Der Autor des Buches Dorothee Sölle – eine intellektuelle Biographie (2022) legt ein neues Buch von 400 Seiten vor, das schon wegen seiner Belesenheit beeindruckt. Es stellt die Marxismuskritik von zwölf Theologen dar, die sich selbst als Sozialisten oder religiöse Sozialisten verstehen: Leonhard Ragaz, Erwin Eckert, Heinz Kappes, Emil Fuchs, Arthur Rackwitz, Hans Joachim Iwand, Aurel von Jüchen, Josef L. Hromádka, Hans-Hinrich Jenssen, Jan Milič Lochman, Helmut Gollwitzer und Gert Wendelborn. Stößinger stellt jeweils die Kritikpunkte in den verschiedenen Veröffentlichungen der genannten Autoren dar. Dieser Teil ist besonders beeindruckend, weil er eine Fülle von Informationen über die Ansichten der Autoren enthält. Es handelt sich hier um eine Art Kompendium religiös-sozialistischer Autoren und ihrem Verhältnis zum Marxismus.
Das ist auch deshalb interessant, weil die Lebenssituation im Blick auf die Erfahrung von real existierendem Kommunismus je verschieden war. Helmut Gollwitzer z.B. erfährt den sowjetischen Kommunismus in der Kriegsgefangenschaft und nutzt diese Zeit, um sich intensiv mit den klassischen marxistischen und kommunistischen Quellen zu beschäftigen, erfährt aber auch den Stalinismus und dessen Wirkungen auf die Menschen. Josef Hromádka erlebt 1968 den Prager Frühling, den Kommunismus mit menschlichem Gesicht, aber auch dessen brutale Niederschlagung durch die sowjetischen Panzer. Auch Jan Milič Lochman erlebte die 1960er als Professor für systematische Theologie an der Comenius-Fakultät in Prag, ging 1998 für ein Jahr ans Union Theological Seminary in New York, bevor er als Nachfolger Karl Barths an die Uni Basel berufen wurde. Er hatte also eine große internationale Erfahrung.
Alsdann folgen jeweils Kritikpunkte aus der Sekundärliteratur, d.h. hier werden solche Quellen zitiert, die über die Kritik der behandelten Autoren an Marxismus und Kommunismus berichten. Dann folgt jeweils, was Stößinger kommentierte Zusammenfassung nennt. In diesem Teil nennt er jeweils die positiven, die negativen und die ambivalenten Argumente der Autoren zum Marxismus und zur kommunistischen Realität und konfrontiert dies mit der Gegenkritik von orthodoxen Marxisten und Kommunisten. Das Verbindende ist in jedem Fall die Ablehnung des Kapitalismus und Verpflichtung dem Humanismus gegenüber. Es gibt verschieden Kritikbereiche. Natürlich gehört der Stalinismus dazu. Ein weiteres Feld der Kritik betrifft den Atheismus, wenn er denn ideologisch prinzipiell auftritt, während die marxistische Kritik an der Realität der Kirchen im Blick auf das Ausblenden der asozialen Folgen des Kapitalismus von den Theologen geteilt wird. Besonders heftige Kritik gab es auch im Bereich der Anthropologie. Dazu sagt Stößinger: „Mit Recht wurde moniert, dass es auch im Sozialismus Fehler, Irrtümer, menschliche Unzulänglichkeit und Verbrechen gab. … Allerdings war von marxistischer Seite der Einwand berechtigt, dass eine auf die Anthropologie gestützte Marxismuskritik nicht abstrakt auf die Alternative einer pessimistischen oder optimistischen Anthropologie reduziert werden sollte“ (378). Viele Kritiken werden von orthodox-marxistischer Seite mit dem Argument zurückgewiesen, es handle sich bei den Autoren um Idealismus, der die materiellen Bedingungen der Realität nicht ausreichend berücksichtige.
Es wäre noch interessant gewesen, die Ansätze des Theologen Franz J. Hinkelammert und des Philosophen Michael Brie in die Analyse einzubeziehen. Hinkelammert hat in einem seiner letzten Bücher die Aufgabe auf den Punkt gebracht, wenn er schreibt: „Damit muss aber heute die zum Kapitalismus alternative Gesellschaft so konzipiert werden, dass sie eine systematische Intervention in die Märkte durchsetzt, damit der wilde Kapitalismus von heute nicht die gesamte Lebenswelt des Menschen zerstören kann. Es handelt sich daher darum, den Marktmechanismus einzubetten (ein Wort, das Karl Polanyi benutzt) in die sozialen Beziehungen aller Menschen.“1 Das bedeutet, die Alternative kann nicht sein die Abschaffung des Marktes und des Geldes,wie es der bürokratische Kommunismus behauptete. Das ist genau eine solche Illusion wie der sich selbst regulierende Markt. Vielmehr geht es um eine nichtkapitalistische Nutzung des Marktes und des Geldes. Auch Michael Brie kritisiert die Vorstellung, der Kommunismus könne zu einem widerspruchsfreien Endzustand führen und spricht deshalb von „Sozialismus als solidarische Austragung des Widerspruchs freier Entwicklung der Einzelnen und freier Entwicklung Aller“.2
Anmerkungen
1 Hinkelammert, Franz J.: Die Dialektik und der Humanismus der Praxis. Mit Marx gegen den neoliberalen kollektiven Selbstmord. Hamburg: VSA, 2020, 213.
2 Sozialismus neu entdecken. Ein hellblaues Bändchen zu den Widersprüchen einer solidarischen Gesellschaft. Hamburg: VSA, 2022, 106ff. Vgl. auch Duchrow, Ulrich: Mit Luther, Marx und Papst den Kapitalismus überwinden. Hamburg und Frankfurt/M.: VSA und Publik-Forum, 2017.
Ulrich Duchrow