Zum Text – Exegetisches

 

Im Dialog mit den Juden über den wahren Glauben wird Joh 8,31-36 eingeschlossen von Jesu Selbstoffenbarung als das ›Licht der Welt‹ (Joh 8,12ff) und der Heilung eines Blindgeborenen (Joh 9,1ff), was offensichtlich konzeptionelle Bedeutung für den Evangelisten hat. Mit Joh 8,31 setzt ein neuer Abschnitt ein. Der Perikope Joh 8,31-36 schließen sich die Verse 37 – 47 an, in denen die Themen »Abrahamskindschaft« und »Wahrheit« weiter verfolgt werden, die aber trotzdem als eigenständig betrachtet werden können.

 

Nehmen wir den Adressaten der Rede Jesu in den Blick, lässt sich vermuten, dass zeitgeschichtliche Erfahrungen aus der Umgebung des Evangelisten in die Komposition eingeflossen sind, die so beschrieben werden können: Bereits zum Glauben gekommene Juden sind dabei, sich wieder vom Christusglauben abzuwenden, um zu ihrer ursprünglichen Religion zurück zu kehren. Textmakroskopisch ausgedrückt sind sie dabei zu erblinden.

 

Dagegen wendet sich Jesus in unserer Perikope. Das Bleiben in Jesu Wort wie in einem Haus ist Kennzeichen des wahren Jüngers Jesu. Diesem im Haus bleibenden Jünger ist die Wahrheit zugänglich. Diese Wahrheit wiederum hat die Kraft, den Glaubenden frei zu machen von der Knechtschaft der Sünde. Davor bewahrt auch nicht die Abrahamskindschaft, die die Juden sich zugute halten. Jesus als der Sohn des Hauses hat die Freiheit, ehemals Knechte zur Kindschaft Gottes zu befreien und das ewige Bleiben im Hause Gottes zu ermöglichen.

 

Die Beziehung zu Jesus, die mit dem Begriff »bleiben« bezeichnet wird, ist das Signum der Gläubigen. Diese Beziehung ist auf Dauer angelegt (vgl. Joh 15,1ff) und gründet auf dem fortgesetzten Hören des Wortes Jesu. Darin wird die Wirklichkeit Gottes erkannt, die sich als Wahrheit offenbart. Wahrheit ist bei Johannes kein erkenntnistheoretischer Begriff, sondern bezeichnet eine himmlische Dimension, die Jesus, der Gesandte aus ihr, verkörpert. Diese Wahrheit öffnet die Augen für die Knechtschaft der Sünde und befreit aus ihr zur Gotteskindschaft, die das Licht der Welt erkennt und darin lebt.

 

 

Zur Situation – Homiletisches

 

Der Altjahresabend führt in die Nachdenklichkeit. Ein ganzes Jahr steht unmittelbar vor seinem Ende. Ein neues beginnt wenige Stunden später. Zeit für die Fragen: Was war dieses Jahr und was bleibt? Was hat sich verloren und wovon musste man sich trennen? Was blieb unerfüllt und was konnte verwirklicht werden? Was hat sich bewährt und was kann ich mitnehmen in das neue?

 

Der Gottesdienst an diesem Abend tut gut daran, diesen Fragen Raum zu geben. Wer bereit ist, hier anzukommen und seinen Alltag unterbrechen zu lassen, sucht Antworten auf seine unbewusst mitgebrachten Sehnsüchte und Hoffnungen. Jeder bringt seine eigene Sichtweise auf das zuende gehende Jahr mit und Bilanzen fallen ganz unterschiedlich aus.

 

Der johanneische Text scheint sich diesem Kontext auf den ersten Blick zu sperren. Aber bei genauerem Hinsehen fällt Licht in das Dunkel, das diesen Abend auszuleuchten vermag. Der Gedanke des Bleibens legt sich nahe, weil er an diesem Abend auch unsere Vergänglichkeit berührt. Tagtäglich sind wir in allen Bereichen unseres Lebens mit Veränderungen konfrontiert. Nichts bleibt so wie es war. Und wer so bleiben will, wie er ist, bleibt nicht, sagt ein Sprichwort. Bleibende Beziehungen sind selten geworden in einer bewegenden Zeit. Und wie lange bleibt man selbst noch Erdenbürger/in?

 

Johannes bringt Licht ins Dunkel: Bleiben heißt nicht unbeweglich sein, Wahrheit bedeutet nicht Recht haben, Freiheit ist nicht Ungebundensein. Aus der Beziehung zu Jesus erwächst eine Verbundenheit, die gelassener werden lässt, ob aller Umbrüche und Veränderungen. In ihm bleiben, lähmt nicht, sondern macht beweglich. Die Wahrheit erkennen, verengt nicht den eigenen Blickwinkel, sondern erschließt einen weiten Horizont. Frei sein, macht nicht haltlos, sondern gibt Geborgenheit in dem Haus des Lebens (vgl. Lk 15,11-32 – Gleichnis vom gütigen Vater).

 

 

Zur Predigt – Narratives

 

A) Bleiben

 

Eines Nachts hatte ein Mann einen Traum. Er träumte, er würde mit Christus am Strand entlang spazieren. Am Himmel über ihnen erschienen Szenen aus seinem Leben. In jeder Szene bemerkte er zwei Paar Fußabdrücke im Sand, ein Paar gehörte ihm, das andere dem Herrn. Als die letzte Szene vor ihm erschien, schaute er zurück zu den Fußabdrücken und bemerkte, dass sehr oft auf dem Weg nur ein Paar Fußabdrücke im Sand zu sehen waren. Er stellte ebenfalls fest, dass dies gerade während der Zeiten war, in denen es ihm am schlechtesten ging. Dies wunderte ihn natürlich, und er fragte den Herrn: »Herr, du sagtest mir einst, dass ich mich entscheiden sollte dir nachzufolgen; du würdest jeden Weg mit mir gehen. aber ich stellte fest, dass während der beschwerlichsten Zeiten meines Lebens nur ein Paar Fußabdrücke zu sehen ist. Ich verstehe nicht, warum! Wenn ich dich am meisten brauchte, hast du mich allein gelassen.« Der Herr antwortete: »Mein lieber, lieber Freund, ich mag dich so sehr, dass ich dich niemals verlassen würde. Während der Zeiten, in denen es dir am schlechtesten ging, wo du auf Proben gestellt wurdest und gelitten hast – dort, wo du nur ein Paar Fußabdrücke siehst –, es waren die Zeiten, in denen ich dich getragen habe.«

 

B) Wahrheit

 

Drei weise Männer trafen sich, um miteinander zu überlegen, was sie den Menschen auf ihrem schwierigen Weg durch das Leben mitgeben könnten. Und sie beschlossen, ihnen die Wahrheit zu schenken, aber doch so, dass sie diese selbst erwerben sollten. »Wir wollen sie verstecken«, sagten sie, »damit sie lange danach suchen müssen. Das wird ihnen zeigen, wie wichtig die Wahrheit für das Leben ist.« Aber wo sollten sie die Wahrheit verstecken? Der Erste schlug vor, einen Gletscher auf dem höchsten Berg der Welt dafür auszusuchen. Der Zweite meinte: »Nein, das ist zu leicht. Lasst sie uns in einer Muschel auf dem Grunde des Meeres verstecken, da wird sie lange liegen bleiben.« Der Dritte aber sprach: »O nein, das ist viel zu einfach. Wir wollen die Wahrheit im Menschen verstecken: Dort wird sie keiner suchen!« (Östliche Weisheit)

 

 

Zur Gestaltung – Spirituelles

 

EG 64 Der du die Zeit in Händen hast

EG 65 Von guten Mächten (besser nach der Melodie von Siegfried Fietz)

EG 329 Bis hierher hat mich Gott gebracht

EG 347 Ach bleib mit deiner Gnade

 

Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 11/2006

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