Das Kreuz war im Christentum lange Zeit Sinnbild und Inbegriff des Erlösungsgeschehens: Christus ist am Kreuz »für uns gestorben«, und durch sein Opfer sind wir erlöst – das galt traditionell in unserem christlichen Kulturraum als magnus consensus der Christenheit. Dieser wird seit geraumer Zeit kritisch in Frage gestellt und bestritten. Offenkundig macht die Vorstellung vom so genannten stellvertretenden Opfer Christi heutigen Menschen Schwierigkeiten, wahrscheinlich aus zwei Gründen: Zum einen, so heißt es, sei eine menschliche Person im Wesentlichen unvertretbar, zum anderen laufe eine stellvertretende Lebenshingabe der neuzeitlichen Rede vom Menschen als autonomem Subjekt direkt zuwider. Dementsprechend stößt man sich nicht nur am Opfer als einer überholten Vorstellung, sondern behauptet, ein »liebender Gott will keine Opfer!« (Adolf Holl). Ist die Opfertod-Vorstellung heute obsolet und antiquiert und folglich theologisch aufzugeben, oder können wir ihr etwas abgewinnen, was Dimensionen der Wirklichkeit und des christlichen Glaubens erschließt?

Wer unsere religiöse Gegenwartskultur aufmerksam wahrnimmt, kann hier zwei sich prima facie durchaus widersprechende Beobachtungen machen: Zum einen wirkt herkömmliches christliches Verständnis von Erlösung durch den Opfertod Jesu Christi in der Tat oft überholt. Wo nämlich die Worte Erlösung und Opfer fest an christlich-religiöse Traditionsbestände gebunden sind, nimmt heute im Gefolge von Säkularisierung und Moderne ihre Bedeutung ab. Andererseits finden sich unübersehbar gegenläufige Tendenzen und Hinweise darauf, dass Opfer, Erlösungsphänomene und Erlösungssehnsüchte aus der Lebenswelt heutiger Menschen nicht einfach verschwunden sind, sondern – oft in transformierten Gestalten und »gebrochen« – neu und anders da sind, wie die mannigfache Rede und Inszenierung von Opfern in Lebenswelt und Popularkultur eindrücklich zeigen kann. Ich führe zur Veranschaulichung folgende drei Beispiele an:

In gebrochener Form lässt sich das Motiv des stellvertretenden Opfers bereits an dem Parade-, Seh- und Lehrstück »Titanic« von James Cameron (USA 1997) zeigen, das auf seine Weise den Erlösungs-, Opfer- und Auferstehungsmythos neu inszeniert. Im Mittelpunkt dieses Films steht – auf der legendären »Titanic« angesiedelt – eine Teenager-Romanze zwischen der unglücklich verlobten, aus reichem Hause stammenden Rose und dem jungen, armen Maler und Glücksritter Jack. Rose versucht ihrem Schicksal über die Reling der »Titanic« zu entfliehen, Jack rettet sie und zeigt ihr die wahre Liebe. Dies, wie gesagt, alles auf jener legendären, für unsinkbar gehaltenen »Titanic«, einem technischen Wunderwerk des frühen 20. Jahrhunderts, das dann doch sinkt. Zunächst überleben beide, Jack und Rose. Dann aber opfert Jack im eiskalten Ozean sein Leben, denn die Tür, auf die sie sich gerettet haben, kann nur Rose allein tragen. Jack stirbt, damit Rose lebt – Sterben für jemanden, den man unendlich liebt, heißt die cineastische Quintessenz. So erzählt der Film »Titanic« vom Versagen der Technik angesichts mörderischer Naturgewalt, aber auch vom Lebens-Opfer eines Liebenden und schlussendlich vom Sieg der Liebe über den Tod.

Ein zweites Veranschaulichungsbeispiel für die Relevanz der Erlösungs- und Opfer-Motivik im Kino ist der Film »End of Days«, der Ende 1999 in die deutschen Kinos kam und die Säle füllte. Regie führte Peter Hyams und Hauptdarsteller ist Arnold Schwarzenegger. In aller Kürze: Der Film beginnt mit der astronomischen Beobachtung eines Theologen im Vatikan Ende der 70er Jahre. Diese wird als finsteres Vorzeichen gedeutet, nämlich als Hinweis auf die Geburt jener Frau, mit der der Satan am Ende des Jahrhunderts ein Kind zeugen soll, das als Fürst der Finsternis über die Erde herrschen und Gottes Kirche vernichten wird. Im weiteren Filmverlauf befindet sich der Zuschauer nun kurz vor dem Silvesterabend 1999. Jetzt betritt der Satan selbst in Gestalt eines Börsenmaklers die Welt, um nach der Frau zu suchen, mit der er sich rituell vereinigen soll. In diese Aktionen des Satans wird die von Schwarzenegger gespielte Gestalt des Jericho Cane verwickelt. Schon das Namenskürzel – J. C. – fällt auf. Cane, der seinen Glauben verloren hat, steht vor der Entscheidung, entweder dem Teufel zu helfen (der ihm dafür eine großzügige Entlohnung verspricht) oder die junge Frau und mit ihr die Welt vor dem Teufel zu schützen. Cane nimmt den Kampf gegen den Teufel auf, erkennt aber bald, dass er diesen weder mit Sprengstoff und Waffengewalt noch mit Exorzismus und Weihwasser bestehen kann. Vor dem Teufel retten kann ihn, die junge Frau und letztendlich die ganze Welt nur der Glaube. Dies ist eindrücklich in der Szene eingefangen, in der Jericho Cane die Waffen streckt und um Glauben betet. Auch wenn sich der Satan im weiteren Verlauf des Films des Körpers von Jericho Cane bemächtigen kann, hindert ihn letztlich dessen Glaube, seinen teuflischen Plan zu vollenden. Schließlich rettet »J. C.« die junge Frau und damit die Welt durch ein Selbstopfer, indem er sich heroisch in das Schwert einer auf dem Boden liegenden Statue des Erzengels Michael stürzt. Das Ende des

Films: Dieses Opfer und damit der Tod sind nicht das Ende von Jericho Cane, sondern liefern die Transzendierung in eine bessere, glücklichere Welt, sichtbargemacht durch Canes Begegnung mit seiner ermordeten Familie, welche ihn aus dem Tod ins Paradies führt. – Auch dieser Film führt eindrucksvoll und nachhaltig die hohe Bedeutung von Opfer und Erlösung vor Augen.

Aus dem Bereich der Literatur stammt mein drittes Beispiel, das auf seine Weise die hohe Relevanz der Opfer- und Erlösungsthematik in der Popularkultur und -literatur plausibel machen kann: Harry Potter. Für unser Thema sind diese Bücher deswegen interessant, weil hier der und das Böse bzw. die Erlösung von ihm eine ungeahnte und für das 21. Jahrhundert erstaunliche Mittelpunktstellung bekommen und eine unerwartete Aufmerksamkeit erfahren. Kurz gefasst geht es darum: Harry Potter, der bei spießigen und gemeinen Stiefeltern aufwächst und in einem Schrank schlafen muss, erhält an seinem elften Geburtstag Post von einer Eule. In diesem Brief steht, dass er sich in der Zaubererschule auf Schloss Hogwarts einzufinden habe, ferner, dass er das vernachlässigte Waisenkind und der Harry Potter sei, ein Zauberer und in Hexen- und Zaubererkreisen berühmt, da er – woran er sich selbst nicht erinnern kann – schon als Baby den mächtigen, bösen Lord Voldemort entmachtet habe. Und das – so wird es uns erzählt – trug sich folgendermaßen zu: Als Harry ein einjähriger Säugling ist, bringt jener Lord Voldemort seine Mutter und seinen Vater um, den Vater im mutigen Zweikampf, die Mutter bei ihrem Versuch, Harry zu beschützen. So steht am Anfang der Lebensgeschichte von Harry Potter ein grausamer Gewaltakt. Lord Voldemort, Inbegriff des Bösen, sucht auch Harry zu töten, was ihm aber nicht gelingt: »Aber – er konnte es nicht. Er konnte diesen kleinen Jungen nicht töten.« Offenkundig deswegen, weil Harry ein besonders geliebtes Kind war und – weil seine Mutter für ihn starb! Ziemlich gegen Ende des ersten Bandes, als Harry gerade die Begegnung mit dem Inbegriff des Bösen, Lord Voldemort, der ihm nach dem Leben trachtet, überstanden hat, sagt nämlich der Direktor der Zaubererschule Hogwarts, Mr. Dumbledore, Folgendes zu ihm: »Deine Mutter ist gestorben, um dich zu retten. Wenn es etwas gibt, was Voldemort nicht versteht, dann ist es Liebe. Er wusste nicht, dass eine Liebe, die so mächtig ist wie die deiner Mutter zu dir, ihren Stempel hinterlässt. Keine Narbe, kein sichtbares Zeichen … so tief geliebt worden zu sein, selbst wenn der Mensch, der uns geliebt hat, nicht mehr da ist, wird uns immer ein wenig schützen.«1 Weil seine Mutter für ihn starb, kam Harry Potter mit dem Leben davon! Er lebt, weil sie für ihn gestorben ist. Opfer und Opfermythos sind auch im literarischen Zusammenhang, weltlich und religiös, wie ich meine, lebendig und bedeutsam. Soweit meine drei Beispiele.

Ohne die berechtigte Kritik an einer überzogenen Rede vom Opfertod Christi herunterspielen zu wollen, meine ich: Erlösung als Opfer qua Lebenshingabe verstanden kann nicht nur einen neuen Blick auf ein altes Wort werfen, sondern auch ein befreiendes Lebensangebot für uns sein und damit exemplarisch einen wichtigen Beitrag des christlichen Glaubens zur Wirklichkeitserschließung leisten.

 

 

• Erlösung ohne Opfer

 

Nun ist in der Tat im Alten und im Neuen Testament, im Judentum wie im Christentum Erlösung nicht unabdingbar an das Opfer gebunden. Es gibt auch Erlösung ohne Opfer. Gottes Erlösungshandeln erschöpft sich für Judentum nicht im Tempelopfer und für das Christentum nicht im Opfertod Jesu Christi. Letzteres zu behaupten, wäre eine massive Verengung jüdischer und christlicher Erlösungssemantik in Geschichte und Gegenwart. In der hebräischen wie in der christlichen Bibel sowie im alltäglichen Leben ist in breiter Streuung von lösen, erlösen, Erlösung die Rede, ohne dass damit ein Lebensopfer im oben gezeigten Sinne notwendig verbunden wäre. Erlösung als gesamtbiblisches Befreiungsgeschehen verstanden, kann sich auch ohne Kreuz und Opfer vollziehen. Man denke an

– Männer und Frauen wie Abraham und Sara, die vom Fluch der Kinderlosigkeit erlöst werden;

– ein kleines Volk, das vor Zeiten vom Joch der ägyptischen Gefangenschaft und auf dem Zug durch die Wüste von Durst und Hunger befreit wird;

– Frauen und Männer, Kinder und Jugendliche, die in alt- und neutestamentlicher Zeit und auch heute zeichenhaft »in Gottes Namen« von körperlichen, seelischen und geistigen Gebrechen geheilt werden;

– Menschen, die sich nach jener eschatologischen Erlösung sehnen, bei der Gott alle Tränen von ihren Augen abwischen wird; der Tod nicht mehr sein wird, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz mehr sein werden; »denn das Erste ist vergangen« (vgl. Offb 21, 4).

Dies sind alles biblische menschlich-göttliche Exempla von Erlösung im Alltag der Welt, die die hohe Relevanz göttlichen Erlösungshandelns in anthropologischen, kosmologischen, christologischen und eschatologischen Dimensionen vor Augen führen und sie nicht nur auf Sünde beziehen, wie es v.a. in der westlichen Dogmengeschichte der Fall war. Dies wertet die christologische Opfervorstellung nicht ab, setzt sie aber zu anderen biblischen Erlösungsvorstellungen in Beziehung. Dementsprechend muss man, meine ich, den theologischerseits häufig christologisch-soteriologisch enggeführten Erlösungsbegriff dimensional weiten und auf das Leben in seiner Gänze zu beziehen. Erlösung hat, wie aufgezeigt, im Ersten, aber auch im Zweiten Testament, da von ihr vielfach und vielfältig die Rede ist, eine breite und gestreute Semantik. Hier wie dort gibt es nämlich viele »kleine« Erlösungen und Erlösungsgeschichten, nicht nur die eine große.

 

 

• Erlösung durch Opfer

 

Wo allerdings im Zusammenhang des Kreuzes und der Lebenshingabe Christi explizit vom Opfer die Rede ist, dort ist in aller Regel Erlösung auch an die Opfervorstellung bzw. den Opfermythos gebunden. Die hier gemeinte Erlösung ist einem wichtigen neutestamentlichen Überlieferungsstrom (vgl. etwa Eph 1, 7; Röm. 5, 9; 1. Joh. 1, 7) zufolge in der Tat nicht ohne das Opfer zu haben: Der Preis der Erlösung ist das Opfer. Mag sein, dass Gott die Welt auch hätte anders erlösen können als durch das Kreuz und das bittere Leiden und Sterben seines Sohnes; aber Gott hat sich nach der Auffassung eines breiten neutestamentlichen Überlieferungsstromes offensichtlich diesen Weg ausgesucht, der ihm »gefiel« (vgl. 1. Kor 1, 21). Insofern kann und muss man im christlichen Glauben sicher auch weiterhin von der »Erlösung durch das Sterben und die Auferstehung Jesu Christi« als einer fundamentalen und notwendigen Erscheinungsweise des Erlösungshandelns Gottes sprechen. Es ist dies eine wichtige biblisch begründete Sicht der Dinge, die Wirkung dieses Opfertodes als Erlösung zu bezeichnen – sicher nicht die einzige, wenn auch diese Verbindung, vor allem für die christliche Normaldogmatik, freilich unter Verkennung der biblischen Interpretationsvielfalt, fast ausschließlich traditions- und stilbildend geworden ist. Das Neue Testament selbst sucht ja Sterben und Tod Jesu Christi mit einer Reihe weiterer Be-Deutungen zu verstehen und seinen »Sinn« »für uns« zu erschließen: z.B. Loskauf, Lösegeld, Liebe Gottes, Propheten- und Märtyrertod, notwendiges Geschehen, Geschick des leidenden Gottesknechts, Versöhnung Gottes, Lebenshingabe; denn auch diese Erlösung lässt nicht nur eine Deutung zu, sondern verschafft sich mehrfachen Ausdruck und zeigt zudem, dass man davon letztlich »nur« in Bildern sprechen kann.

 

 

• Opfer als Lebensangebot

 

Zwar leben und denken wir nicht mehr in der Vorstellung des antiken Opferkultes, andererseits konnte bislang keine Gesellschaft, nicht einmal die Moderne, ohne Opfer existieren. Während archaische Gesellschaften bewusst auf Opfer ausgerichtet waren, möchte die moderne Gesellschaft ohne Opfer auskommen, vergeblich freilich, da sie sie selbst mitproduziert. Opfer sind »irgendwie« unvermeidlich, wie uns ein Blick in Lebenswelt und Popularkultur zeigen kann – das Verlangen nach Erlösung offensichtlich ebenso. Zum Leben gehört das Opfer. Opfer werden gebracht und gemacht. Auch wenn der Hebräerbrief vom »Ein für allemal« des Opfers Jesu Christi (10, 10) spricht und das Opfern damit an ein Ende gekommen scheint, erinnern uns Alltag und Medien daran, dass zum Leben das Opfer gehört, »dass es so war und immer wieder so sein wird, dass immer wieder Opfer gebracht und gemacht werden müssen« (Inge Kirsner). Wie viele Menschen »opfern sich auf« für ihre alten Eltern, für ihren pflegebedürftigen Lebenspartner, für ihr unheilbar krankes Kind?

So haben Christen und Christentum gewiss gute Gründe, auch heute die Geschichte vom unschuldigen und stellvertretenden Leiden und Sterben Jesu Christi und von dem Gott zu erzählen, der das ihm Liebste drangibt und »opfert«, um so die Menschen und seine Welt wieder für sich zu gewinnen und aus der Entfremdung heimzuholen. Die condition humaine, der zufolge Menschen spüren und realisieren, dass sie unerlöst leben, macht solche Erzählung und Darstellung notwendig und sinnvoll. Die Begriffe Stellvertretung, Sühne, Opfer mögen juridisch-juristisch problematisch geworden sein, als Ausdruck personaler Beziehung aber sind sie auch heute von unvergleichlicher existenzieller Bedeutung. Stellvertretung geschieht, wo ich definitiv nichts mehr für mich tun kann und absolut auf Andere angewiesen bin, die für mich einstehen. Liebende stehen füreinander ein und sind bereit, für den Anderen zu leiden und Opfer zu bringen, bis hin zum Lebens-Opfer. Dies macht es nötig, einen positiven Opferbegriff zu gewinnen, und zwar nicht allein aus Rücksicht auf die christliche Tradition, sondern aus grundsätzlichen anthropologischen Erwägungen heraus. Gutes Leben ist nämlich auf Dauer ohne den selbstlosen Einsatz für den Anderen, die Lebens-Hingabe an den Anderen nicht möglich. Wo es im Neuen Testament im Zusammenhang des Todes Christi um Opfer geht, ist nicht die Tötung und der Tod Jesu das Entscheidende, sondern das Motiv der Gabe bzw. Dahingabe Gottes oder Jesu Christi (vgl. Joh. 3, 16; 15, 13). Unternimmt man den Versuch, die vielen umlaufenden Be-Deutungen des Kreuzestodes Christi in aller Vorsicht begrifflich in theologischer »Logik« zu konzentrieren, so lässt sich die Lebens-Hingabe Christi »für uns«, »uns zugut« als deren (vielleicht) kleinster gemeinsamer Nenner bezeichnen. Auf jeden Fall ist das Hingabe-Modell nach wie vor in unserer kulturellen Kompetenz vorhanden und kann eine Analogiefunktion übernehmen, die als hilfreiches Modell an heutige Erfahrungsdefizite anschließbar ist. Blutige Opfer sind, schreibt der Literatur- und Kulturwissenschaftler René Girard, dabei denkbar weit vom Opfer Jesu entfernt, denn Jesus fügt niemandem Gewalt zu, im Gegenteil. Und Girard ist, obwohl er früher den Gebrauch des Wortes Opfer für das Kreuz Christi verwarf, jetzt der »Überzeugung, daß seine Selbsthingabe – so paradox es auch erscheinen mag – letztendlich in Begriffen des (Selbst-) Opfers beschrieben werden muß«: Opfer als Selbst- oder Lebens-Hingabe ereignet sich auch heute.

Obwohl oft verkannt, dürfen in dem Zusammenhang die positiven Funktionen und gewinnbringenden Folgen dieses Opfers und Opfermythos nicht übersehen werden. Wird das Opfer als Lebens-Hingabe verstanden, geht es nicht um eine Art »Einladung zum Blutvergießen«, sondern um dessen entlastende Bedeutung und gewaltbegrenzende Funktion. Jesu Tod verhindert eine Eskalation der Gewalt. Opfer reduziert und minimiert also »blutige Gewalt« eher, als dass es sie fördert, weil es das Konfliktpotenzial einer Gesellschaft konstruktiv transformiert. Die Transformationskraft des Opfers besteht darin, Probleme und Spannungen individueller wie sozialer Art reduzieren zu können. So gesehen bietet Opfer positiv begriffen der Gesellschaft Schutz vor Gewalt – wo aber das moderne Denken das Opfer »jenseits jeglicher Realität ansiedelt, geht die Verkennung der Gewalt weiter« (René Girard). Gewalt und Gewaltnachahmung (»Mimesis«) führen Girard zufolge stets zur Eskalation, zum »Kampf aller gegen alle« und damit zum Zerfall von Gesellschaften – was das »Wesen« des Bösen ausmacht. Gegen Gewalt und Gewalteskalation aber hilft letztlich, so Girard, nur das Opfer, das heißt die Wahl und der (Lebens-)Einsatz eines Opfers und dessen Ermordung bzw. Tötung. Opfer schafft (neues) Leben, indem es die Gewalt entweder durchbricht und überwindet (vgl. Hebr. 9, 26) oder zumindest die Kette der Gewalt unterbricht und im Sinne eines »liminalen Phänomens« (Victor Turner) einen temporären, vorübergehenden Ausstieg aus ihr ermöglicht. Ziel des Opfers ist damit der »gewinnbringende Tausch«, der auf die »Wiederherstellung der Unversehrtheit der Gemeinschaft« zielt, weswegen sich das Opfer als eine »Gottesgabe zur Ausfüllung eines anders nicht behebbaren Mangels der Gemeinschaft« (Christof Gestrich) darstellt. Aufs Ganze gesehen trägt das Opfer zum Bestehen und Bewältigen des individuellen wie gesellschaftlichen Alltags und der Lebenswelt bei.

 

 

• Pro-Existenz

 

Mit seinem Lebens-Opfer bietet Jesus Christus in einem zweifachen Sinne Leben an: Er bietet sein Leben Gott an und gibt es als Opfer dahin und schafft damit »für uns« eine neue Lebensmöglichkeit. Das Ziel solcher rettenden und aktiv (weniger passiv) verstandenen Hingabe als Opfer ist dann nicht, dass statt vieler wunderbarerweise nur einer stirbt, sondern dass durch die Lebenshingabe des einen viele mit dem Leben davonkommen und neue Lebensqualität gewinnen. So gesehen ist dieses Opfer biophil, nicht nekrophil, es liebt das Leben und nicht den Tod und macht ein befreiendes Lebensangebot. Dies kann man im besten Sinne des Wortes Pro-Existenz nennen: Sein für Andere. In dem Zusammenhang ist es wichtig zu sehen, dass viele neutestamentliche Texte, die gewöhnlich traditionell nur auf Jesu Tod bezogen werden, Jesu Christi ganzes Leben und Wirken umfassen. Sein Leben und Sterben (vgl. Mk 10, 45; 1. Petr 1, 18f.) ist das »Lösegeld«; der gute Hirte setzt sein Leben für die Schafe ein (Joh 10, 14–18; 1. Joh 3, 16). Dieser Lebenseinsatz beinhaltet Jesu Tod, aber der Tod ist nicht als Zielpunkt des Lebens intendiert. Dementsprechend hat die ganze Existenz Jesu Christi, nicht nur sein Tod und Sterben, soteriologische Relevanz und Pro-Existenz-Charakter. Damit ist aber auch nicht das »für uns gestorben« die Summe des christlichen Glaubens, wie in lutherischer Tradition immer wieder verkürzt bzw. komprimiert suggeriert wird. Dementsprechend findet in neuerer Theologie ein erneuertes Reden von Kreuz und Erlösung statt, das, wenn von Erlösung durch bzw. in Jesus Christus die Rede ist, nicht nur die äußeren Pole seines Lebens (Geburt und Kreuz), sondern auch seine Lebenspraxis bedenkt: Hier, in dem Gesamt seiner erlöst-erlösenden Lebensgeschichte, Kreuz und Auferstehung eingeschlossen, lernen wir Gottes erlösendes Handeln kennen, und hier kommt Gott erlösend auf uns zu.

Insgesamt gesehen hat der christliche Glaube damit sehr wohl mit dem Opfermythos zu tun, aber er ist nicht nur ein Mythos, sondern ein komplexes Lebensangebot zum Deuten und Bestehen von Welt und unserer Lebensgeschichten angesichts von durchkreuzenden Lebenserfahrungen und Opfern. Er verheißt Lebensgewinn und Lebensdienlichkeit »pro nobis«, freilich nicht im ausschließlich zweckdienlichen oder utilitaristischen Sinn. Christi Opfer kann dabei in christlicher Religion heute in drei Erscheinungs- oder Ausdrucksformen (vgl. Gerd Theißen, Die Religion der ersten Christen, 22001, 28ff.) zur Darstellung kommen: im Mythos, Ritus und Ethos. Im mythisch-metaphorischen Erinnern und Erzählen des Opfers und entsprechender Lebensdeutung gewinnen wir neues Leben und neue Lebensqualität, weil wir von Belastendem erlöst werden können. In den Riten (als Konkretisierungen des Mythos) und Sakramenten Taufe und Abendmahl als wiederholbaren Mustern können Menschen den Alltag unterbrechen und die im Opfermythos gemeinte andere Wirklichkeit darstellen, sinnlich-gestalthaft begehen und damit temporär aus den Belastungen der Normalwelt aussteigen oder zumindest Distanz dazu bekommen. Im Ethos schließlich geht es um die Orientierung und Regelung des Verhaltens, das, wenn es durch die Opfermetaphorik bestimmt ist, das Lebensopfer ebenso umfasst wie die gegenseitige Hilfe und Hingabe, aber auch – potenziell – das Opfer des Märtyrers, der Märtyrerin.

Am Ende spricht vieles dafür, dass das Opfer dort, wo es keine religiöse oder zumindest lebensweltlich und/oder (popu-lar-)kulturelle Artikulation mehr findet und so kein öffentliches Thema mehr ist, sich auf rein emotionale, unartikulierte Weise Luft macht oder gar seine zerstörerische Gewalt entfaltet. Die zahlreichen Selbstmordattentate der jüngsten Zeit könnten Anzeichen dafür sein. Das Opfer muss dargestellt und »begangen werden können, um gebannt zu werden« (Hans-Martin Gutmann). Die Aufgabe und die Chance christlichen Glaubens besteht in dem Zusammenhang darin, für das anthropologisch offensichtlich nicht übergehbare Opfer-Thema Expressions- und Gestaltungsmöglichkeiten anzubieten, welche alltägliche Opfer- und Gewaltmechanismen reduzieren und aufheben können. Ich denke, dass das ein für unsere SchülerInnen wirklich elementar notwendiges Thema ist, wobei das oben grundsätzlich Entfaltete jetzt natürlich noch didaktisch zu wenden und anzuwenden wäre. Dazu nur noch so viel: Im Erzählen von und Erinnern an die Hingabe Jesu, sodann im liturgischen und feiernden Begehen seines Opfers können Gewalt und Gewaltkreisläufe thematisiert werden, zur Sprache kommen und zumindest symbolisch unterbrochen werden. Gewalt muss nicht Gewalt gebären. Im ethischen Verhalten bzw. in ethischen Verhaltensmodellen kann schließlich zum Ausdruck kommen, dass zum Christsein das Dienen, das (Sich-)Hingeben konstitutiv gehört.

 

Vgl. zum Ganzen:

Werner H. Ritter (Hg.): Erlösung ohne Opfer? Göttingen 2003.

 

 

Anmerkung

 

1 J. K. Rowling, Harry Potter und der Stein der Weisen, Hamburg 1998, 324.

 

 

 

 

Über die Autorin / den Autor:

Prof. Dr. Dr. W. H. R. lehrt Ev. Theologie mit Schwerpunkt Religionspädagogik an der Universität Bayreuth.

Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 3/2004

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