Florian Schneider sucht in einem zweiteiligen Beitrag das Gespräch mit der Philosophie Theodor W. Adornos. In einem ersten Teil hatte er die Gesellschaftskritik Adornos dargestellt, die der Moderne Tendenzen in Richtung Inhumanität bescheinigt. In diesem „falschen“ Umfeld könnten jedoch Hoffnungsperspektiven eines „richtigen Lebens“ in den symbolischen Handlungen kirchlicher Sakramente aufblitzen, wie Schneider nun im zweiten Teil ausführt.

 

Wer sein Leben erhalten will, der wird’s verlieren“ (Mk. 8,35). Dieses Jesuswort bekommt von Adorno Aufklärungsdiagnostik her eine plastische Füllung. Eine Korrektur aufklärerischen Zugriffs auf Natur samt seiner katastrophalen Folgen ist für Adorno so unvorstellbar wie not-wendig: Gesucht wird – Hoffnung für den Hoffnungslosen! – eine Rettung des Niemand.

Dafür müsste eine neue Kategorie eingespielt werden, eine theologische, am Gedanken der imago dei orientierte.46 Wie dieser kategoriale Rahmen inhaltlich ausgefüllt werden müsste, erhellt aus zwei Zitaten. Gegen ein simples Identitätsdenken ist eine Perspektive zu suchen, die sich jenseits von Identität wie Heterogenität entwirft: „Der versöhnte Zustand annektierte nicht mit philosophischem Imperialismus das Fremde, sondern hätte sein Glück daran, daß es in der gewähr­ten Nähe das Ferne und Verschiedene bleibt, jenseits des Heterogenen wie des Eigenen.“47Konjunktivisch wird die Möglichkeit eines versöhnten Zustandes angedeutet als dialektisches Verhältnis zum Fremden wie zu sich selbst bar jeder diktatorischen Instrumentalisierung. Gegen ein plumpes sese conservare ist ebenso eine dialektische Mitte zwischen Identität und Heterogenität denkerisch erforderlich: „Frei sind die Subjekte … soweit, wie sie ihrer selbst bewußt, mit sich identisch sind; und in solcher Identität auch wieder unfrei, soweit sie deren Zwang unterstehen und ihn perpetuieren. Unfrei sind sie als nichtidentische, als diffuse Natur, und doch als solche frei, weil sie in den Regungen, die sie überwältigen – nichts anderes ist die Nichtidentität des Subjekts mit sich –, auch des Zwangscharakters der Identität ledig werden.“48 Echte Identität hätte in sich beide Momente von Freiheit und Unfreiheit, müsste sich dialektisch zwischen Identitätszwang und diffusem ­Zerfließen konstituieren.

 

„Niemand“ wird getauft

In das heillose Gefüge aus Selbsterhaltung und Liquidation gibt die Taufe einen rettenden Impuls, indem sie simples Identitätsdenken zerbricht: „Ich lebe, doch nun nicht ich, sondern Christus lebt in mir“ (Gal. 2,20), eine Aussage, die ihren realen Erfahrungshintergrund in der Taufe hat und eine neue Lebenshaltung ausdrückt. Christus wird dergestalt das neue Personzentrum, dass diese Besetzung die Ichinstanz nicht annulliert („ich lebe“). Identität wird zugeeignet jenseits des Heterogenen wie des Eigenen, jenseits von Identitätszwang und Aufgehen im Nichtidentischen, wodurch im Vollzug des Taufgeschehens die Bedeutung der Selbsterhaltung relativiert und in ihrer Grundsätzlichkeit zerbrochen wird.

W. Pannenbergs Tauftheologie kann als Explikation dieses Zusammenhanges gelesen werden.49 Mit der Taufe wird eine „neue Identität … ‚außerhalb‘ des alten Menschen gesetzt …, so daß sein Leben dazu bestimmt ist, von ihr absorbiert und in sie hinein verwandelt zu werden“ (283). Nicht in Unterwerfung und Restriktion des Draußen, sondern umgekehrt: Nur „außerhalb“ kann Identität erlangt werden, nur in der „Exzentrizität der neuen Identität des Getauften im Verhältnis zur Ichzentriertheit des alten Menschen“ (284). Diese exzentrische Identität ist gewonnen durch Mitvollzug und Teilhabe am Geschick Jesu Christi. „Die Wiedergeburt oder Neukonstitution der Person durch die Taufe hat zum Inhalt, daß … sein (oder ihr) Personsein fortan durch die Beziehung zu Gott, und zwar konkret durch Teilhabe an der Sohnesbeziehung Jesu zum Vater konstituiert ist“ (268). Diese „Teilhabe an der Sohnesbeziehung“ ist zu denken als zeichenhafte Teilhabe am Sterben des Gottessohnes, als schon jetzt durch den Geist verbürgte zeichenhafte Antizipation einer künftigen Teilhabe am Auferstehungsleben (270).

Denkbar ist für Adorno eine Überwindung der ichfixierten Selbsterhaltung durch ein am Leben und Sterben Christi orientiertes Lebensmodell; wogegen er sich wendet, ist der vermeintliche Verordnungscharakter.50 Offensichtlich hat Adorno aber wahrgenommen, dass ein an Christus teilhabendes Leben neue Identität jenseits herrschaftlicher Selbsterhaltung prinzipiell realisieren kann. Anstelle der odysseushaften Dominanz über alles Anderssein steht die am Weg des Gottessohnes teilgebende Taufe für eine Selbstexplikation, die sich an ihr Anderes entäußert und gerade dort sich selbst findet.

Diese sakramentale Darstellung des Sichgegebenseins des Individuums und die Neukonstitution der Person haben ihren Skopus darin, dass sich der Täufling im Vollzug der Taufe nach dem Bilde des Gottessohnes gezeichnet findet. Er (oder sie) wird mit dem Kreuz markiert und mit Wasser getauft – in den Tod Christi hinein und in die Hoffnung hinein, auch am Auferstehungsleben teilzuhaben. Zwischen amorphem Zerfließen (bis in den Tod) und Befestigung an Person und Geschick Jesu Christi legt sich das Leben des Täuflings aus – zwischen Freiheit und Zwang, zwischen Heterogenem und ab extra zugeeigneter Identität. Diese Begegnung verändert potentiell die Person: Ihrer Selbsterhaltung entkleidet, wird ihr ein neues Leben zugeeignet, das in Christo konstituiert ist: Repression und Freiheit in einem.

 

Die Taufe als eschatologischer Freiraum

Die Taufe ist als göttliche Rettungstat zu verstehen, die das Personhafte menschlicher Individualität wahrt und zugleich Menschen von ihrem unmittelbaren Dasein unterscheidet, sie in Christus absorbieren, aber darin gerade Ich sein lässt. Insofern taugt die Taufe als ein eschatologischer Freiraum, etabliert eine humane Zelle im inhumanen Allgemeinen. Sie schafft eine rituelle Inszenierung, die Subjekt und Nicht-Ich, Freiheit und Repression in ihrer dialektischen Verwobenheit und zur Rettung des Niemand darstellt, und zwar jenseits vom Identitätszwang, durch Zueignung einer jenseitigen Identität.51 Adorno könnte in der Taufhandlung eine Repristination mimetischer Praxis erkennen, ein anschmiegendes Verhalten mittels eines äußeren Impulses, „kaum intelligible, sondern wesentlich körperliche Aktivität“52.

In diesem körperlichen Aspekt steckt schließlich ein besondernder Clou: Weil Leiblichkeit grundlegende Dimension menschlicher Individualität ist, kann der Mensch stricto sensu nur unter Einschluss seiner Leiblichkeit als individuelles Ich bestimmt werden. Das Taufgeschehen impliziert das aktuale Erlebnis des leiblichen Selbstbeteiligtseins; die körperliche Vermittlung bedeutet unvertretbare individuelle Zueignung und konterkariert auch in dieser Rücksicht die Selbsterhaltung: „Der Leib artikuliert ein Weltverhältnis, aber er rekonstruiert, funktionalisiert und verbegrifflicht es nicht. […] Als die Natur, in der ich bin, enthält der Leib das Nichtverfügbare mit, zu dem ich mich verhalten kann, ohne es je ganz in die Hand zu bekommen. Im Leib und seiner Welt habe und erfahre ich einen Bezug, in dem unaufhebbar Gegenüber bleibt, was zugleich intim ­Meines wird. Was sekundäre Systeme nicht können, leistet der Leib: er verbindet Funktion mit Sinn, Sinn mit Erfüllung. Sein wirkliches Allgemeines ist nicht System und Methode, nicht Hypothese und Klassifikation, sondern ein sich organisierendes und wahrnehmendes, zum Bezug und zur Anschauung bildendes Ganzes-im-Prozeß …“.53 Durch die mit dem Taufvollzug verbundene Verkörperung „kann der Mensch für das höhere Selbst, das er ist, aufgeschlossen werden und innere Bewußtheit erlangen. […] Der Mensch kann sich von festgelegten Mustern befreien, weil sein Körper nicht lediglich reproduziert, sondern in der Form der (Selbst-)Wahrnehmung aktualisiert.“54 Während Menschen selbsterhalterisch sich als Unterfälle eines Allgemeinen einsortieren, werden sie durch das leibliche Sakramentsgeschehen und das darin beschlossene Gottesverhältnis als Personen individualisiert und inkommensurabel.

 

Das Tauschprinzip beherrscht die Gesellschaft

Adorno rekonstruiert das Wesen der nach dem inhumanen Allgemeinen konstruierten Gesellschaft mit einem Fokus auf dem systematisch schwerlich zu überschätzenden Tauschprinzip. In ihm findet das begriffliche Identifikationsprinzip seinen gesellschaftlichen Ausdruck und seine expandierende Form.55 Das soziale Pendant zum selbsterhaltenden Aufgehen im Objekt ist eine Regression „auf den Stand des bloßen gesellschaftlichen Objekts“56. Die Kategorie des Tausches ist in Adornos Interpretation zugleich ökonomisches Prinzip (als Struktur kapitalistischer Gesellschaft) und meta-ökonomisches Prinzip (als Moment identifikatorischen Denkens).57 Der äquivalente Tausch – ein alles durchsetzendes: quid pro quo? – ist identifikatorisches Denken in gesamtgesellschaftlicher Potenz und Aktualität.58

Der Tausch besteht darin, dass Wertgleiches getauscht wird. So nachvollziehbar der sich darin meldende Grundsatz der Gerechtigkeit prima facie sein mag; in Wahrheit wird Ungleichheit Vorschub geleistet.59 Der Tausch ist darin mit dem identifikatorischen Rationalitätsprinzip verwoben, dass auch er gänzlich auf dem Gleichheitsprinzip und dem Qualitäten in Quantitäten verwandelten Prinzip der aufklärerischen Moderne basiert.60 Mit der Elimination des Qualitativen stellen sich Deformationen ein. Angelpunkt der Argumentation ist es, wenn Arbeit in einen Tauschvorgang involviert ist, wenn menschliche Arbeitszeit bzw. der Mensch selbst getauscht wird.61

Infolge der Tauschlogik wechseln Leben und Produktion/Markt dergestalt rasant ihre Positionen, dass „jenes real herabgesetzt [wird] zur ephemeren Erscheinung von dieser“62. Äquivalenzdenken infiziert den letzten Winkel der Existenz: der Mensch ist – vermeintlich! – zum Tauschen geschaffen, wirklich alles ist im Tauschwert ausdrückbar, Quantifizierung herrscht, die der qualitativen Differenz feindlich ist.63 Die Präponderanz des Äquivalententausches durchdringt die Menschen und macht „jede ihrer Regungen als eine Spielart des Tauschverhältnisses a priori zugleich kommensurabel“64. Die Argumentation läuft darauf hinaus, dass das Individuum lediglich Funktion des Tauschprinzips ist, dass jeder individuelle Mehrwert des Ichs über „Betriebsleiter“ bzw. „Betriebsmittel“ hinaus – ja sogar die qualitative Selbstunterscheidung des Ichs als „Betriebsleiter“ vom „Betriebsmittel – verlustig geht.65

 

Das Apriori der Warenförmigkeit

Dieser Endpunkt der Argumentation entspricht den Ausführungen zur Selbsterhaltung insofern, als dort wie hier der herrschaftliche Zugriff eine fatale Rückkoppelung im Subjekt auslöst: Der aufklärerische Zug zur Zahl – in sich hoch mythisch, weil auf das Prinzip der Wiederholung ausgerichtet – löst einen Quantifizierung- und Abstraktionsvorgang aus, sofern Zahlen darauf aus sind, „das Nichtidentische unter dem Namen des Vielen dem Subjekt kommensurabel zu machen“66. Damit wird das An-sich der Dinge zu einem Sein-für-anderes, Qualität zur Quantität, Individuelles zum Austauschbaren und insofern zur Ware, als Quantität und Für-anderes-Sein die ökonomischen Eckpfeiler des Marktes sind.67 Funktionierender Tausch setzt Kommensurabilität voraus; totaler Tausch totale Kommensurabilität, d.h. die Abstraktion von Qualitäten, das Aufgehen in einem Für-anderes-Sein, Nivellierung und Liquidation. Durch das Äquivalenzprinzip entsteht das sich totalisierende Apriori der Warenförmigkeit.68

Zwei wichtige anthropologische Konkretionen des Lebens unterm Tausch sind zu vergegenwärtigen. Einmal: Eine alles durchdringende Konkurrenz wird zum menschlichen Grundmuster, Signum der „Unterwerfung des Lebens unter den Produktionsprozess“69. Echter Tausch müsste eine konkurrenzegoistische Gesellschaft aufheben. Sodann: Selbst eine zwischenmenschliche Außerkraftsetzung bzw. Überbietung des Äquivalententauschs ist beschwert; gemeint sind das Gewähren und das Annehmen von Geschenken. Eine alles durchwaltende Lieblosigkeit ist die Konsequenz unter den Bedingungen universaler Verwertbarkeit.70 In dem Maße, wie auch das Schenken mit einem abwägenden quid pro quo verquickt wird, wird es verlernt.71 Zum korrumpierten Handeln gehört gar eine „Verhärtung gegen das Nehmen“72. Zu Agenten des Wertgesetzes verflüssigen sich die Tauschenden.

Adorno deutet im Konjunktiv an, wie eine Rettung auszusehen hätte: eine Sphäre, die den Gesetzen der Produktion enthoben wäre.73 Als Konkretion finden sich nur wenige und vage Andeutungen. Gegen das einseitig quantifizierende Tauschprinzip setzt Adorno „das Ideal des freien und gerechten Tausches“74. Worin genau es besteht, bleibt unausgeführt.

Eine hoffnungsvolle Perspektive deutet sich verborgen sub contrario an: unterm Tausch könnte eine humane Aushöhlung jenes Prinzips äquivalenter Reziprozität zu finden sein.75 Dem Tauschprinzip wäre durch die Aufrichtung des Inkommensurablen zu entkommen.76 „In einer richtigen Gesellschaft […] würde der Tausch nicht nur abgeschafft, sondern erfüllt.“77 Der Tausch müsste qualitativ aufgehoben werden, indem jeder empfängt, was „der Tausch ihm wesentlich immer nur verspricht, um es ihm zu versagen“78.

 

Fröhliche Wirtschaft im Abendmahl

Obwohl sich das Schenken unter der Bedingung totalen Tausches allenfalls als ein Derivat hält, heißt es: „Alle nicht entstellte Beziehung, ja vielleicht das Versöhnende am organischen Leben selber, ist ein Schenken.“79 Es ist das Verdienst von G. Bader80, das Abendmahl auch vor dem Hintergrund der Ökonomie bedacht zu haben; sein Durchdenken der wirtschaftlichen Dimension des Abendmahles führt dahin, es als archaisches Gegenstück zur modernen Wirtschaft aufzufassen (62; vgl. 66). Beide Bestimmungen – „archaisch“ und „Gegenstück“ – sind bedeutungsschwer und für den Dialog mit Adorno zielführend.

Zwei historisch aufeinander folgende Typen von Wirtschaft zeichnen sich ab: „Wirtschaft“ ist ursprünglich die Beschreibung der Tätigkeit eines Wirtes, und zwar als aktive Gastfreundschaft mit dem Bedeutungsspektrum Festlichkeit, Üppigkeit, Fröhlichkeit, Genuss (56). Mit der Wende zur Neuzeit verändert sich das Bedeutungsfeld in Richtung auf oeconomia: „Jetzt geht es nicht mehr um Essen, Trinken, Beherbergung im Zusammenhang mit elementarer Gastlichkeit, sondern um Haus, Besitz, Güter und ihre Verwaltung. […] So gelangt der Begriff der Wirtschaft vom früheren Sinn der üppigen, festlichen Ausnahme zum neueren einer in keinem Moment zu unterlassenden Übung“ (57). Vergröbert kann man sagen: „Ist modernes Wirtschaften ausgerichtet an den Gesetzen des Marktes, so ist archaisches Wirtschaften nicht-marktmäßiger Güterverkehr“ (59). Auf der Seite archaischen Wirtschaftens stehen die „gefährliche Verschwendung“, das Schenken und die Zielrichtung an andere, auf der Seite der oeconomia der Grundsatz der Sparsamkeit, die Gesetze des Marktes und der Gütergewinn (57.59).

Das Abendmahl ist von Haus aus „archaische Wirtschaft“ (59); das bedeutet unter den Bedingungen der oeconomia, dass sich die Feier des Abendmahls als „Gegenwirtschaft zur Wirtschaft“ präsentiert (60). Aus dieser Einordnung ergibt sich eine tiefgründige Ortsangabe eucharistischer Praxis: „Abendmahlsfeier als Liturgie schenkender Wirtschaft ist so gesehen eine aus Rationalität gestattete Ausnahme von Rationalität zur Beförderung fernerer Rationalität“ (61). Zur archaischen Wirtschaft gehören Gastgeber und – von außerhalb des Systems und zur Reziprozität unfähig – Gast. „Folglich ist Gastfreundschaft ein Phänomen von Nicht-Reziprozität in einer Welt erwarteter Reziprozität“ (62). Das Abendmahl als archaisches Gegenstück zur Tauschgesellschaft – das ist, wie Adorno evtl. zuzugestehen ­bereit wäre, immerhin ein Korrektiv.81

 

Gott als Schenkender

Für dich gegeben.“ – „Für dich vergossen.“ Wer Gast am Tisch des Herrn ist, wird beschenkt. Passivum divinum. Im Abendmahl präsentiert sich Gott als Schenkender, wodurch der fatale Kreislauf der Marktzirkulation außer Geltung gesetzt wird, Schenkwirtschaft anstelle des Gleich um Gleich. Ebenso wird die Verhärtung gegen das Nehmen aufgeweicht: Die Kommunikanten stehen da mit leeren Händen, in die ein Brocken Brot gelegt wird, in die ein Kelch gegeben wird. Offenkundig setzt der rituelle Rahmen82 Menschen auf eine elementare Bedürfnisstufe zurück: nichts kann gegeben werden, alles muss empfangen werden. Der Tausch ist in der fröhlichen Wirtschaft ersetzt durch Logik und Praxis der leeren Hände. Dadurch geraten die Aktanten in eine spezifische Wirklichkeit: In der Ausdrucksform der leeren Hände verkörpert sich eine Haltung völligen Empfangens. Quid pro quo? Umsonst ein anderes Leben.

Für dich gegeben.“ – „Für dich vergossen.“ Durch die Anrede wird jedem und jeder die Kernaussage des Abendmahles persönlich zugesprochen. In dem Maße, wie sich die individuelle Zueignung unvertretbar in leiblicher Aneignung vollzieht, impliziert das Sakrament des nicht reziproken Tausches auf Seiten des Empfängers Individualität: ein Geschenk, das genau mir übereignet wird. In der fröhlichen Wirtschaft werden Menschen beschenkt, in Gottes Namen angesprochen und darin inkommensurabel. Das Für-anderes-Sein des Tauschprinzips wird im Abendmahlsvollzug exklusiv gefasst und konterkariert: Selbstverständlich ist der Abendmahlskommunikant relativ auf anderes, auf den sich an ihn verschwendenden Jesus Christus, aber diese Relation qualifiziert ihn zum in Gottes Augen inkommensurablen Ich – oder besser: Du. Diese Qualifikation wird allen Kommunikanten zugeeignet – allen gleich; unter Außerkraftsetzung jedweder Konkurrenz stehen sie da mit gefüllten Händen.

So verstanden ist das Abendmahl Statthalter der nicht länger vom Tausch verunstalteten Dinge, des nicht durch den Profit und das falsche Bedürfnis der entwürdigten Menschheit Zugerichteten. Die Abendmahlsfeier transzendiert den Tausch qualitativ: Wie bei der Taufe werden Menschen nicht mehr als Fälle eines Allgemeinen partikularisiert, sondern als Personen coram deo individualisiert.

 

Richtiges Leben im falschen

Was tun wir in der Kirche, wenn wir taufen, wenn wir Abendmahl feiern? Beide sakramentalen Handlungen haben ein unerschöpfliches theologisches Bedeutungsspektrum. Wenn voranstehende Überlegungen etwas taugen, erläutern sie, was wir im Kontext der falschen Gesellschaft in der sakramentalen Feier auch tun: Realisiert werden eschatologische Freiräume. Modelle stellvertretenden Lebens werden als Korrektiv gegen eine Ungestalt von Vergesellschaftung eingeübt – statt destruktiver Tauschwertrationalität eine fröhliche Wirtschaft, statt ruinöser Selbsterhaltung eine Destruktion und Integration des Selbst in einem heilvollen Horizont. In den Sakramenten bildet sich ein Ethos des Nicht-Mitmachens bei gesellschaftlichen Abstraktionen ab, eine Emphase der Qualität statt der Quantität.

In der Welt habt ihr Angst, aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden“, tröstet Jesus seine Jüngerschaft (Joh. 16,33). In der Feier der Sakramente nimmt die Kirche ihren Auftrag für die Welt wahr – jenseits von Verweigerung von Weltverantwortung und ebenso jenseits von Aktionismus – und realisiert das, was aufklärerische Moderne anvisiert hat: Angst auszutreiben. Zwar bewegen sich Taufe und Abendmahl am unteren Rande gesellschaftlicher Relevanz. Das könnte man in kecker Interpretation als index veri verstehen: Gerade als Kehrseite gesellschaftlicher Irrelevanz von Taufe und Abendmahl könnte in ihnen eine nach humanen Strukturen gezimmerte Vergemeinschaftung aufblitzen, gesellschaftlich nicht en vogue, aber der Anbruch eines kategorial Neuen. Sakramentales Leben widersetzt sich kurzschlüssiger Rationalität und befördert stattdessen eine fernere Rationalität.

An einer solchen theologischen Sicht hätte auch Adorno sein Gefallen, wie man aus einem Brief an W. Benjamin extrapolieren möchte: „Eine Restitution der Theologie oder lieber eine Radikalisierung der Dialektik bis in den theologischen Glutkern hinein müßte zugleich eine äußerste Schärfung des gesellschaftlich-dialektischen, ja des ökonomischen Motives bedeuten.“83 Im „Protest gegen das Äquivalenzprinzip“ im Widerstand gegen eine „Welt, in der nichts mehr umsonst sein darf und für alles ein Preis … vorgesehen ist“, sind beide, Kritische Theorie wie Evangelische Theologie, bei ihrer Sache. Gegen den menschengemachten anonymen „Gott des Globalisierungszeitalters“ ist das eine gute Komplizenschaft, um das Humane nicht ganz unter die Räuber fallen zu lassen.84 Nur ein Gott, der für das Umsonst steht, rettet die Welt.

 

Anmerkungen

46 GS 4, 174: „Vom Selbst wäre nicht als dem ontologischen Grunde zu reden, sondern einzig allenfalls theologisch, im Namen der Gottesebenbildlichkeit.“ Gleichwohl ist Adorno skeptisch gegenüber der Leistungsfähigkeit des Gedankens der imago dei: Offenkundig ist der Ebenbildgedanke gedoppelt da: einmal im ungelösten Zusammenhang zur kommandohaften Herrschaft (GS 3, 25), sodann davon dispensiert. Leistungsfähig wird der Gedanke, sofern er zu einer Selbstunterscheidung des Menschen von seinem Dasein führt; vgl. GS 6, 273.

47 GS 6, 192. Vgl. ebd. 279: „Befreit wäre das Subjekt erst als mit dem Nichtich versöhntes, und damit auch über der Freiheit, soweit sie mit ihrem Widerpart, der Repression, verschworen ist.“

48 GS 6, 294. Vgl. ebd. 274: „Human sind die Menschen nur dort, wo sie nicht als Person agieren und gar als solche sich setzen … […] Subjekt wäre erst, was solcher Lüge sich entschlagen, was aus der eigenen Kraft, die der Identität sich verdankt, deren Verschalung von sich abgeworfen hätte.“

49 W. Pannenberg, Systematische Theologie. Bd. 3, 1993, 268ff; die im Fließtext folgenden Seitenzahlen beziehen sich auf dieses Werk. – Pannenbergs Tauflehre ist entworfen vor dem Hintergrund moderner Subjektivität und Selbsterhaltung (vgl. bes. ebd. 305).

50 GS 3, 203: „Die Überwindung der Selbsterhaltung durch die Nachahmung Christi wird verordnet.“

51 GS 6, 277: „Voraussetzung seiner Identität ist das Ende des Identitätszwangs.“

52 Brakemeier (s. Anm. 15), 153.

53 F. Kümmel, Leiblichkeit und menschliche Lebensform (in: W. Loch [Hg.], Lebensform und Erziehung. Besinnungen zur pädagogischen Anthropologie, 1983, 9-26), 12f.

54 Kümmel (s. Anm. 53), 20.

55 GS 6, 149: „Das Tauschprinzip … ist urverwandt mit dem Identifikationsprinzip. Am Tausch hat es sein gesellschaftliches Modell … Die Ausbreitung des Prinzips verhält die ganze Welt … zur Totalität.“

56 GS 4, 169.

57 Vgl. D. Braunstein, Adornos Kritik der politischen Ökonomie, 22016, 190.

58 Vgl. GS 6, 34: „Die bürgerliche ratio näherte als Tauschprinzip das, was sie sich kommensurabel machen, identifizieren wollte, mit wachsendem, wenngleich potentiell mörderischem Erfolg real den Systemen an, ließ immer weniger draußen.“ Vgl. ebd. 310.

59 Vgl. GS 6, 304 und ebd. 190: „Der Tausch hat als Vorgängiges reale Objektivität und ist zugleich objektiv unwahr, vergeht sich gegen sein Prinzip, das der Gleichheit …“

60 GS 3, 23f: „Die bürgerliche Gesellschaft ist beherrscht vom Äquivalent. Sie macht Ungleichnamiges komparabel, indem sie es auf abstrakte Größen reduziert.“

61 GS 8, 307: „Indem das Tauschprinzip kraft seiner immanenten Dynamik auf die lebendige Arbeit von Menschen sich ausdehnt, verkehrt es sich zwangvoll in objektive Ungleichheit …“

62 GS 4, 13. Vgl. GS 4, 259: „der Individuierte [fungiert] in der modernen Wirtschaft als bloßer Agent des Wertgesetzes“.

63 GS 4, 176; GS 4, 257; GS 4, 220.

64 GS 4, 260.

65 GS 4, 261.

66 GS 5, 18; vgl. GS 3, 23: „die Zahl wurde zum Kanon der Aufklärung“.

67 GS 6, 73: „was ist, ist relativ auf Anderes, irrelevant an sich selbst.“ Vgl. GS 3, 181.

68 GS 6, 301 und 311. Vgl. GS 6, 101: „Um der universalen Äquivalenz und Vergleichbarkeit willen setzt es qualitative Bestimmungen allerorten herab, nivelliert tendenziell. Derselbe Warencharakter aber … fixiert die Subjekte in ihrer Unmündigkeit; ihre Mündigkeit und die Freiheit zum Qualitativen würden zusammengehen.“

69 GS 4, 28. Vgl. GS 4, 155; GS 4, 176f.

70 GS 4, 188f.

71 GS 4, 46f.

72 GS 4, 246.

73 GS 4, 13f.

74 GS 6, 150. – Eindeutig bezieht Adorno aber Stellung gegen ein simples Durchstreichen der gängigen Tauschpraxis: „Annullierte man simpel die Maßkategorie der Vergleichbarkeit, so träten anstelle der Rationalität, die ideologisch zwar, doch auch als Versprechen dem Tauschprinzip innewohnt, unmittelbare Aneignung, Gewalt, heutzutage: nacktes Privileg von Monopolen und Cliquen.“

75 Vgl. GS 10.2, 751.

76 GS 4, 133f: „Denn inmitten der allgemeinen Fungibilität haftet Glück ausnahmslos am Nichtfungibeln. […] In den Fetischcharakter flüchtet sich unterm Kapitalismus die Utopie des Qualitativen: was vermöge seiner Differenz und Einzigkeit nicht eingeht ins herrschende Tauschverhältnis.“

77 GS 6, 291. Vgl. GS 6, 514.

78 GS 20.1, 163.

79 GS 4, 47.

80 G. Bader, Die Abendmahlsfeier. Liturgik, Ökonomik, Symbolik, 1993, 56ff; die im Fließtext folgenden Seitenzahlen beziehen sich auf dieses Werk.

81 Vgl. GS 4, 49.

82 Augenscheinlich eröffnet das Ritual ein Modell stellvertretenden Lebens. An der Ritualtheorie V.W. Turners kann man lernen, wie Rituale die Weltverhaftung des Ich lösen (ders., Ders., Liminalität und Communitas [in: A. Belliger/D.J. Krieger [Hg.], Ritualtheorien. Ein einführendes Handbuch, 22003, 251ff]). Gesellschaftliche Vorgaben werden durch den transformierenden Charakter des Rituals außer Kraft gesetzt. Im rituellen Vollzug ist die Erfahrung einer Communitas zu machen, in der das tiefe Gefühl menschlicher Solidarität, zugleich die Erfahrung einer Verbindung mit den Grundlagen der Existenz ermöglicht werden. Das Ritual setzt damit eine Antistruktur gegenüber gesellschaftlichen Zwängen. Durch das Ritual entsteht das Potential einer Transformation von Individuum und Gesellschaft.

83 Adorno an Benjamin, 2.-4- August 1935; in: Th.W. Adorno, Briefe und Briefwechsel, hrsg. v. „Theodor W. Adorno Archiv, 1994ff, Bd. 1, 143.

84 Die zitierten Formulierungen stammen aus Chr. Türcke, Umsonst leiden. Der Schlüssel zu Hiob, 2017, 118-120.

 

Aus: Deutsches Pfarrerblatt - Heft 3/2024

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