dort, wo es ohnehin egal ist, was man tut, weil die Freiheit des Individuums grenzenlos ist, wird auch Verzeihung sinnlos. In der matthäischen Gemeinde wird das Böse offen benannt. Was ist es? Man bleibt wohl an der Oberfläche, wenn man darüber rätselt, was sich hinter dem »Fuß« oder der »Hand« oder dem »Auge«, die nach den Bildworten von V. 8f zur Sünde verführen, verbergen könnte. Matthäus sagt offen, wo für ihn die tiefste Sünde liegt: »Wer einem dieser Kleinen einen Anstoß gibt«, und: »Wer einen die­ser Kleinen verachtet« (V. 6.10). Auch im Kirchenzuchtverfahren geht es nicht um Sünde im allgemeinen, sondern es heißt nach dem wahr­scheinlichsten Text: »wenn einer gegen dich sündigt …«. Die tiefste Sünde ist also die Lieblosigkeit, die Zerstörung der Gemeinschaft. Lieb­losigkeit aber muss benannt werden, denn Verzeihen ist nicht dasselbe wie Übersehen.
Auch in dieser Rede spricht also der matthäische Jesus von der Kirche so, dass er von ihrer Praxis spricht. Aber auch in dieser Rede gibt es eine Verheißung. Sie steckt in ihrem Zentrum, in denjenigen Versen, die ihre eigentliche Mitte darstellen: »Wenn zwei oder drei unter auch auf der Erde einig sein werden über jede beliebige Sache, um die sie bitten, wird es ihnen geschehen von meinem Vater in den Himmeln. Denn wo zwei oder drei auf meinen Namen hin versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen!« (V. 19f). Dabei führt V. 19 den vorangegangenen Vers weiter. Jesus stellt das Binden und das Lösen unter die Verheißung und zugleich unter den Vorbehalt des Gebets. Und dann segnet er das gemeinsame Gebet von Gläubigen in V. 20 durch die unbedingte Zusage seiner eigenen Gegenwart.
Zweierlei ist hier wichtig: 1. Matthäus hat die Zahl von zweien oder dreien bewusst gewählt. Es ist die minimale Zahl von Menschen, die sich einig werden und eine Gemeinschaft
bilden können. Demjenigen, der allein für sich betet und meditiert, dem religiösen Individuum also, ist die Ge­genwart Jesu nicht verheißen. Das Thomasevangelium stellt also unser Logion auf den Kopf, wenn es sagt: »Wo einer ein einzelner ist – ich bin mit ihm« (Log 30 = POx 1 recto). Nach oben bleibt der Text da­gegen offen. Es wird weder gesagt, dass die zwei oder drei natürlich mit der Gesamtkirche oder mit der ganzen Gemeinde übereinstimmen müssen und ja kein separatistisches Konventikel bilden dürfen. Noch wird gesagt, dass das Gebet des Bischofs und der Gesamtkirche noch viel besser sei als das Gebet von bloß zweien oder dreien (so bei Igna­tius, Eph. 5,2). Da auch seine eigene »Gemeinde« sicher mehr Mitglieder umfasst hat also nur zwei oder drei, hätte Matthäus beispielsweise leicht sagen können: »Wo die ekklesia in meinem Namen versammelt ist«, aber er sagt das nicht. »Zwei oder drei« heißt: eine winzige Ge­meinschaft im Namen Jesu. Sie empfängt eine ganz unglaubliche Verheißung. »Auf meinem Namen hin« lässt natürlich an Gottesdienst und Gebet denken – aber Matthäus formuliert nicht exklusiv. Die Verheißung gilt nicht erst dann, wenn ein ordentlicher Gottesdienst ge­feiert wird, möglichst mit Eucharistie. Unser Wort »Gottesdienst« ist für die matthäische Gemeinde ohnehin ein Anachronismus. Es gibt also viele Orte, wo sich die Ge­genwart Jesu in einer auf seinen Namen hin versammelten winzigen oder größeren Gemeinschaft ereignet. Sie müssen nicht mit einer offi­ziellen Versammlung der Gesamtgemeinde identisch sein. Ich bezeichne diese Orte einmal als »lieux d‘église«, mit einem französischen Aus­druck, der m.W. in Taizé oder Grandchamps geprägt worden ist.3
2. »Ich bin mitten unter ihnen«. Hier klingt für die Leser des Matthäusevangeliums etwas sehr Bekanntes an, nämlich das Immanuel-Motiv. Jesus ist nach Mt. 1,22f der »Immanuel«, die Verkörperung der Gegenwart
Gottes in der Gemeinde. Mit dieser Imma­nuel-Zu­sage beginnt Matthäus sein Evangelium und mit ihr beendet er es auch (28,20). Wir stoßen hier auf den christologischen Grundton des Matthäusevange­li­ums. Die Gegenwart Jesu ist nichts anderes als die Ge-genwart des biblischen Gottes selbst. Sie ist verheißen, wo eine win­zige Gemeinschaft von Menschen, die sich nach unten orientiert und die Ver­gebung auf ihre Fahne geschrieben hat, auf Jesu Namen hin zusam­men­kommt. Tertul­lian aktualisiert für seine Zeit ganz richtig, was Matthäus mit den »Klei­nen« meinte: »Aber wo zwei oder drei sind, da ist eine Ge­meinde, auch wenn es nur Laien sind« (Cast. 7,3). Am schönsten fasst aber das kurze frühmittelalterliche Lied zusammen, was die matthäi­sche Ver­heißung meint: »Ubi caritas, Deus ibi est« (EKG 651). Matthä­ische und johannei­sche Theologie reichen sich hier die Hände.


V Das Matthäusevangelium – Vision für eine Kirche im Wel­lental?

Die matthäische Vision von Kirche und gewiss auch die Realität der matthäischen Kirche ist anders als diejenige unserer heutigen Kirchen, vor allem anders als diejenigen unserer Volks-kirchen im Wellental. Und trotz­dem denke ich, dass seine Botschaft für unsere Kirchen sehr wichtig ist. Ich will wenigstens zwei Perspektiven andeuten, in welche Richtung ich die Ak­tualität der matthäischen Ekklesiologie für uns heute sehe, speziell für uns in den großen westeuropäischen Volkskirchen.
1. Unsere Kirchen sind gekennzeichnet durch ein Übergewicht von Lehre und Bekenntnis, die anscheinend viel wichtiger sind als ihre Pra­xis, ihre Gestalt, und ihre Gemeinschaft. Das ist ein unseliges Erbstück der Reformatoren, die auf die Unversehrtheit des Wortes und des Sa­kraments allein geachtet haben und die konkrete Gestalt der Kirche zur Sache des Rates der Städte bzw. des Landesfürsten machten. Als ob die sichtbare Gestalt der Kirche und ihre Praxis unerheblich wäre! Prote­stanten reden viel zu schnell von der unsichtbaren Kirche, wenn sie von der wahren Kirche sprechen. Wahre Kirche ist aber nie unsichtbare Kir­che, sondern sie immer sichtbar. Unsere eigene Resignation an unseren Kirchen hat viel damit zu tun, dass die Jesusförmigkeit an unserer sichtbaren Kirche nicht mehr erkennbar ist. Kirche verkörpert sichtbar den Auftrag, die Praxis und das Schicksal Jesu oder sie ist wahrschein­lich keine Kirche.
2. Unsere Kirchen haben eine unheilvolle Neigung, sich selbst als Kir­chen und andere nur als Gemeinschaften, als Gruppen, als Konventikel, als Sekte oder als Abspaltung zu sehen. Katholiken haben diese Neigung gegenüber uns Protestanten. Unsere protestantischen Kirchen haben die­selbe Neigung gegenüber Freikirchen, charismatischen Kir­chen, Ju­gendkirchen. Man kann alle diejenigen, die in irgendeiner Weise nur sich selber als Kirche definieren und die volle Gegen­wart Jesu lediglich für »die« Kirche gelten lassen, nur bitten, der Verheißung Jesu nicht im Wege zu stehen.
Abschließend möchte ich im Blick auf das Impulspapier des Rates der EKD »Kirche der Freiheit« anmerken, was mir von Matthäus her daran auffiel.
I. Der Kern des theologischen Bauchwehs, das mir das »Leuchtfeuer-Pa­pier« trotz viel Einverständnis an einzelnen Punkten bereitet, liegt beim Verständnis der sichtbaren Kirche. Nach Confessio Augustana VII genügen »als sichtbare äußere Kennzeichen« der Kirche »die Verkündigung des Evangeliums und die Feier der Sakramente« (33). In der Geschichte hat dies uns Protestanten immer wieder dazu geführt, die äußere Gestalt unserer sichtbaren Kirchen für etwas Unwichtiges, für das Evangelium nicht Relevantes zu halten. Darum konnte sie so leicht an die jeweils herrschenden Gesellschaftsformen und Trends angepasst werden. Man konnte sie monarchisch organisie­ren mit dem Landesherrn als oberstem Bischof, oder städtisch-aristo­kratisch mit einem Konsistorium als Leitung, oder parlamentarisch-de­mokratisch, wie in der liberalen Schweiz seit dem 19. Jh. Das »Leuchtfeuer-Papier« mutet uns nun zu, »vom wirtschaftlichen Denken zu lernen« (42) und stellt uns die Vision einer Kirche vor, die weithin einem großen Wirtschaftsbetrieb gleicht: Sie ist von oben nach unten organisiert, mit zentraler Finanzplanung, Zielvorgaben und Controlling für die Angestellten bis hin zum gemeinsamen, eine corporate identity bezeugenden sichtbaren Logo. Ist das ein Akt der Freiheit oder wieder einmal eine Anpassung an den herrschenden Zeitgeist, die im Protestan­tismus so leicht möglich ist, weil die äußere Gestalt der Kirche im Grunde genommen beliebig ist?
Aber vom Neuen Testament her ist die sichtbare Gestalt der Kirche gerade nicht beliebig. Bewirkt die Formulierung in CA VII das, so ist sie m. E. extrem unneutestamentlich. Für Paulus etwa ist die Gemeinschaft das entscheidende Kennzeichen der sichtbaren Kirche. Darum war für ihn Kirche sehr konkret die Versammlung der Christinnen und Christen an einem Ort und der »Leib Christi« wurde im Aufbau einer Ortsge­meinde konkret. Für Johannes ist geschwisterliche Liebe die einzige »nota ecclesiae«, für Lukas waren die Erfahrungen des Geistes und die ökumenische Einheit die wichtigsten. Für Matthäus gilt der Grundsatz der Jesusförmigkeit der Kirche (Mt. 10,24f; 20,26). Dass die beiden reformatorischen notae, die sich allein auf das bezie­hen, was in der Kirche um des Heils willen sichtbar sein muss, keine erschöpfende Beschreibung der sichtbaren Kirche darstellen, war wohl schon unseren reformatorischen Vätern klar. Darum haben sie denn auch die Liste der »Kennzeichen der Kirche« immer wieder erwei­tert (z. B. Luther um das Leiden in der Verfolgung und Calvin um die »disciplina«). Mein Fazit: Hier herrscht fundamentaltheologischer Dis­kussionsbedarf. Und in dieser Diskussion soll man nicht primär von der Wirtschaft lernen, denn die Kirche ist kein Wirtschaftsbetrieb, genau so wenig wie z. B. die Schule oder die Universität. Man soll eher von der Bibel zu lernen versuchen und von den Erfahrungen anderer Kirchen, die heute oft so erfolgreichen Freikirchen und Jugendkirchen einge­schlossen. Und meine These: Die sichtbare Kirche muss auch in ihrer Gestalt etwas von der Liebe und der Alternativität des Evangeliums ab­bilden und erfahrbar machen können, auch wenn dies nur gebrochen möglich ist – sonst ist ihre Verkündigung nicht glaubwürdig.
II. Nach diesem theologischen Kernpunkt möchte ich von einigen »Kennzeichen« der sichtbaren Kirche bei Matthäus her ein paar kriti­sche Gegenüberstellungen zum »Leuchtfeuer-Papier« versuchen.
1. Gemeinschaft ist ein, wenn nicht das Grundmerkmal der sichtbaren Kirche (Mt. 18!). Gemeinschaft kann in Ortsgemeinden, Schicksalsge­meinden, auf Kirchentagen, in Profilgemeinden etc. erfahren werden (54f). Aber Gemeinsamkeit kann nicht voll erfahren werden, wo man nicht körperlich beisammen ist, einander konkret vergibt und leibhaftig das Herrenmahl feiert. Es ist also ein grundsätzlicher Unterschied zwi­schen all diesen Gemeinden und »Mediengemeinden« wie »Fernsehge­meinden« oder »Internetgemeinden« (56.99). Sie sind nicht Gemeinden, sondern Vorstufen zu Gemeinden, etwa den Kirchenglocken vergleich­bar, die zur Ge-meinde einladen, oder den Vorhöfen in antiken Kirchen. Daraus ergibt sich auch ein grundsätzlicher Vorrang von Gemeinden, die konkret zusammenkommen, vor überregionalen Metaebenen wie Kirchenkreisen oder der EKD. Letztere können nur dienenden Charak­ter haben und zu Instrumenten werden, die zu konkreter Gemeinschaft führen.
2. Freiwilligkeit geht vor Quantität. Es ist sehr gut, dass das »Leucht­feuer-Papier« die missionarische Dimension der Kirche betont. Aber mit welchen Zielsetzungen: »50% aller Mitglieder« sollen regelmäßig kirchli­che Kernangebote beziehen, »Trauquote von 100%« bei Mitgliedern etc. (52)? Bei Matthäus heißt es: »Wo zwei oder drei in meinem Namen …« Die Kirche sollte lernen, sich über alle Orte zu freuen, wo Kirche stattfindet, auch wenn sie sich »neben« der EKD befinden, z. B. über Hauskreise (die in dem Papier m. E. nie erwähnt werden!), Jesus-people und Jugendkirchen etc. Die Kirche sollte lernen, sich zu freuen über junge Menschen, die zwar Mitglieder der Kirche sind, sich aber (noch) nicht kirchlich trauen lassen, weil sie den Ver­pflichtungscharak­ter einer Trauung ernst nehmen.
3. Laienkirche. Für Matthäus ist Kirche die Gemeinschaft der Nachfol­gerinnen und Nachfolger Jesu. Passiv-Nachfolge gibt es nicht. Das ganze Neue Testament kennt keine »heiligen« und feststehenden Ämterordnungen, im Unterschied zum »Leuchtfeuer-Papier«, wo die Professionalität aller kirchlichen Aktivitäten das höchste aller Ziele zu sein scheint. Gewiss braucht es in heutigen Kirchen »Profis« (z. B. Theo­loginnnen und Theologen), aber in erster Linie dazu, um Laien mündig und sprachfähig zu machen. Im »Leuchtfeuer-Papier« kommen Laien immer noch in erster Linie als Konsument/innen kirchlich-professionel­ler »Kernaktivitäten« vor (obwohl zu meiner Freude die Bedeutung der »Freiwlligen« stärker betont wird als früher). Mit Recht legt das Papier großes Gewicht auf Ausbildung und Fortbildung, aber bitte in allerer­ster Linie von Laien! In Kirchengebieten, wo bis zu 20 Predigtstellen auf eine/n Pfarrer/in kommen, ist das
m. E. die dringendste Aufgabe der verbleibenden Pfarrer/innen. Und warum bleibt die Struktur der Amtskirche völlig undiskutiert? Warum redet man nicht über Teilzeitstellen, »Barfußpfarrämter« oder kirchliche Aufgaben für Theolog/innen, die ihren Brotkorb nicht bei der Kirche haben? Und dies in einer Kirche, die in den letzten Jahrzehnten Hunderte und Tausende von ausgebildeten jungen Theologinnen und Theologen auf der Straße stehen ließ, ob­wohl sie bereit und fähig waren, für die Kirche zu arbeiten, nur weil sie nicht genügend Hundertprozentstellen mit »attraktiven« Gehältern zur Verfügung stellen konnte! Das ist für mich – schonend gesagt – ein Aus­druck unglaublicher Phantasielosigkeit.
4. Armut der Kirche. Für Matthäus ist Armut ein Merkmal der Kirche. Für die Reformatoren galt der Grundsatz, dass ein Prediger vom Evange­lium leben können solle, aber nur das. Später wurde es etwas anders, als die Pfarrer zugleich Vertreter der Obrigkeit in den Dörfern wurden. Daraus ist dann der Grundsatz geworden, dass Pfarrerlöhne denen »vergleichbarer akademischer Berufe« entsprechen sollten (72). Dieser Grundsatz ist im EKD-Papier (fast!) unbestritten. »Besondere Lei­stungen auch finanziell zu würdigen, sollte nicht generell ausgeschlos­sen werden« (73). Der Managerbonus leuchtet vorsichtig in die Armut der Kirche hinein!
5. Orientierung nach unten ist ein Grundmerkmal der sichtbaren Kirche nach Matthäus. Wir haben in der Schweiz in der Schule (und in der Uni­versität) eine Phase hinter uns, wo die obersten Bildungsfunktionäre »von der Wirtschaft gelernt« haben und die Bildungslandschaft entspre­chend von oben nach unten umfunktionierten. Das Ergebnis ist im ganzen negativ: frustrierte, frühpensionierte Lehrerinnen und Lehrer en masse, eine flutartiges Anschwellen bürokratischer Leerläufe, eine Hier­archisierung der Schulen, verbunden mit Entmündigung der Leh­rer/innen durch vorgesetzte Bürokraten, die zu weit von der Basis ent­fernt und zu überlastet sind, um wirklich Entscheidungen kompetent treffen zu können. »Unter euch soll es nicht so sein. Wer unter euch der groß sein will, sei euer Diener« (Mt. 20,26). Ich wünsche mir und der EKD, dass in einer »christusförmigen« Kirche die Entscheidungen nicht oben diskutiert und dann von oben nach unten durchgezogen werden, sondern dass man der Diskussion Zeit lässt, sodass sie ganz unten an der Basis stattfinden kann. Dann können möglichst viele Entscheidun­gen unten gefällt werden, wo man ihre Tragweite am besten erkennt.


Anmerkungen:

1    Gekürzte Fassung eines Vortrags vor der europäischen Pfarrkonferenz in Torre Pellice, 18. Juni 2007.
2    Vergleiche ich die Verhältnisse bei uns in der Schweiz mit Umfrageergebnissen in Deutschland, so habe ich den Eindruck, dass die Säkularisierung bei uns weiter vorangeschritten ist als in Deutschland, obschon die Zahl der Kirchenaustritte viel kleiner ist. Von einer durchschnittlichen Gottesdienstbeteiligung von 4%, den das EKD-Impulspapier »Kirche der Freiheit« für auf Dauer unerträglich ansieht, können die meisten Pfarrerinnen und Pfarrer in der Schweiz nur träumen!
3    Blickt man zurück auf die Spaltungs-Geschichte der protestantischen Kirchen, so wird aber auch deutlich, woran Matthäus nicht gedacht haben kann: Es lag ihm ferne, Kirchenspaltungen zu legitimieren, als ob man sich einfach von der Kirche abspalten könne und dann immer noch Jesu Verheißung, »mitten unter ihnen« zu sein, besäße!

Über die Autorin / den Autor:

Prof. Dr. Ulrich Luz, Jahrgang 1938, Studium der Evangelischen Theologie in Zürich, Göttingen und Basel, 1968–1969 Pfarrer in Zürich Seebach, 1972–1980 Prof. für Neues Testament an der Universität Göttingen, 1980–2003 Prof. für Neues Testament an der Universität Bern. Vierbändiger Kommentar zum Matthäusevangelium in EKK, Neukirchen-Zürich/Düsseldorf (abgeschlossen 2002); Die Jesusgeschichte des Matthäus, Neukirchen 1993.

Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 9/2007

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