Mit 17 Jahren verlässt der junge Kurde Delschad Mutter und fünf Geschwister und bricht aus dem Norden des Irak auf in eine ungewisse Zukunft. Von seinem langen Weg schreibt der 1983 geborene Autor, Fotograf, Schauspieler (Residenztheater München) und Filmemacher Delschad Khorschid zwei Jahrzehnte später in seinem im März 2025 erschienen Buch „Nirgendwo ist mein Zuhause“. Eine beeindruckende Collage aus Fotos, Gedichten und kurzen Texten.

Beinahe zwei Jahre dauerte die Flucht über den Iran, die Türkei, Griechenland bis nach München. Er hungerte, wurde geschlagen, gefoltert, verraten. In einem Boot aufs Meer verfrachtet, ausgesetzt, scheiterte an Grenzzäunen und gleichgültigen Menschen. Auf der Flucht ist jeder sich selbst der Nächste. Ein einsamer Tod wird von niemandem betrauert. Viele Male ist Delschad diesem Tod nur knapp entronnen. Seine Ankunft in Deutschland im Winter 2003 grenzt an ein Wunder. Der Empfang ist unfreundlich.

Delschads Kindheit war geprägt von der Verfolgung und Ermordung der kurdischen Minderheit im Norden Iraks. Er verlor Vater, Onkel und einen Großteil der Nachbarn und Freunde. Kindheit? Was ist das für eine Kindheit, wenn während des Ballspiels mit Freunden die Bomben auf das Spielfeld fallen?

Jahrelang musste die Mutter sich mit den Kindern im eigenen Land verstecken. Delschad konnte keine Schule besuchen und musste als ältester Sohn früh Geld verdienen. Mit 17 Jahren flieht er, um weiteren Verhaftungen und Folterungen durch die Iraker zu entgehen, einen langen, einsamen, dunklen Weg, auf dem jede Hoffnung verloren geht und er in endloser Einsamkeit der brutalen, mitleidlosen Härte der Fluchthelfer ausgesetzt sein wird. Wie so viele, die heute entweder namenlos den Weg nicht schaffen oder traumatisiert an den Grenzen auf Zugang hoffen.

Ein Dank an den Schillo Verlag für die kongeniale Aufmachung des Buches. „Bei der Ausstattung haben wir bewusst einen ‚Werkstattcharakter‘ gewählt – das naturbelassene Papier des Umschlags, das sich roh und ehrlich anfühlt, in Kombination mit der offenen Fadenheftung, die Unfertigkeit und Zerbrechlichkeit symbolisiert“, schreibt Verlegerin Sophie Schillo.

„Nirgendwo ist mein Zuhause“ eignet sich nicht für die schnelle Lektüre. Die knapp 200 bebilderten Seiten mit ihren kurzen Texten und Gedichten lassen sich nicht einfach in einem Stück weglesen. Das Buch nimmt den Leser mit. Im doppelten Sinn des Wortes. Mit in die Einsamkeit, mit in die Angst, mit in die aussichtslose Hoffnungslosigkeit. Nach der Lektüre ist man ein anderer oder besser, man ist wieder mehr bei sich selbst.

Viel trägt dazu Delschads abschließendes Gedicht bei:
Als ich in Europa ankam,
wurde mir endlich das Gefühl gegeben,
nicht mehr ein Mensch zweiter Klasse zu sein.
Nicht mehr getrieben und verfolgt.
Ich musste keine Gewalt, keine Waffen mehr sehen.

Seit diesem Moment glaube ich
jeden neuen Tag fest an eine bessere Welt;
ich glaube, dass das Böse kleiner als das Gute ist,
viel, viel kleiner als unsere Menschlichkeit.“

Dieses Buch hat viele Leser*innen verdient. Kaufen oder verschenken. Ein einzigartiges Buch – diese Collage aus Fotos, Berichten und Gedichten. Ein zutiefst erschütterndes Buch. Es erinnert daran, dass hinter Schlagzeilen, Meldungen und Zahlen Menschen mit ihren Schicksalen stehen. Jeder einzelne Mensch: ein ganzer Kosmos.

In Zeiten, wo in unserem Land eine sich christlich nennende Partei die Maßstäbe für Immigration festlegt und das politische Klima beeinflussen möchte, sei die biblische Aufforderung aus dem Hebräerbrief ins Gedächtnis gerufen: „Gastfrei zu sein vergesst nicht; denn dadurch haben einige ohne ihr Wissen Engel beherbergt.“ (Hebr. 13,2)

 

Links:

https://de.wikipedia.org/wiki/Delschad_Numan_Khorschid

https://delschad-numan.de/

https://www.instagram.com/delschad.numankhorschid/

https://schillo-verlag.de/

 

Klaus Guhl