Hans-Martin Gutmann hat 2016 eine ganze Nacht lang hindurch eine Seelsorgevorlesung gehalten, die mit dem vorliegenden Buch veröffentlich worden ist. An Aktualität hat das Buch nichts eingebüßt. So konstatiert der Verfasser, dass mitten in den Krisenbewältigungen der Kirche, die seelsorglich-eifrige Dimension der Kirche am stärksten gefährdet sei, verloren zu gehen. Diese sei aber wesentlich, denn „Kirche ist Seelsorgebewegung“ (12) und darin will sie der Befreiungsbewegung des Evangeliums entsprechen: „Lebenszerstörendes ausstoßen, die heilsame Lebensmacht [herbeirufen]“ (25-32) – Menschen erfahren Veränderung. Der Verfasser macht dabei deutlich, dass Carl Rogers „klientenzentrierte Gesprächspsychotherapie“ grundlegend für die Haltung der Seelsorge sei. Aspekte wie Wertschätzung, Wahrnehmen, Verstehen usw. (33-52) werden erweitert mit Ressourcenorientierung und Einsichten der Gestalttherapie (etwa der Fokus auf Körperhaltungen und Gesten, vgl. 56-62). Der Verfasser pflegt dabei einen systemischen Blick für das Agieren des Seelsorgers und stellt insbesondere die Methode des Kurzgespräches vor.

Grundherausforderung evangelisch-seelsorglichen Handelns „ist das Gesetz, das Menschen heute im Innersten beherrscht, an dem sich ihre Lebensgewissheit, ihr Selbstverhältnis, ihre Beziehungsmöglichkeiten zu anderen Menschen und Kreaturen entscheidet“. (80) Diese versklavenden Gesetze stehen mit den „Sanktions- und Exklusivmechanismen einer kapitalistischen Markgesellschaft“ (82) in Beziehung. Die Rechtfertigungsbotschaft – Grundlage evangelischer Seelsorge – will diese Gesetzmäßigkeiten überwinden. Es gehe laut Verfasser um einen heilsamen Austausch, sodass lebenszerstörende Mächte abfließen. „[D]ie heilsame Lebensmacht Gottes soll [hingegen] herbeigerufen werden“ (94).

Auf Lebenswenden, Lebenskrisen, Trauerarbeit, Passagerituale und Amtshandlungen als besondere Kontexte seelsorglichen Handelns geht der Verfasser intensiv ein (100-165). Letztere werden mit konkreten Durchführungsbeispielen bereichert. Einen breiten Raum nehmen auch die „Medien der Seelsorge“ ein (166-201), die z.B. Aspekte wie Gespräch, Erzählung, Bibel, Metaphern und Symbole umfassen. Dabei geht es kritisch etwa um die Grundfrage: „Wer ist Subjekt unserer Lebensgeschichte, wer entwirft unser Leben? […] Letzten Endes nicht die Menschen selbst, sondern das Geld. Das Geld ist wichtiger als Nachbarn und Freunde, als die Sehnsucht oder sogar das dringende Bedürfnis, sich irgendwo zu Hause zu fühlen. […] Die Frage ist, wem man im Innersten vertraut, woran man sein Herz hängt.“ (177)

Auch Konfliktfelder in der Seelsorge werden vom Verfasser intensiv durchleuchtet wie etwa Nähe und Distanz, Angst, Schuld und Scham. Im letzten Kapitel „Identität und Biografie“ zeigt der Verfasser mit Lacan und Levinas, dass Identität immer nur als Prozess verstanden werden kann, der das Andere und das Fremde notwendig braucht, um das jeweils Eigene herauszubilden. In einer Zeit, in der die Gesellschaft nach Rechts-Außen abdriftet, ist daher die „interkulturelle Seelsorge“, in der es um ein „Zusammenleben mit der Wahrnehmung der Differenz, Achtung verschiedener Identitäten, Lebensgeschichten und -entwürfe wie auch die Suche nach Gemeinsamkeiten“ (234) geht, mehr denn je nötig. Dass dabei gerade Ausländer in Deutschland tendenziell zu Randgruppen gemacht werden, hebt der Verfasser hervor und setzt mit dem Begriff des „Empowerments“ eine Ausrichtung seelsorglichen Handelns (vgl. 237) an, der eine individuelle und eine gesellschaftlich-strukturelle Solidarisierung umfasst.

Abgeschlossen wird das Buch mit einem Zusammenhang zwischen Seelsorge und politischem Handeln – ein Beziehungsgeflecht, das in vielen Veröffentlichungen seelsorglicher Praxis viel zu wenig bedacht wird. „Die Einsicht, dass sich seelsorgliche Verantwortung für bedrohte und beschädigte Menschen unter Bedingungen struktureller Gewalt auch mit politischen Stellungnahmen verbinden muss, ist […] zunehmend verloren gegangen.“ (246) Seelsorge sei emphatische Begleitung – sie werde sich gleichzeitig „immer wieder mit politschen Perspektiven verbinden, in denen die Aufhebung im Mittelpunkt steht, die Menschen ihrer Lebenschancen und Lebensperspektiven berauben […], sie zu verächtlichen und geknechteten Wesen herabwürdigen.“ (249) Wie eine solche Aufhebung mit seelsorglichem Antlitz konkret aussehen könnte, hätte noch breiter entfaltet werden können.

Insgesamt bleibt festzuhalten, dass es Hans-Martin Gutmann gelungen ist, ein aktuelles und umfangreiches Buch zu veröffentlichen, das die grundlegenden Felder und Spannungen seelsorglichen Handelns darstellt und mit systemisch und gesellschaftlich-strukturellen Aspekten in Beziehung bringt. Ein Gewinn für Seelsorgende und kirchliche Praxis.

 

Tobias Foß