Dr. Ruben Zimmermann, ordinierter Pfarrer, ist seit 2009 Professor an der Universität Mainz mit den Schwerpunkten Neues Testament, Hermeneutik und Ethik. Er hat sich in den letzten Jahren zunehmend mit den Feldern der Ethiktheorie (z.B. Bio-, Medizin- und Klimaethik) beschäftigt und sich dem Brückenschlag von der antiken und christlichen Ethik zu heutigen Problemlösungen gewidmet. Nun legt er – gewissermaßen als Frucht jahrelangen Studiums – ein kurzgefasstes Essay für ein breites, nicht nur fachwissenschaftlich interessiertes Publikum vor. Es ist kein Lebenshilfe- oder Rezeptbuch, sondern eine Anregung zum Nachdenken über freiwilligen Verzicht, um die aus dem Ruder gelaufene Balance im Zusammenleben auf diesem Planeten in nationaler und internationaler Dimension wieder auf einen sozial-verträglichen Kurs zu bringen.

Der Autor grenzt seine „Verzichtsethik“ des Unterlassens streng von einer Pflichten- oder Verbotsethik ab, da sie freiwillig und flexibel ist. Sie ist kein strafbewehrtes Gebot, sondern eine freundliche, vernünftige, verantwortungsvolle Empfehlung. Die „Spurensuche des Verzichtens“ führt Zimmermann zu der Tugend der Mäßigung bei Aristoteles, der sie für einen guten Weg zum dauerhaften Glück hält. Bei den stoischen Philosophen und den Kynikern wird er ebenso fündig. Auch das NT mustert er mit seiner altruistischen Verzichtsethik, Demut und gewaltfreien Nächstenliebe durch bis zum Vorbildmodell menschlichen Verzichts: der „Selbsterniedrigung des Gottessohnes“. Das Judentum wird mit seiner Frömmigkeitspraxis des Fastens vorgestellt.

„Verzicht“ wird folgendermaßen definiert: „Ein ethisches Subjekt verzichtet bewusst, freiwillig und zeitweise mühsam auf eine Möglichkeit, etwas zu tun oder ein Recht bzw. ein Privileg in Anspruch zu nehmen, innerhalb eines konkreten Kontexts in der Abwägung von Normen, Werten und Zielen und auf der Basis soziokultureller bzw. spiritueller Grundlagen“ (29). Diese konzentrierte Definition wird in sechs Schritten durch Erläuterungen, Belege und Beispiele plausibilisiert.

Die so konzipierte Ethik des Verzichts richtet sich v.a. an die Habenden und Privilegierten (55). Sie ist keine Pflicht, mehr als ein Nützlichkeitskalkül, sondern eine Tugend für andere und muss eingeübt (Vorbild – Nachahmung) und praktiziert werden, um Wirkung zu zeigen. Insofern nimmt sie eine Mittelposition ein zwischen Tugend- und Gerechtigkeitsethik, zwischen Individual- und Sozialethik, zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethik (59).

Im Abschnitt „Konsumethik“ zeigt Zimmermann, wie angesichts der Krise durch den Wachstumswahn Minimalisten, Vertreter*innen von „Ware2Share“ und Veganer*innen oder Flexitarier eine sparsamere Kreislaufwirtschaft bzw. eine hohe Einsparung von CO2 ermöglichen. In Bezug auf die „Klimaethik“ macht er deutlich, wie am Beispiel der Mobilität Verzicht und Verbot einander ergänzen, um eine notwendige sozioökologische Transformation zu erreichen. An zwei medizinethischen Fallbeispielen wird erläutert, wie ein freiwilliger (durch Patientenverfügung angeordneter) Behandlungs- und Nahrungsverzicht am Lebensende zu einem gegenüber einer „Maximalmedizin“ humaneren Sterbeprozess führen kann.

Abschließend wird klar darauf hingewiesen, dass Verzichten nicht leicht ist, aber – wie das Märchen vom „Hans im Glück“ zeigt – schön und gewinnbringend sein kann. Das wissen Sportler, Medizinerinnen, Psychotherapeuten und Mystikerinnen nur zu gut! Wenn der „Kipppunkt“ des Planeten nahezu erreicht ist, das Ziel einer Änderung klar vor Augen liegt, dann ist ein Verzichtethos eigentlich alternativlos. Aber: Verzichten ist dennoch kein Gebot, sondern eine Einladung, ist lernbar, kann eingeübt und in Gemeinschaft praktiziert werden. Dann ist es ansteckend, erhält „soziale Dimension“ und ein „system- und weltveränderndes Potential“, wie das Senfkorngleichnis zeigt. Wohlmeinende Politiker und kluge Wissenschaftlerinnen, die seit über 50 Jahren den Klimakollaps vorhersagten, haben leider oftmals versäumt, die Menschen einladend und empathisch auf die mühsame Notwendigkeit einer Konsumveränderung und Konversion vorzubereiten. Genau dies beabsichtigt nun Zimmermann mit seinem hier annoncierten, bedachten, gut belegten und argumentativ bestechenden Essay – gerade noch zur rechten Zeit.

In summa: Ein ausgezeichnetes preiswertes Vademecum für alle Interessierten, um in das Thema einzuführen; besonders gut geeignet als Lektüregrundlage für Lesekreise und Gruppen in Gemeinden, die über die diversen Ethikaspekte und eine verantwortliche Praxis des Verzichts diskutieren möchten; Lesepflicht für alle, die nicht tatenlos zusehen wollen, wie unsere gute Schöpfung durch Maßlosigkeit und Profitsucht zugrunde gerichtet wird.

 

Ernst L. Fellechner