Eilert Herms hat die Summe seines Nachdenkens über Martin Luthers Theologie in einer aufregend spannenden Monographie zusammengefasst: „Luthers Ontologie des Werdens“. Mit dieser Monographie könnte die evangelische Theologie in den Auseinandersetzungen unserer Zeit wieder an Boden gewinnen, wenn nämlich gesehen wird, dass protestantische Theologie seit jeher mit Luther ein Verständnis der Wirklichkeit als ganzer teilt, die aus dem Ursprung biblischer Theologie eine (die protestantische) universale Perspektive für das Leben in unserer Gesellschaft aufzeigt, die das Erste, die Mitte und das Letzte (Schöpfung, Erlösung und Vollendung) umfasst. Dies geschieht bei Herms’ Deutung von Luther in einem bezwingenden Optimismus, der Mut zum pastoralen Handeln macht.

Das sieht jedoch offenbar nicht jeder so! In Dietrich Korschs Rezension von Eilert Herms „Luthers Ontologie“ in der Theologischen Literaturzeitung (ThLZ) geht es anscheinend darum, sich ein theologisches Werk vom Leibe zu halten. Es vermittelt sich dem Leser der Eindruck, dass Herms’ Werk mit spitzen Fingern berührt, aber nicht zur Hand genommen wurde. Wie soll man sonst Aussagen verstehen, in denen der Rezensent uns mitteilt, unter welchen Bedingungen er dem Werk hätte „freier, schneller und froher folgen können“ (1244), wenn sich nämlich „Genauigkeit wieder in flüssigen Ausdruck zurückverwandelte“ (ebd.)?

Dem Werk wird vorgeworfen, dass seine Sprache verberge, dass ihm eine „schlichte dogmatische Normalgestalt“ (ebd.), eine „Normaldogmatik“ (ebd.) zugrunde liege. Der Autor bemängelt, dass Herms Luther nicht stärker historisch akzentuiert, wie es Reinhard Schwarz in „Martin Luther – Lehrer der christlichen Religion, Tübingen 2. Aufl. 2016“ getan habe.

Das darf man als sonderbar bezeichnen, da es sicher zu jedem Werk ein Dutzend andere Werke gibt, die anders verfahren, als dasjenige um das es geht. Der zentrale Kritikpunkt von Korsch zielt aber auf „das [von Herms vorgetragene] Verständnis von Auftreten und Geschick Jesu Christi in der Geschichte“ (1245) und dieser Punkt zeigt präzise, dass der Autor die sachliche Pointe von Herms Werk verborgen geblieben ist: dass nämlich die soteriologische Lebensgewissheit in einer Gewissheit von Wahrheit über das Ganze unserer Lebenswirklichkeit begründet ist.

 

Umgreifendes Verständnis der Gesamtwirklichkeit

Herms will klarstellen, wovon in der christlichen Normaldogmatik in den Augen Luthers tatsächlich die Rede ist: eben vom Im-Werden-Sein unserer Welt (und darin auch unseres Lebens), und zwar von ihrem Im-Werden-Sein vermöge des Verwirklichtwerdens ihrer Zielgestalt im ewigen schaffenden Leben des dreieinigen Gottes.

Bei Korsch scheint Gottes Handeln in Jesus Christus „eine neuartige [Kursivierung – D.K.], Gottes Wirken in sich selbst vertiefende Tat“ (ebd.) darzustellen. Wohingegen Herms mit Luther (und übrigens auch schon mit dem altkirchlichen Bekenntnis, dem Apostolikum) das Verständnis der im Christusgeschehen begründeten Rechtfertigung mit sachlogischer Notwendigkeit in ein umgreifendes Verständnis der Gesamtwirklichkeit als Verwirklichung des Anfangs und Endes der Schöpfung als Einheit umgreifenden ewigen Schöpferwillens eingebettet und getragen sieht. Nur eine Sicht der Dinge, die die Einsicht der Priesterschrift (Gen. 1,36: „siehe, es war sehr gut“) festhält, kann das Heilsgeschehen in das Jesus Christus hineingehört, als Verwirklichung des ewigen Heilswillen Gottes, dessen Ursprung und Ziel seine Güte ist, explizieren. Genau das macht Herms in Luthers Ontologie.

Korsch schließt mit dem Satz: „Die Zustimmung zu der von H. Entworfenen und an Luther profilierten Ontologie des Werdens hängt am Ende doch von der individuellen Zustimmung ab, die der von Gott selbst gewirkte Glaube im Menschen wachruft“ (1246). Dieser Satz ist entweder trivial, wenn er nämlich nur besagen will: Ob jemand dem Beschriebenen zustimmt oder nicht hängt davon ab, ob es ihm einleuchtet. Oder er ist, nämlich dann, wenn man ihn als Aussage über das Verhältnis von „fides qua“ und Theologie auffasst, gründlich irreführend. Zunächst lässt er im Dunkeln die unhintergehbare Bedingtheit der je individuellen „fides qua“ durch ihren Gegenstand, das „äußere Wort“, also durch die „fides quae“, die eine und gemeinsame ist für alle einzelnen Gläubigen und diese – alle Unterschiede der Variationen ihrer individuellen „fides qua“ übergreifend – zur „Gemeinschaft der Glaubenden“ zusammenschließt. Sodann verkennt er Auftrag und Arbeitsweise christlicher Theologie, die als „fides (in der unlöslichen Bedingtheit der „fides qua“ durch die „fides quae“) quaerens intellectum“ die „fides quae“ (das Was des Glaubens) gedanklich klar zu explizieren hat, aber keinesfalls die „fides qua“ (das Dass des Glaubens) zu begründen hat und das auch gar nicht kann (vielmehr die fides qua der fides quae immer schon als ihren Gegenstand voraussetzt). Gleichzeitig immunisiert er dann auch noch die individuelle „fides qua“ gegen die Resultate der reflektierenden Explikation der „fides quae“ (also gegen Theologie). – Soweit mein Befremden über Korschs Statement.

 

Die Notwendigkeit metaphorischer Rede

Demgegenüber hat mir als Pfarrer im kirchlichen Dienst Herms’ Nachzeichnung von „Luthers Ontologie“, also Luthers Sicht der „fides quae“, viele Lichter aufgestellt und mein kirchliches Handeln beeinflusst, daher möchte ich im Folgenden einige meiner Lektüre-Früchte mit meinen Kolleginnen und Kollegen im Amt teilen.

Bekanntlich hat Martin Luther den Tod als Übergang ins ewige Leben mit der Geburt eines Kindes verglichen: „Und es geht hier zu, wie wenn ein Kind aus der kleinen Wohnung in seiner Mutter Leib mit Gefahr und Ängsten geboren wird in diesen weiten Himmel und Erde, das ist unsere Welt; ebenso geht der Mensch durch die enge Pforte des Todes aus diesem Leben. Und obwohl der Himmel und die Welt, darin wir jetzt leben, als groß und weit angesehen werden, so ist doch alles gegen den zukünftigen Himmel viel enger und kleiner, wie es der Mutter Leib gegen diesen Himmel ist.“ (aus: Ein Sermon von der Bereitung zum Sterben, 1519, WA 2, 685)

Wir sehen an diesem Beispiel, dass es unmöglich ist, die Wahrheit des christlichen Wirklichkeitsverständnisses in einer Sprache auszusprechen, die uns das moderne oder postmoderne wissenschaftliche Denken vorgeben will. Die Wahrheit, in der sich christliche Gewissheit ausspricht, muss sich metaphorischer Rede bedienen, ja, und auch die biblischen Geschichten in ihrem Wortsinn ernst nehmen. Genau das hat der seinesgleichen suchende Bibelkenner Martin Luther gemacht. Wie bei keinem zweiten ist seine systematische Theologie biblische (nicht biblizistische) Theologie.

Den Schatz dieser lutherischen biblischen systematischen Theologie hebt nun Eilert Herms, indem er für uns „Luthers Ontologie des Werdens“ nachvollzieht: „(D)ie Prozessualität (das ‚fieri‘) von Welt und Leben der Menschen als ‚gods own work in progress‘ zu dessen von seinem Schöpfer uranfänglich gewollter Endgestalt.“ (Herms, Luthers Ontologie (folgend LO abgekürzt), XIX)

Im Nachwort seiner „Systematischen Theologie“ (Tübingen 2017) schreibt Eilert Herms: „Die Wirklichkeit, in der sich die Christen finden und mit allen (noch) Nichtglaubenden zusammenleben, ist das Herz Gottes.“ (3406f) Die Explikation dieser unsere Realität aufschließenden Metapher liefert „Luthers Ontologie“. Wer sich dem Duktus dieses Buches anvertraut, wird begeistert sein, viel Gewinn davon haben, ein sensationelles theologisches Werk in den Händen halten und seine pastorale Praxis neu „aufstellen“. Wer seine Schultheologie gelernt hat, aber wissen will, wie alle ihre Details ineinandergreifen, muss dieses Buch lesen. Diese kohärente Nachzeichnung des einheitlichen Sachbezugs reformatorischer Theologie macht die Einheit von Zusammenhang und Ordnung aller Einzelthemen durchsichtig: es wird eine eschatologisch fundierte Schöpfungstheologie geboten, die mit Luther Gen. 1-3 von Joh. 1 aus versteht, es wird eine trinitätstheologisch elaborierte Fundamentalanthropologie zur Sprache gebracht, die dem Sapiens (uns!) die dominierende Attraktivität ihres ewigen Grundes im Wollen und Wirken des Schöpfers vorstellt.

 

Das Ganze im Einzelnen

In einem zweifachen Durchgang wird einmal die trinitätstheologische Entfaltung einer eschatologisch gesichteten Kosmologie und einmal die fundamentalanthropologische Sicht des Weltgeschehens von Adam bis zum je eigenen erlösten Selbstgenuss seiner selbst in seinem Genossenwerden durch Gott erschlossen. Es wird zweimal das Ganze in Blick genommen, ohne Einzelnes links liegen zu lassen.

Dabei stehen beide Durchgänge in einem präzisen Verhältnis zueinander. Der erste weist auf den zweiten voraus (die Beschreibung der fundierenden Seite des „fieri“ auf die der fundierten Seite) und der zweite auf den ersten zurück (die Beschreibung der fundierten Seite des „fieri“ auf die der fundierenden). Diese Darstellung folgt der Sache, wenn nämlich ein einheitliches Geschehen eines asymmetrischen Verhältnisses zur Sprache gebracht wird. Das Evangelium (die „Selbstverkündigung“) Christi erschließt eine Sicht auf die Welt-der-Menschen, die eine Sicht auf das Wesen Gottes impliziert, und eine Sicht auf das Wesen der schaffenden Allmacht, die eine Sicht auf unsere Welt als Schöpfung impliziert. Keine christliche Gotteserkenntnis ohne Erkenntnis des Menschen und seiner Welt – und keine christliche Erkenntnis des Menschen und ihrer Welt ohne eine Erkenntnis ihres Schöpfers.

Der besondere Genuss, den die Lektüre des Buches schenkt, liegt in der immer konkreter werdenden Darstellung des Ganzen im Einzelnen. Dies geschieht nämlich nicht in einer additiven Folge von Loci, sondern in einer dichten, sicheren Beschreibung des sachlichen Platzes alles Einzelnen in der zielstrebigen Dynamik des einheitlichen Wollens und Wirkens des Schöpfers. Der Leser kann mitvollziehen, wie alle Fäden, die im einheitlichen Anfang angelegt sind, zusammengehalten werden und wie durch Berücksichtigung und Aufnahme immer weiterer Aspekte schließlich das vollständige Bild entsteht.

Das ist deshalb möglich, weil der Autor Luthers Theologie ernst nimmt. Jeder Schritt ihrer – nichts links oder rechts liegen lassenden, sondern alles mitführenden und jeweils weitere Konkretisierungen einfügenden – Nachzeichnung in Herms’ eigener Sprache wird im Anmerkungsteil an Luthertexten philologisch exakt und nachvollziehbar belegt.

Das Lesen wird zu einem „weitflächigen“ Erleben, wenn man vom ca. 300seitigen Grundtext ausgeht, sich gleichzeitig in die ca. 200seitigen Anmerkungen vertieft, um dann auch auf die, als Referenz angegebenen und den Grundtext vorbereitenden, älteren Aufsätze von Eilert Herms zurückzugreifen, um schließlich manches wieder bei Luther nachzulesen und nicht zuletzt die Bibel hinzuzuziehen. Mit Luther wird man das ATund besonders die Genesis als „durchweg ein evangelisches Buch“ (WA 8, 12) lesen. Dem Wort „ewiglich“ aus Ps. 118 wird man mit Luther (dank Herms’ Insistieren) wieder seinen eigentlichen Sinn abspüren, dass nämlich Gott „für und für“ „unablässig […] für uns immer und immer das Beste“ tut, „jeden Augenblick“ (WA 31/1, 69-71).

Ich wünsche jeder Kollegin und jedem Kollegen, dass es ihnen gelingen möge, die andringende Masse von Verwaltungstätigkeit eine zeitlang hintanzustellen und einmal ein paar Wochen täglich ein bis zwei Stunden „Luthers Ontologie“ zu lesen. Nicht wenige pastorale Fragen werden sich klären und manche Probleme in einem anderen Licht gesehen, wenn dieser Freude und Mut machende Text zum Kontext unseres Handelns wird. Wenn nachvollzogen wird, was alles stimmt und stimmig ist, kann fröhlich und mutig gearbeitet werden.

 

Allmacht Gottes?

Für Luther stand fest: „Wenn die Sonne nicht einen Tag schiene, wer wollte nicht lieber tot sein?“ (ebd.) Für Nietzsche war es „ein ungeheure(s) Ereignis“, das „noch unterwegs“ ist, „als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten“ (Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, Aphorismus 125). Für manche in unserer Pfarrerschaft steht es jedoch scheinbar außer Frage, in Betracht historischer und heutiger Krisen Abstand zu nehmen vom Bekenntnis zur Allmacht Gottes (vgl. LO, Anm. 571, sowie Anm. 206, 210, 270, 330). Aber „Schöpfung als den Verzicht Gottes auf sein Gottsein“ zu denken und die Rede von Gottes Allmacht aufzugeben, führt zu einem heillosen Deismus, dem auch der Gedanke, dass Gott in der Ohnmacht Christi am Kreuz seine Allmacht offenbart, alleine nicht aufhelfen kann, wenn nämlich Gottes Güte und Allmacht von Anfang an (Gen. 1,31) nicht nachvollzogen wird.

Luther: „Der „höchste Artikel des Glaubens“ ist: „Ich glaube an Gott Vater, den allmächtigen Schöpfer Himmels und Erden. Und welcher das rechtschaffen glaubt, dem ist schon geholfen und wieder zurechtgebracht und dahin gekommen, wo Adam von gefallen ist.“ (WA XXIV, 10,27f; zitiert: LO, Anm. 333) Herms: „Auch für Luther ist Ontologie Theologie nur in der Weise, daß sie zugleich Kosmologie ist. Für Luther war klar, dass das durch die Christusoffenbarung, durch das Auftreten und Geschick des in Jesus inkarnierten Schöpferwortes, gegebene Evangelium das innerweltlich abschließende Zeugnis von Ursprung, Verfaßtheit und Ziel des Weltgeschehens (d.h. des Geschehens von dieser unserer Welt und des Geschehens in ihr) als Schöpfungsgeschehen ist. Dies ist das Evangelium deshalb, weil es das Christusgeschehen beschreibt als den Gipfel der innerweltlichen Erfüllung der objektiven Verheißung und der subjektiven Erwartung, die der geschaffenen Welt als solcher von Anfang an, also ‚in principio‘, eingestiftet sind, und die als die Erfüllung der Verheißung und Erwartung dasjenige Ziel des Schöpfungsgeschehens […] unbezweifelbar gewiss macht, auf welches dieses Geschehen selber objektiv, […], ausgerichtet ist: nämlich auf das Erleiden seiner Endlichkeit, genau: seines Endens, als der Erreichung seiner Ewigkeitsgestalt.“ (LO, 73)

 

Missverständnisse in der Dogmengeschichte

Viele sich durch die Dogmengeschichte ziehende Missverständnisse klärt Herms dank seiner präzisen Lutherlektüre: Es wird deutlich, dass das Marburger Religionsgespräch 1529 einen anderen Verlauf genommen hätte, wenn Luthers Wunsch entsprochen worden wäre, mit einem Dialog über die Trinität zu beginnen (vgl. LO, 192). Weil der ontologischen Rahmen von Luthers trinitarischem Panentheismus ausgeklammert wurde, konnte ein reformiertes Verständnis des „lokalen“ Erhöhtseins Christi Raum greifen und die Ortsverschiedenheit von „Himmel“ und „Erde“ dominant werden, die „dem Welt-schaffenden ‚operari‘ des dreieinigen Schöpfers in der unbegrenzten Dauer seiner Selbstpräsenz“ widerspricht (LO, 193); und natürlich auch seiner realen Selbstpräsenz in den Gaben des Mahles, in denen er sich explizit „zu finden“ gegeben hat.

Es wird deutlich, dass der römischen Lehre von „Natur“ und „Gnade“ eine Anthropologie zugrunde liegt, die das Fundiert- und Getragensein des Menschen als Geistwesen (als Person, als „Sapiens“) in dem und durch den von Vater und Sohn bestimmten eigenen Geist des Schöpfers und somit in der durch die Gnade schon des Schöpfers und seines Schaffens heilszielstrebig gewährten Teilhabe (participatio) an Gottes eigenem Geist im Dunkeln lässt; damit aber auch die geschöpfliche Bestimmung des Menschen als geschaffener Personen, die von Anfang an gilt und zielorientiert durchgehalten und verwirklicht wird (vgl. LO, 234f).

Diese uranfängliche Bestimmung des Geschöpfes zur Seligkeit der Gemeinschaft mit seinem Schöpfer macht seine unverlierbare ursprüngliche Güte aus (Gen. 1,31); menschliches Leben ist kontinuierliches Erleiden des Verwirklichtwerden der ihm unverbrüchlich geltenden Ursprungsverheißung durch den Schöpfer selber; was Luther zur Sprache bringt in der positiven Beschreibung des Wesens, der „Natur“, des Menschen als „natura creata et formanda ad gloriosam futuram suam formam“ („Natur, die geschaffen ist und [von ihrem Schöpfer selber] zu ihrer zukünftigen Herrlichkeitsgestalt zu ‚formieren‘ [zu gestalten, zu bilden] ist“) – über ihre im „Fall“ offenbare Schwäche hinaus.

Das tritt aber in der evangelischen Lutherrezeption schon seit dem 16. Jh. zurück hinter der ausschließlichen Betonung des postlapsarischen Zustands als „natura corrupta“. Dies negative Bild wird vor Luthers positives Bild der menschlichen Natur gestellt, so dass im reformatorischen Christentum die Gewinnung eines positiven Verhältnis zum Natürlichen, Allgemeinen und Alltäglichen, also auch ein Lebensoptimismus, der vom Letztvertrauen in die Gnade und Wahrheit der schaffenden Allmacht getragen ist (vgl. LO, 309 und Anm. 1539), deutlich erschwert wurde.

Auch die Säkularisierung führt nicht darüber hinaus, sondern zu einer enggeführten Lebensgewissheit, in der es in unserer durch Wissenschaft und von modernen Mythen geprägten Sicht auf die Wirklichkeit nur mehr darum geht, das „empirische“ Leben so lange wie möglich zu erhalten. Das Letztvertrauen wird auf die eigene Kraft lebensdienlicher Selbststeigerung gesetzt (vgl. LO, 311f). Der Kampf gegen den Tod ersetzt das Schöpfervertrauen, das Erlösung erfahren lässt: „Durch den Gottesdienst, den der Erlöser gestiftet und als das dauernde Medium seiner erlösenden Gegenwart hinterlassen hat.“ (LO, 313)

 

Woraufhin glauben?

Bleibt zu klären, wie man reden kann, wie Herms mit Luther und Bibel redet. Muss man dem Zeugnis von Bibel, Luther und nun auch Herms glauben? Verneigen wir uns vor autoritären Setzungen, wenn wir in solcher Weise „glauben“? Auch die Beantwortung dieser Frage hat weitreichende Folgen für unsere pfarramtliche Praxis, besonders unser Predigen.

Herms: „Der heillose Mißverstand von ‚Glauben‘ als sich verlassen auf ein Zeugnis der Wahrheit statt als sich Verlassen auf die evident gewordene“ und „gewisse“ (d.h. nicht kohärent bezweifelbare) „Wahrheit des Zeugnisses ist erst dann überwunden, wenn das Ganze des … (…) Geschehens und sein Effekt im Blick steht, auf den der Glaube sich verlässt: eben auf das Evidentgewordensein der Wahrheit der konkret erfassten Zeugnisreferenz für den Zeugnisadressaten als Grund seines konkretisierten seiner-selbst-Gewißseins.“ (LO, 43)

Wir glauben nicht den Aussagen der Autoren, sondern uns leuchtet ein (offenbart sich, erschließt sich) die „Kraft“ des Evangeliums, nämlich der Gegenstandsbezug des Gesagten, der auf die Lebensgegenwart der Menschen zielt und sie („ubi et quando visum est Deo)“ als Einzelne trifft und erleuchtet. Das kann dazu ermutigen, in der Predigt weder nur das Zeugnis/die Zeugen zu rezitieren, noch an sich selbst („persönlich“) die Wahrheit der Texte zu demonstrieren, sondern darauf zu vertrauen, dass der Gegenstandsbezug, den wir gewährleisten, selbst seine Hörer schafft. Dazu ist Vertrauen in den Gegenstand des Glaubens nötig und der Mut, ihn unseren Hörern auch zuzumuten, seinen Inhalt für sie freizulassen und diesem Inhalt auch selber das Evidentwerden seiner Wahrheit für sie zuzutrauen.

Wir warten alle auf Gottesdienste, in denen das Vertrauen auf Gottes Gegenwart einfach da ist und nicht persönlich demonstriert werden oder dogmatisch gesetzt werden muss. Gottesdienst als Feier der vertrauensvollen Hingabe an den Schöpfer, der gewiss sein Werk, das er begonnen hat auch vollenden wird. Gottesdienst, bei dem die Gewissheit der Gegenwart Christi im Abendmahl als konkrete Gestalt der Glauben schenkenden Kraft des Heiligen Geistes erfahren wird. Herms’ „Luthers Ontologie“ ist eine Klärungshilfe, die unserer pfarramtlichen Praxis gut tut, eine theologische Besinnung, auf die wir lange gewartet haben.

 

Literatur

Eilert Herms: Luthers Ontologie des Werdens. Verwirklichung des Eschatons durchs Schöpferwort im Schöpfergeist. Trinitarischer Panentheismus, Tübingen (Mohr Siebeck) 2023 (ISBN 978-3-16-161784-3), 548 S., 99,00 €

Dietrich Korsch, Besprechung, in: Theol. Literaturzeitung 148 (2023), Sp. 1244–1246

 

Dirk Kutting

 

Über die Autorin / den Autor:

Pfarrer Dr. Dirk Kutting, Jahrgang 1961, Schulseelsorger am Rabanus-Maurus-Gymnasium, Mainz.

Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 3/2024

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