Die im EKD-Impulspapier »Kirche der Freiheit« unterbreiteten Reformvorschläge zielen im Ergebnis auf eine »andere Kirche«. Das Papier weist den Weg fort von der Gemeindekirche, die auf der Ortsgemeinde aufbaut, hin zu einem Konzept, das Kirche von der Gesamtstruktur her und damit von oben nach unten denkt. Dadurch wird die Ortsgemeinde, die bisher Trägerin sämtlicher kirchlichen Dienste und Funktionen war, im Ergebnis zu einer Funktion der Gesamtkirche herabgestuft. Die Reformvorschläge sind allerdings teilweise nicht ausreichend reflektiert sowie störungsanfällig, wie im Folgenden gezeigt werden soll. Dem im Impulspapier vorgelegten Entwurf wird deshalb im Anschluss an das kritische Resümee die Zielvorstellung einer Gemeindekirche entgegengestellt.


Wie das EKD-Impulspapier die Ortsgemeinde sieht

Das EKD-Impulspapier »Kirche der Freiheit« empfiehlt den Gliedkirchen der EKD in der Zeit der Krise einen radikalen Kurswechsel: »Die evangelische Kirche muss Gewachsenes loslassen, etablierte Strukturen zurückbilden, vertraute Arbeitsfelder umstellen und manche sinnvolle Arbeitsform ganz aufgeben.« (24) Unter dem Strich zielt dieser Kurswechsel auf einen Abschied von den Ortsgemeinden, die im Impulspapier insgesamt eher negativ beurteilt werden.
Die Bedeutung der Ortsgemeinde klassischer Prägung wird zunächst (scheinbar) bestätigt: »Die evangelische Kirche besteht aus Menschen, die sich um Verkündigung und Sakrament sammeln; deshalb hat die Gemeinde am Ort eine hohe Bedeutung.« (36, vgl. auch S. 54) In der Gemeinde »liegt der Zielpunkt aller anderen Verantwortlichkeiten, denn auf dieser Handlungsebene wird der kirchliche Kernauftrag erfüllt und die geistliche Grundversorgung geleistet. Die Gemeinden in der Vielfalt ihrer Formen sind die Orte gelebten Glaubens und der Erfahrungsraum von Zugehörigkeit und Vertrautheit.« (36)1
Wo es dann aber um die parochiale Struktur im Besonderen und um die konkreten Entscheidungen geht, ist die Wahrnehmung einseitig negativ gefärbt. Das Impulspapier belegt die Parochie wiederholt und dann gebündelt im Abschnitt III (Leuchtfeuer 2 und 3) mit einer niederdrückenden Zahl negativer Attribute: auf einen engeren Gemeindehorizont bezogene Betreuungskultur (37), vereinsmäßige Ausrichtung (37), Milieuverengung (37), fehlende missionarische Öffnung (54), ungutes Kirchturmdenken (38, 50, 60), schlechte Qualitätsstandards (50). Auch die pfarramtliche Versorgung im Rahmen der Parochie wird negativ beurteilt. Prinzipiell wird die wichtige Rolle des Pfarramtes unterstrichen (14, 18). Wo es jedoch um die konkrete Beschreibung der Situation des Pfarramtes geht, begegnen ausschließlich Negativattribute. Als offenbar weit verbreitete Phänomene nennt das Papier: mangelnde Professionalität (»häufig«), mangelnde geistliche Zuwendung (51), unaufmerksam durchgeführte Trauerfeiern, fehlende Bereitschaft auf persönliche Situationen und Erwartungen einzugehen, »schroffe Reaktionen«, mangelnde Identifikation mit der Gesamtkirche (50), überzogene Autonomievorstellungen (50), Separation, Vereinzelung (50), mangelnde Qualität.
Leider lassen die Verfasser des Papiers nicht erkennen, worin die empirische Basis für dieses in der Summe so negative Urteil über die Parochie und die pfarramtliche Tätigkeit besteht. Folgende Rückfragen müssen daher gestellt werden: Wo sind die Belege für die genannten Defizite? Wie weit sind diese tatsächlich verbreitet? Was kann über die Qualität der parochialen Gemeindearbeit und der pfarramtlichen Versorgung tatsächlich ausgesagt werden, wenn doch das Impulspapier selbst zugibt: »Über die Qualität der kirchlichen Arbeit – insbesondere des Pfarrdienstes – ist insgesamt zu wenig bekannt«? (27)
Gerade vor dem Hintergrund der zuletzt zitierten Feststellung wirken manche Beobachtungen in »Kirche der Freiheit« lediglich wie die Wiederholung verbreiteter Klischees gegenüber Pfarramt und Gemeinde. Wer wollte bestreiten, dass es die genannten Missstände tatsächlich gibt? Es kommt aber alles darauf an, wie weit sie verbreitet sind und ob sie tatsächlich die Ursache für die kirchliche Krise sind.
Bedauerlicherweise fehlt eine Ursachenanalyse für die sicher faktisch vorhandenen Defizite im Rahmen der Parochie. Als Hauptgründe wären zu nennen:
1. Die zunehmende Größe der Versorgungseinheiten, die eine professionelle Dienstleistung erschwert. Die parochialen Dienste (z. B. Besuche) können keine Gemeinde aufbauende Wirkung mehr erreichen, weil die Betreuungseinheiten viel zu groß sind. Das Impulspapier will die Einheiten stattdessen sogar noch vergrößern!
2. Die Überlastung mit behördenkirchlichen Verwaltungsaufgaben. Pfarrerinnen und Pfarrer kommen viel zu wenig zur Ausführung ihrer eigentlichen Aufgaben: Verkündigung und Unterweisung, Seelsorge etc.
Anstatt die strukturellen Bedingungen, welche die Arbeit auf der Ebene der Parochie zunehmend erschweren, zu analysieren und zu verändern, werden die Defizite in »Kirche der Freiheit« individualisiert sowie auf die angeblich mangelnde Qualität der Versorgung und auf falsche Einstellungen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zurückgeführt. Nicht mehr passende Strukturen können aber nicht durch den Appell an einen »Mentalitätswandel« der Mitarbeitenden korrigiert werden.


Die »neue Kirche« in der Vision des Impulspapiers

Aus seinem negativen Urteil über die Ortsgemeinden leitet das Impulspapier weit reichende Folgerungen ab, die in der Tendenz auf eine grundlegend andere Form von Kirche zielen, als sie bis heute in den Kirchenordnungen der meisten Gliedkirchen der EKD verankert ist. Dabei wird nur an wenigen Stellen eine Neuausrichtung der Parochie gefordert. »Die Parochialgemeinde hat als bleibende Grundform evangelischer Gemeinden erhebliche Wachstumsmöglichkeiten im Blick auf neue Zielgruppen und veränderte Erwartungen. Dazu müssen Ortsgemeinden allerdings eine bewusste Wendung nach außen vollziehen, ihre Arbeit missionarisch ausrichten und auf anspruchsvollem Niveau gestalten.« (54f)
Die Parochie hat für die Verfasser des Papiers offenbar nur unter der Bedingung ihrer vollständigen Veränderung eine Zukunft. An dieser Stelle bleiben die zahlreichen Initiativen auf ortsgemeindlicher Ebene ungewürdigt. Die Parochie wird beurteilt, als ob es die Wendung nach außen, die missionarische Orientierung und Bemühungen um Qualität nicht jetzt schon an vielen Orten gäbe!
Die Verfasser haben die zahlreichen Initiativen durchaus registriert. Sie haben auch den nach wie vor sehr guten Ruf des Pfarrerberufs bemerkt (24). Sie verlangen aber eine weitere »Qualitätsoffensive«. Dagegen ist festzustellen, dass in vielen Gemeinden die Qualität der pfarramtlichen Tätigkeit unter den gegebenen Umständen einfach nicht mehr signifikant zu steigern ist und trotzdem der parochiale Abwärtstrend nicht gestoppt werden konnte, weil die strukturellen Rahmen­bedingungen der Parochie nicht mehr stimmen. Das EKD-Impulspapier geht jedoch von der Illusion perfekter Dienstleistungen und vollständig zufriedener Kunden aus, die es freilich bei keiner Dienstleistung gibt.
Da eine Ursachenanalyse der Defizite der Parochie ausbleibt, fehlen auch Vorschläge zur Verbesserung der parochialen Arbeit oder zur Änderung der Rahmenbedingungen der Ortsgemeinden. Die Lösung der Probleme erwartet das Papier stattdessen von der Stärkung der übergemeindlichen, netzwerkartigen Formen kirchlicher Arbeit. Daher soll der Anteil der Ortsgemeinden von jetzt 80 % auf 50 % verringert werden (57). Die Steuerung in die Richtung dieser Zielvorgabe soll durch eine veränderte personelle und finanzielle Ressourcenzuteilung zugunsten der Profilgemeinden und netzwerkorientierten Angeboten verändert werden (56f).
Damit die Vorschläge mit dem traditionell gemeindekirchlichen Aufbau der evangelischen Kirche vermittelbar sind, definiert KdF völlig neu, was Gemeinde ist. Dabei werden auch Dienste der Kirche, die bisher als Funktionen der Gemeinde angesehen wurden, selbst zu »Gemeinde« umdefiniert: Nach dieser Neudefinition umfasst »Gemeinde« »alle Orte, an denen sich Menschen um das Evangelium versammeln. Auch die vielfältigen, oft locker strukturierten Formen kirchlichen Wirkens gehören dazu. Zielgruppenarbeit, gemeindeüberschreitende Verbände und Gemeinschaften, punktuelle Verbindungen zur Kirche in Schulen, Krankenhäusern oder Akademien, der Deutsche Evangelische Kirchentag, die ›Fernsehgottesdienstgemeinde‹, die ›Kirchenmusikgemeinde‹, viele Felder der Diakonie und viele Anknüpfungspunkte zur Gemeinschaftsbildung im Zusammenhang der funktionalen Dienste sind in diesem Sinne Gemeinde.« (36)
Liest man »Kirche der Freiheit«, so gewinnt man den Eindruck, dass die Verfasser den Glauben an die Zukunftsfähigkeit der Ortsgemeinde fast vollständig verloren haben, dafür aber von einem blinden Vertrauen gegenüber den übergemeindlichen Formen erfüllt sind! Hier liegt unverhohlen die ganze Begeisterung. Während die Parochie mit Negativattributen überhäuft wird, werden die übergemeindlichen Angebote in den strahlendsten Farben ausgemalt: »ausstrahlungsstarke Begegnungsorte«, »kirchliche Orte mit großer Ausstrahlungskraft«, »geistliche Zentren, in denen der christliche Glaube in seiner evangelischen Gestalt beispielhaft erfahren werden kann«; »Orte der Barmherzigkeit und der Integration«, an welchen Kirche als »Kirche für andere« sichtbar wird (60). Bezeichnenderweise begegnen solche euphorischen Beschreibungen nirgends im Zusammenhang mit den Ortsgemeinden.
Erstaunlicherweise wird die Parochie jedoch keinesfalls aufgegeben. Vielmehr wird am parochialen Flächenprinzip grundsätzlich in vollem Umfang festgehalten. Da die personellen Ressourcen aber auf die übergemeindlichen Funktionen verlagert werden sollen, entdeckt »Kirche der Freiheit« an dieser Stelle das Priestertum aller Gläubigen: »Wo Ortsgemeinden von ihrer Größe her nicht mit einem eigenständigen Status aufrechterhalten werden können, entstehen Standorte christlichen Lebens mit Gottesdienstkernen, die auch dann lebendig sind, wenn ›zwei oder drei in Jesu Namen‹ versammelt sind (vgl. Matthäus 18,20). Auch in den vielen Dorfkirchen zahlenmäßig kleiner werdender Dörfer sucht die evangelische Kirche Christen dafür zu gewinnen, dass sie geistliches Leben in den Kirchenräumen aufrecht erhalten. So wird auch die evangelische Kirche selbst am Ort erkennbar präsent bleiben.« (55; Leuchtfeuer 4, 67ff).
Es mag verwundern, dass die von den Verfassern so negativ gesehene Parochie nicht vollständig aufgegeben wird. Der Grund dafür liegt jedoch in der Verfasstheit der Volks­kirche, denn Volkskirche stützt sich auf das Parochialprinzip: prinzipiell »angeborene« Mitgliedschaft; Fortschreibung der Mitgliedschaft durch die Einwohnermeldeämter, staatskirchliche Bindung der Kirchensteuer an das Parochialsystem etc.


Kritische Rückfragen an die Verfasser von »Kirche der Freiheit«

Nach einer näheren Analyse ergeben sich grundsätzliche Anfragen an den Lösungsansatz des Impulspapiers:
•    An die Neudefinition der Gemeinde sind gewichtige Fragen zu stellen: Ist die Gemeinde als konstituierende Zelle der Institution Kirche hier soziologisch ausreichend bestimmt? Wie kommt rechtliche und institutionelle Kontinuität und Verlässlichkeit zustande, wenn »locker strukturierte« und »punktuelle« Verbindungen ebenfalls Gemeinde sind?2
•    Die zur Zeit gültigen Kirchenordnungen, zumal diejenigen presbyterial-synodaler Prägung, entwerfen die Leitung der Kirche von den Ortsgemeinden aus. Wenn Ortsgemeinden im Ergebnis nur noch einen Anteil von 50% aller Gemeinden einnehmen, müssen die meisten Kirchenordnungen völlig neu entworfen werden, um die neuen Gemeindeformen in die kirchliche Selbststeuerung einzubeziehen. Aber daran denken die Verfasser von »Kirche der Freiheit« offenbar nicht. Stattdessen empfehlen sie, die klassischen synodalen Prinzipien von Partizipation und Beteiligung zugunsten von an Wirtschaftsunternehmen orientierten Leitungsstrukturen zu modifizieren3.
•    »Kirche der Freiheit« hält am Flächenprinzip und an der Parochie fest. Ausdrücklich sprechen die Verfasser von der »Dehnung des parochialen Netzes« (68), das also grundsätzlich erhalten bleiben soll. Zugleich empfehlen sie aber eine drastische Kürzung der personellen und materiellen Ressourcen der Parochie. Wie unter diesen Bedingungen die Qualität der parochialen Versorgung gehalten, geschweige in der geforderten Weise gesteigert werden soll, bleibt ein Geheimnis der Verfasser. An dieser Stelle wird die Unausgereiftheit der Vorschläge des Impulspapiers in besonderer Weise offenkundig. Ressourcen drastisch zu kürzen und – ohne strukturelle Veränderungen – zugleich eine deutliche Steigerung der Qualität zu erwarten, widerspricht auch jeder betriebswirtschaftlichen bzw. ökonomischen Logik.
•    Das vom Impulspapier vorgesehene Gegenüber von »Symbol-« bzw. »Profilgemeinden« und Ortsgemeinden in einer Region wird in seiner Problematik an keiner Stelle reflektiert. Die Möglichkeit einer negativen Konkurrenz durch das Nebeneinander von Orts- und Profilgemeinden, die lediglich zu einem weiteren Substanzverlust der Ortsgemeinden führt, bleibt unberücksichtigt4.
•    Die Vorschläge von »Kirche der Freiheit« werden den Abwärtstrend der Ortsgemeinden nicht nur nicht aufhalten können, sondern sogar drastisch verstärken. Sie führen faktisch zu einem Zweiklassensystem von Gemeinden5: Protegiert werden die kirchlichen Orte, welche »die geistliche Fülle evangelischen Christseins zum Ausdruck bringen« (60). Diese übergemeindlichen Orte kirchlichen Lebens sollen bestens ausgestattet werden. Auf der anderen Seite bleiben geschwächte Parochien zurück, die teilweise am Rande der Lebensfähigkeit gehalten werden und von Ehrenamtlichen mühselig aufrechterhalten werden sollen (55).
Zusammenfassend ist festzuhalten:
Das EKD-Impulspapier »Kirche der Freiheit« enthält in der Tendenz das Konzept einer grundlegend anderen Form von Kirche, als es zur Zeit in den Gliedkirchen der EKD verwirklicht ist. Die meisten Kirchen sind verfassungsmäßig immer noch Gemeindekirchen. Die Gemeinde bzw. die Gemeinschaft aller Gemeinden trägt alle Dienste und Funktionen der Kirche, die ihr subsidiär zugeordnet sind. Das Impulspapier zielt dagegen auf eine Kirche, die vom gesamtkirchlichen Auftrag ausgeht. Gemeinden erscheinen hier als Funktion der Gesamtkirche neben anderen Diensten der Kirche.


Vom System parochialer Versorgung zur Gemeindekirche

Bei aller Kritik an den Reformvorschlägen des Impulspapiers ist der Analyse der Verfasser doch in einem entscheidenden Punkt zuzustimmen: Die gegenwärtige Kirchenstruktur, die auf dem Prinzip der flächendeckenden parochialen Versorgung beruht, ist in dieser Form in der Tat nicht zu halten. Der religionsgeschichtlichen Situation in unserem Land, die sich in einer ausgeprägten Säkularisierung6 und inneren Beziehungslosigkeit auch der Mehrheit der Kirchenmitglieder zum Christentum und zur Kirche ausdrückt, entspricht das jetzige enge Netz parochialer Strukturen nicht mehr. Es kann auch nicht geleugnet werden, dass zahlreiche Ortsgemeinden nur noch lebensfähig sind, weil ihr Status kirchenverfas­sungsmäßig verankert ist und sie durch die Kirchensteuerzuweisung in ihrem Bestand gesichert werden. Dass die Fähigkeit zur parochialen Gestaltung in der jetzigen Dichte nicht mehr gegeben ist, zeigt beispielhaft die Entleerung der Gottesdienste und die zunehmende Unfähigkeit der Gemeinden, die gemeindliche Leitung noch zu organisieren. Wo die Zahl der Gottesdienstbesucher unter ein Minimum sinkt und keine Frauen und Männer für das Leitungsamt gewonnen werden können, kann von einer tragfähigen Substanz zur Aufrechterhaltung einer (Orts-)Gemeinde keine Rede mehr sein. Solche Gemeinden haben auch die Kraft der »Beheimatung« verloren, die das Impulspapier mit Recht fordert.
Die Analyse von »Kirche der Freiheit« ist an dieser Stelle richtig: »Die evangelische Kirche muss ihre weit verzweigte und kleinteilige Gemeindestruktur verändern. Wenn Kirchenvorstände zu klein, die Ortsgemeinden pro Pfarrerin oder Pfarrer zu zahlreich, die Gottesdienstgemeinden zu schwach, die Wege zu weit und die Zahl der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen zu gering werden, dann dünnt sich das kirchliche Angebot so stark aus, dass die vitale Kraft des evangelischen Glaubens nicht mehr spürbar wird. Auch in der Beteiligung an kirchlichen Angeboten gibt es einen Umschlag von der Quantität in die Qualität. Deshalb muss das Netz der parochialen Versorgung neu konzipiert werden.« (60)7
Das Gegenüber von Orts- und Profilgemeinden, verbunden mit einer ressourcenmäßigen Bevorzugung der Profilgemeinden, das das Impulspapier vorschlägt, überzeugt aber nicht, weil die Abwärtsspirale der Parochie damit festgeschrieben ist. Stattdessen müssen alle Formen von Gemeinde – besondere Gemeinden (Profilgemeinden), Dienste und Ortsgemeinden – in die Lage versetzt werden, zu vitalen kirchlichen Orten mit Ausstrahlungskraft zu werden. »Die Realität der Gemeinde Jesu Christi und die Würde des geistlichen Amtes [sollten] so ernst genommen werden, dass jede Gemeinde auf dem Weg zur Profilgemeinde gesehen und in entsprechender Erwartung gehalten bleibt.«8
Damit dies geschehen kann, sind zunächst zwei Grundentscheidungen erforderlich:
•    Die evangelische Kirche muss ein entschiedenes und unzweideutiges Ja zur Gemeindekirche sprechen. Das Neue Testament und die Reformation zielen auf Gemeinde. Nur hier, wo Christen sich in freiem Zusammenschluss zum Gottesdienst und zur Gestaltung von Kirche verbinden, ist eine tragfähige Grundlage der Kirche zu erwarten. In der Struktur überschaubarer Gemeinden kann auch das Potential ehrenamtlicher Beteiligung am besten ausgeschöpft werden.
•    Es muss ein neues Einvernehmen erzielt werden, was Gemeinde ist. Dazu müssen theologische Kriterien gefunden werden, die für alle Formen von Gemeinde gelten, bzw. festlegen, was Gemeinde und was gemeindliche Funktionen und Angebote sind. Die Definition muss geeignet sein, die institutionelle und rechtliche Form der Kirche zu begründen. Sie muss also übertragbar sein in modifizierte Kirchenordnungen. Eine solche Definition wird dabei einerseits die hergebrachte Festschreibung als Flächengemeinde überwinden, andererseits die Auflösung des Gemeindebegriffs umgehen müssen, die dann erfolgt, wenn – wie in »Kirche der Freiheit« – jedes punktuelle Ereignis von Kirche und jeder funktionale Dienst bereits als Gemeinde definiert wird.


Grundlinien eines zukunftsfähigen Gemeindeverständnisses

Im Folgenden sollen einige Grundlinien eines zukunftsfähigen Gemeindeverständnisses genannt werden, die an Schrift und Tradition orientiert sind:
1.    Nach dem Neuen Testament und der Erkenntnis der Reformation zielt das Evangelium auf die persönliche Aneignung des Glaubens. Es geht um die »Bindung an Jesus Christus« (13), die alleine eine »Kirche der Freiheit« begründen kann. Diesem Glaubensverständnis entspricht eine frei gewählte und bewusst angenommene Gliedschaft am Leib Christi und damit in einer konkreten Gemeinde. Die Kirche lädt zu einer bewusst angenommen Kirchen- bzw. Gemeindegliedschaft ein und hat Möglichkeiten zu ihrer Gestaltung zu eröffnen. Eine Kirche, die ihre vom Neuen Testament her begründete Berufung ernst nimmt, kann eine »allgemeine Zugehörigkeit zur evangelischen Kirche«, die eine konkrete Zugehörigkeit zur Gemeinde bewusst ausschließt (39f), daher nur durch eine werbende Einladung zu überwinden versuchen.9
2.    Beheimatungsorte einer bewusst angenommenen Gliedschaft sind in aller Regel Personengemeinden. Kirche ist »Gemeinde von [Schwestern und] Brüdern« (Barmen III). Als »Orte gelebten Glaubens« sind solche Gemeinden »der Erfahrungsraum von Zugehörigkeit und Vertrautheit« (36). Nur hier ist eine geistige und geistliche »Beheimatung« möglich, die diesen Namen verdient und nicht bloß ein diffuses und höchst ambivalentes Gefühl der Zugehörigkeit darstellt.
Im Rahmen einer grundsätzlich bewusst angenommenen Mitgliedschaft sind in einer Volkskirche Formen unterschiedlicher Nähe zu ermöglichen. So klar die Einladung zur Verbindlichkeit auszudrücken ist, und so wahr immer neu der Versuch unternommen werden muss, diese Verbindlichkeit gültig zu umschreiben, so wenig dürfen dabei partikulare Vorstellungen absolut gesetzt werden oder eine gesetzliche Verengung zum Zug kommen. Am besten erfolgt diese Definition in einem breit angelegten synodalen Prozess.
3.    Schon im Neuen Testament ist Gemeinde durch Örtlichkeit geprägt. Die Örtlichkeit im theologischen Sinn ist nicht an den Parochialgedanken (Flächengedanken) gebunden. Der theologische Gedanke zielt lediglich auf eine Kontinuität, die sich eben auch in einer örtlichen Haftung ausdrückt. So wird man in der Regel einen kirchlichen Ort als Zentrum und Kristallisationsort von Gemeinde erkennen können. Hier berührt sich der theologische Gemeindegedanke mit dem neueren Gedanken »kirchlicher Orte« (Uta Pohl-Patalong).
4.    Der Würde der Gliedschaft am Leib Christi entspricht nach evangelischem Verständnis ein Höchstmaß an Beteiligung und Partizipation aller Gemeindeglieder an allen Vollzügen der Gemeinde. Dazu gehört unbedingt auch eine geregelte Teilhabe an der kirchlichen Leitung10. Diese ist am besten gewährleistet, wenn kirchliches Leitungshandeln von den Gemeinden ausgeht, wie es im presbyterial-synodalen Kirchenmodell ange­strebt wird. In jedem Fall muss das Leitungshandeln in qualifizierter Weise an die Gemeinden rückgebunden bleiben. Keineswegs darf Gemeinde als rein funktionales von außen gesteuertes Organ verstanden werden. Damit dürfen kirchliche Dienste, die wesensmäßig keine Selbststeuerung hervorbringen können, weil ihnen keine Kontinuität eignet (Fernsehgemeinde, Kirchenmusikgemeinde etc.), nicht als Gemeinde angesprochen werden, wie es die Verfasser von »Kirche der Freiheit« tun.
Aus diesen Gedanken ergibt sich ein grundsätzlich anderes Modell kirchlicher Lenkung als es das Impulspapier entfaltet. Während das Papier Entscheidungen zentralisieren und nach oben verlagern möchte (28f), sind so viele Entscheidungen wie eben möglich der Gemeindeebene zuzuordnen. Der Wirklichkeit der evangelischen Kirche, die vom Engagement der Menschen vor Ort lebt, entspricht es, dass so viele Entscheidungen wie eben möglich auf der Ebene der Gemeinden gefällt werden müssen11. Hier sind auch unter einer ökonomischen Betrachtungsweise »marktnahe« Entscheidungen zu erwarten, während übergeordnete Leitungsstrukturen in Großinstitutionen wie der Kirche naturgemäß einen Hang zur Bürokratisierung und Formalisierung haben.
5.    Der bewusst angenommenen Gliedschaft entspricht die Bereitschaft, die Kirche auch finanziell in angemessener und den persönlichen Verhältnissen entsprechender Weise mit zu tragen. Wie im Neuen Testament vorgegeben, muss diese Teilhabe bewusst und freiwillig gewählt sein. Daher muss das paternalistische Finanzierungssystem der Gegenwart Schritt für Schritt überwunden wird. Den Gemeinden muss die Verantwortung für den eigenen Bestand zunehmend übertragen und an manchen Orten wohl überhaupt erst bewusst gemacht werden. Nur so kann deutlich werden, an welchen Orten die Kraft zur Gemeindebildung bzw. zum Erhalt einer selbstständigen Gemeinde besteht.
Das verfassungsmäßig ja immer noch gegebene Ortskirchensteuersystem muss dahingehend neu belebt werden, dass auch die Kirchensteuer in einer nachvollziehbaren Weise den Gemeinden zugeordnet wird. Ein erster entscheidender Schritt dazu währe die völlige Transparenz der tatsächlichen Kirchensteuereinnahme der einzelnen Gemeinden. Auch die Finanzierung der Gesamtkirche sollte wieder in nachvollziehbarer Weise von den Gemeinden ausgehen. Gemeindliche Sondereinnahmen werden zu einem synodal festgelegten Anteil der gesamtkirchlichen Finanzierung zugeleitet. Ein Finanzausgleich, der strukturelle Schwächen einzelner Gemeinden in angemessener Weise ausbalanciert, ist zu gestalten.
6.    »Menschen erleben ihre Kirche in ganz unterschiedlichen Zusammenhängen: in der Gemeinde vor Ort ebenso wie in den Einrichtungen und Angeboten in jedem Kirchenkreis und der Landeskirche. Ob Gesprächskreis oder Telefonseelsorge, im Schulreferat und in der Jugendarbeit, in der Erwachsenenbildung oder im Bibelkreis, in der Seelsorge in Krankenhäusern oder beim Hausbesuch, in der Kirchenmusik wie im Sozialpfarramt: nur einige Beispiele für die vielfältigen Angebote, die von den Gemeinden getragen werden12
Diese Beschreibung des Präses der EKvW gilt auch für eine zukünftige Struktur der Kirche. Auch die Gemeindekirche der Zukunft braucht die Wahrnehmung zentraler Hauptaufgaben durch funktionale Dienste. Diese sind nicht selber Gemeinde, nehmen aber Aufgaben der Gemeinden stellvertretend für sie wahr. Der Gedanke der Trägerschaft der Gemeinden muss allerdings in seiner ursprünglichen Bedeutung neu verwirklicht werden. Im Laufe der fälligen Neustrukturierung müssen Gemeinden entscheiden, welche Dienste sie auf übergemeindlicher Ebene vorhalten wollen und dann auch in kritischen Situationen aufrechterhalten. So werden Gemeinden in einem ganz realen Sinn Trägerinnen der Dienste ihrer Kirche sein. Eine Verselbständigung der Dienste von der Ebene der konkreten Gemeinden, wie sie zur Zeit teilweise gegeben ist, sollte dagegen überwunden werden.
Auf der Grundlage dieser Zielvorgaben muss ein lang angelegter Umstrukturierungs­prozess begonnen werden, der zu einem Netz lebensfähiger Gemeinden führt. Im Verlauf dieses Prozesses wird sich dann auch zeigen, wo Gemeindestrukturen nicht mehr tragfähig sind. Gemeinden werden da bestehen bleiben oder neu entstehen, wo an einem Ort oder um ein bestimmtes Projekt Menschen und Ressourcen vorhanden sind bzw. gewonnen werden können, um Gemeinde auf eine tragfähige Grundlage zu stellen. Um es in der Sprache des Impulspapiers auszudrücken: Gemeinden müssen sich auf dem religiösen »Markt« behaupten und ihre Lebensfähigkeit erweisen. Der unbedingt notwendige Gedanke eines solidarischen Ausgleichs darf nicht dazu führen, dass grundsätzlich nicht mehr lebensfähige Gemeinden und Projekte um jeden Preis erhalten werden. Der »Beweis des Geistes und der Kraft« (Kirche der Freiheit, 35) darf jeder Gemeinde und jedem Projekt zugemutet werden. Damit dieser »Beweis« erbracht werden kann, ist der vom Impulspapier geforderte Mentalitäts- und Paradigmenwechsel notwendig, der aber wesentlich tiefgreifender sein muss, als es das Papier andeutet.


Ausblick

Die Verfasser von »Kirche der Freiheit« wollen ein Aufbruchsignal geben. In der Tat brauchen wir in Zeiten der Krise eine inspirierende Vision, die ermutigt, die Lethargie zu überwinden und aufzubrechen. Mit Sicherheit liegt eine schwere Strecke der Umgestaltung vor der evangelischen Kirche. Von vielen werden schmerzliche Opfer erbracht werden müssen. Ein quantitatives Wachstum der Kirche kann verantwortlich niemand versprechen und realistisch auch niemand erwarten. Qualitatives geistliches Wachstum kann in der Kirche des Auferstandenen dagegen immer erwartet – und vor allem erbetet werden! Dabei darf eine Vision der zukünftigen Kirche nicht primär den Status der hauptamtlich Mitarbeitenden oder den Bestand der Kirche in ihrer jetzigen Gestalt im Auge haben. Leitbild ist eine biblisch-theologisch inspirierte Vision von Gemeinde. Eine solche Vision ist in der Gemeindekirche gegeben, wie sie uns das Neue Testament vor Augen stellt. Die Zielvorgabe, die damit markiert ist, wird nicht alle in der Volkskirche hinter sich vereinigen können. In jedem Fall handelt es sich aber um eine Vision mit einem gewaltigen Potential, wenn der zur Zeit an vielen Orten noch »schlafende Riese« Gemeinde erst einmal geweckt ist.


Anmerkungen:

1    Allerdings steht hier schon der neu definierte, auch gemeindliche Funktionen umfassende Gemeindebegriff im Hintergrund (s.u.).
2    Michael Herbst hat auf dem Theologenkongresse in Leipzig kritisiert, dass das Gemeindeverständnis in »Kirche der Freiheit« nicht ausreichen reflektiert ist: »Ich vermisse eine Klärung des Gemeindebegriffs. Das Ja zu neuen Gemeindeformen sollte nicht implizieren, dass die Örtlichkeit und Dauerhaftigkeit persönlichen geistlichen und gemeindlichen Lebens preisgegeben wird.« (Vortrag: Evangelisation und Gemeindeaufbau, Leipzig (Peterskirche) – 21. September 2006, S. 5)
3    Kirche der Freiheit, S. 28f!
4    Solche negative Konkurrenz ist jetzt schon an vielen Orten in der Kirchenmusik modellhaft zu besichtigen, wo die »Profilchöre« die Substanz der Gemeindechöre vielfach untergraben.
5    Ähnlich Michael Welker, in zeitzeichen 12/2006, S. 8, der eine Vier-Klassen-Kirche erkennt.
6    Die vielfach beobachtete angebliche »Respiritualisierung« und die gegenwärtige Popularität des Themas Religion in den Medien ändert nichts daran, dass der religionsgeschichtliche »Megatrend« (Kirche der Freiheit, S. 14) in Mitteleuropa seit 200 Jahren eine Säkularisierung ist, die tief in Herz und Verstand der Mehrheitsgesellschaft verwurzelt ist. So auch Robert Leicht, zeitzeichen 01/2007. Die Leitartikel der Weihnachtsausgaben 2006 der Magazine »FOCUS« und »DER SPIEGEL« mit ihrer zutiefst negativen Sicht des Christlichen, ebenso wie der Thementag über den Fundamentalismus in »3sat« im Dezember 2006 machen die ganze Ambivalenz der Wahrnehmung von Religion in Deutschland deutlich.
7    Auch die Konsequenz für die Psychologie der zur Zeit in der Parochie Mitarbeitenden wird völlig zutreffend beschrieben: »Wer ständig mit sinkenden Gemeindeglieder zahlen und schrumpfender Akzeptanz zu tun hat, gerät leicht in eine Depressionsschleife, aus der heraus neue Impulse und innovative Aufbrüche schwer fallen.« (24)
8    Welker, S. 10 (Hervorhebung – RF).
9    Baut die evangelische Kirche weiter wie bisher auf eine formale Mitgliedschaft, die durch die Bezahlung der Kirchensteuer grundsätzlich erfüllt ist, wird sie niemals auf den Boden verlässlicher Strukturen kommen, die auch in Zeiten der Krise Bestand haben! Kirche besteht aus Menschen, die bewusst sagen: »Wir sind die Kirche«. Von hier aus ist die theologische Kritik an der volkskirchlichen Praxis der Säuglingstaufe neu zu bedenken, ebenso die Praxis der Wiedereintrittsstellen, die eine Mitgliedschaft ohne Verbindlichkeit kultivieren.
10    Dazu ausführlich: Auftrag und Gestalt, Studie des geistlichen Amtes der EKHN (1996), S. 9ff.
11    Dieser Gedanke ist ausführlicher entfaltet bei Martin Hoffmann, Theologisch-ekklesiologische Überlegungen zur Erneuerung der Kirche, Vortrag auf der Hesselbergkonferenz der Dekane und LKR, Sept. 2005.
12    Der Präses der EKvW Alfred Buß in: Glauben aus gutem Grund, Verteilschrift der EKvW, Juni 2006 (Hervorhebung – RF).


Erschienen im Pfarrerblatt 06/2007 S. 295 ff.

Über die Autorin / den Autor:

Rolf Fersterra, Studium in Münster, Marburg und Heidelberg; seit 1991 Pfarrer der Ev.-ref. Kirchengemeinde Niederschelden, Vorsitzender des Theo­logischen Ausschusses der Kreissynode Siegen (EKvW).

Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 6/2007

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