Über Sinn und Unsinn von Religion wird schon so lange gestritten wie es Menschen gibt. Der Psychotherapeut Werner Gross zeigt in seinem Buch „Meinetwegen – nenne es Gott“ die großen Linien und nennt Kriterien, hilfreiche Religion von toxischer Religion zu unterscheiden. Rund um den Begriff Urvertrauen und die identitätsstiftenden Fragen „Woher komme ich? Wer bin ich? Wohin gehe ich?“ zeichnet der Autor Entwicklungen der Menschheit und ihrer Religion auf. Dabei tritt immer wieder eine kritische Distanz zu den Kirchen hervor: „Die Kirchen wollen – obwohl sie gern das Gegenteil verkünden – vor allem Gläubige, die ihr mehr oder weniger nachvollziehbares Glaubenssystem fraglos übernehmen.“ Ähnliches gelte für Parteien und Gewerkschaften. Gross nimmt hier Bezug auf die von James W. Fowler entwickelten Stufen des Glaubens, ohne im Weiteren auszuführen, was es für die weitere Funktion und Bewertung von Religion bedeutet. Allerdings nimmt er auch eine Typisierung aufgrund seiner psychotherapeutischen Praxis vor.
Schon früh wird deutlich, dass sein Maßstab von der Unterscheidung Erich Fromms in humanistische und autoritäre Religion geprägt ist. Für autoritäre Religion gilt: „Wesentlich ist danach die Unterwerfung des Menschen unter die (vermeintliche) Macht Gottes. Diese Macht kann auf einen menschlichen Führer (quasi als Stellvertreter Gottes auf Erden), also auf Leiter von Religionsgemeinschaften oder ‚wahre‘ Interpreten der Heiligen Bücher (Bibel, Koran, Talmud…) übertragen werden: Priester, Gurus, Mullahs, Bischöfe, Papst bekommen dadurch eine nicht hinterfragbare Macht.“ Dagegen ist die humanistische Religion geprägt „durch die Empfindung des Einsseins mit dem All“ und nicht durch Unterwerfung. Dieses Kriterium lässt sich auch auf den von Gross beschriebenen Markt der Religionen anwenden. Der Autor beschreibt kenntnisreich zahlreiche esoterische Angebote. Auch die Auflistung der Definitionen von Gott von Voltaire, Kant und Hegel über Kierkegaard und Nietzsche bis hin zu Küng und Sölle sieht man nicht alle Tage.
Der Ausblick am Ende des Buches hätte ausführlicher ausfallen können. Gross fragt, ob die Zukunft den Menschen zum Homo Deus, zum Gottmenschen, mache, „bei denen Mensch und Maschine verschmelzen, die dann die Welt als Halbgötter regieren?“ Oder übernehmen die Maschinen die Weltdeutung? Angesichts von Digitalisierung und KI eine spannende Frage: „Werden damit die Algorithmen der Computerprogramme uns eine standardisierte Weltsicht vorgeben, aus der wir nicht mehr aussteigen können? Wird dann alles, was geschieht, registriert und gespeichert bis in die digitale Ewigkeit?“ Man darf auf die weitere Diskussion gespannt sein.
Kurt-Helmuth Eimuth