„Würde ist kein Konjunktiv!“ – Der wortspielerische Titel dieses kleinen aber wirkmächtigen Büchleins trifft den Nagel der Botschaft auf den Kopf. Es geht um Seelsorge in der Arbeitswelt und damit um die tägliche Realität, dass Menschen nicht selten die Erfahrung machen, am Arbeitsplatz ihrer Würde beraubt zu werden. Das war in den vergangenen Jahrhunderten der vorangegangenen industriellen Revolutionen nicht anders als in der sogenannten Industrie 4.0 und digitalem Wandel. Die Arbeitswelt wandelt sich ständig und mit ihr die Bedingungen des Geldverdienens und existenzieller Nöte. Doch eines bleibt gleich: Der Bedarf an Menschen, die sich derer annehmen, die oft keine Stimme haben und keine Hoffnung, dass sie etwas anderes sind als eine Nummer auf einem Sozialplan oder der Kündigungsliste eines Großkonzerns, der sich entscheidet, die Produktion künftig lieber ins Ausland zu verlegen. Da ist eine Betriebsratsvorsitzende in einem Verkehrsbetrieb, die um Hilfe bittet, weil ein Kollege plötzlich bei einem Unfall aus dem Leben gerissen wurde und niemand im Betrieb weiß, wohin mit der Trauer (Martin Plentinger). Da ist eine junge Frau, die tragisch und viel zu früh kurz nach der Hochzeit ihren Mann im Tsunami verloren hat und nun finanziell vor dem Nichts steht (Jürgen Hopf). Da ist ein Mann, der 30 Jahre für einen Betrieb in der Metallindustrie gearbeitet hat und nun am Tag der Insolvenz „über die Klinge springen“ muss, „weil meine Arbeit nichts wert ist“, wie er sagt (Manfred Böhm).

Wir alle kennen diese Geschichten aus den Wirtschaftsnachrichten und gerade inmitten der aktuellen Krise und internationalen Konflikte gehören sie zum Alltag. Doch oft genug schaffen es auch Angehörige der sozialen Berufe und Seelsorgende selbst, sie aus dem Bewusstsein zu streichen, weil sie so vermeintlich fern vom prallen Kirchenalltag sind. Das gilt auch und gerade für jene, die noch nie Berührung mit unterschiedlichen Berufsfeldern in Industrie und Wirtschaft abseits der Gemeinden hatten.

Wer zu dieser Geschichtensammlung greift, wagt den Perspektivwechsel, den der Untertitel verspricht. Man ist eingeladen, die eigene Arbeitswelt für einige Stunden zu verlassen und hinter die Werkstore der Republik zu schauen, die oft nur wenige Meter Fußweg von der Heimatgemeinde entfernt sind. Die kurzen und lebendig geschriebenen Geschichten, die im Schnitt nicht länger als zwei bis drei Seiten sind, geben Einblicke in so unterschiedliche betriebliche Seelsorgebereiche wie das Gastgewerbe, das Versicherungswesen, diverse Industriezweige und die Fernfahrerseelsorge. Alle Geschichten vereint nicht nur der Fokus auf die Menschen, die in diesen Bereichen arbeiten und in Notsituationen Hilfe suchen. Sie sind auch immer mit persönlichen Worten der jeweiligen Seelsorgenden verbunden, die meistens auf Umwegen in ihre Rollen als Diakone, Sozialsekretäre, Pfarrer*innen und Mitarbeitende der Kirchlichen Dienste für die Arbeitswelt kamen. Allen merkt man an, dass sie nicht nur über ihre Begeisterung und Faszination an der Arbeitswelt schreiben – sie leben sie. Seelsorge in der Arbeitswelt ist „aufsuchende Seelsorge“ (Dorothee Schindler). Und was dabei auch immer wieder klar wird: „Es braucht nicht viel“ (dies., 45).

Oft genug stellen die Beitragenden fest, dass auch sie sich innerlich mit der Leistungsgesellschaft und wirtschaftlichem Denken messen. Sie fragen sich, ob sie wirklich etwas beitragen können in Situationen, in denen klar ist, dass eine Betriebsschließung nicht zu verhindern ist, ein Betriebsunfall auf lange Zeit traumatisch in den Köpfen bleiben wird. Und immer wieder wird dann deutlich, dass es eben genau ihr Dasein und ihr Zuhören ist, das gebraucht wird und mehr als „genug“ ist (Ulrich Gottwald).

Angesichts dieser 24 unterschiedlichen Geschichten – man könnte sie auch Vignetten nennen – ist es den Herausgebern Manfred Böhm und Johannes Rehm geglückt, genau das aufs Papier zu bringen, worüber andere „nur“ reden oder Studien betreiben. Sie wollten kein wissenschaftliches Buch herausgeben, wie beide im Vorwort klarmachen (10). Es geht ihnen um eine „narrativ existenzielle Auseinandersetzung“ mit dem Thema aus den vielen Perspektiven der Autor*innen (ebd.). Und mit dieser Methodik machen sie das, was Kern der Seelsorge ist: Sie laden die Leser*innen zum Zuhören ein. Und dieses Zuhören ist undogmatisch und auf Augenhöhe. Keiner der Texte trägt ein theologisches Label, alle sind – wie ein buntes Mosaik – in ihrer Unterschiedlichkeit vereint, und allein die persönlichen Hintergrundgeschichten und Reflexionen machen deutlich, welche theologischen Wurzeln und welchen Arbeitgeber der/die Autor*in hat.

Das kommt auch erfrischend hierarchielos daher. Es geht um Expertise, Erfahrungen und das Brennen für die Aufgabe, nicht um Titel und Positionen im Organigramm. Da schreiben Diakone neben Pfarrer*innen. Da schreiben viele, die über den persönlichen Berufsweg und ehrenamtliche Arbeit in ihre seelsorgliche Berufung hineingestolpert sind und sich vor allem als „Lebens-Spezialist*innen“ bezeichnen (Hanna Kaltenhäuser). Damit gelingt ihnen das, was vielen in einer Welt der „geraden“ Lebens- und Karrierewege innerhalb und außerhalb von Kirche oft schwerfällt: Sie können sich in die Perspektive der häufig geringverdienenden Arbeitnehmer*innen auf Basis eigener Erfahrung von Schichtarbeit und Mindestlohn einfühlen. Es geht nicht ums Predigen oder Pochen auf konfessionelle Unterschiede. Es geht um Solidarität und das aktive Eintreten dafür, dass würdevolle Arbeit ein Menschenrecht ist. Damit wird ebenfalls deutlich, wie sehr „ökumenische Zusammenarbeit selbstverständlich geworden ist und alltäglich praktiziert wird“ (Böhm und Rehm). Gleiches gilt für die politische Arbeit im Kontext von Betriebsräten und sonstigen Netzwerken. Da sind neben aller seelsorgerischen Kompetenz weltliche Sprachfähigkeit und Fingerspitzengefühl gefragt.

Was jedoch weniger selbstverständlich ist, und auch diese Sorge verbindet die meisten Beiträge, ist die Zukunft von Seelsorge in der Arbeitswelt. So begeistert und fasziniert alle Seelsorgenden auch sind, die hier berichten. In vielen Geschichten schwingt der Wunsch oder gar das explizite Plädoyer mit, als Arbeitsfeld innerhalb der Kirche(n) mehr gesehen zu werden. Angesichts der aktuellen Entwicklungen mit Mitgliederschwund, leeren Kassen und damit auch Stellenstreichungen gerade in Spezialseelsorgen und an den Rändern von Kirche, braucht es keine zusätzliche Erläuterung, um zu verdeutlichen, woher diese Sorge kommt. Zumal – und das muss ebenfalls kritisch angemerkt werden – Seelsorge in Industrie und Wirtschaft noch nie einen hohen Status in der evangelischen Kirche hatte.

Es bleibt daher zu hoffen, dass dieses Buch nicht nur gelesen und von den Rezipient*innen als Inspiration für die eigene Arbeit genutzt wird. Zu wünschen ist auch, dass den Seelsorgenden in der Arbeitswelt nicht ein ähnliches Schicksal droht wie ihren Seelsorge-Empfangenden in der Wirtschaft, die oftmals wegrationalisiert werden, weil man sie angeblich nicht mehr braucht. Wer dieses Buch liest und wirklich an sich herankommen lässt, der versteht: Seelsorge in der Arbeitswelt wird gebraucht und das mit Ausrufungszeichen! Ob kirchennah, kirchenfern oder sogar absolut kirchenkritisch eingestellt: Menschen in der Arbeitswelt empfangen Seelsorgende und damit automatisch auch Vertreter*innen der Kirchen im Betrieb zumeist mit Offenheit, Neugier und nicht selten mit Überraschung. Das liegt unter anderem daran, dass Seelsorgende in der Arbeitswelt oft so vermeintlich unkirchlich daherkommen, das Missionieren hintenanstellen und sich um jene „Trübseligen und Beladenen“ kümmern (Richard Wittmann), die sich oft von Kirche vergessen fühlen. Wo Kirche in dieser offenen und pragmatischen Weise zu ihnen an den Arbeitsplatz kommt, da wandelt sich automatisch das Bild von Kirche. Wie Johannes Rehm treffend schreibt: „Denn eine solche öffentliche Seelsorge an Arbeitnehmenden vermag den Kirchen selbst zur Seelsorge zu werden, indem sie vor mancher bürgerlichen Sattheit, Selbstbezüglichkeit und der Gefahr von Weltfremdheit zu bewahren mag“ (22).

Es ist den Herausgebern und ihren Autor*innen zu wünschen, dass dieses Buch seine seelsorgliche Kraft nach innen und außen entfaltet. Wenn die Bibel uns eines lehren kann, dann ist es, dass Geschichten über Jahrtausende die Kraft haben, Veränderungen in den Köpfen der Menschen und Entscheider zu bewirken. Die Macher*innen dieses Buches haben sich das vorgenommen und erreicht. Wer Ohren hat, der höre. Und wer Augen hat, der möge lesen und im Rahmen seiner/ihrer Möglichkeiten dafür eintreten, dass die Würde der Seelsorgenden in der Arbeitswelt nicht verloren geht. In einer Mediengesellschaft wie der unseren können wir alle zu Botschafter*innen von guten Nachrichten werden – ob mit Rezensionen, Lesungen, persönlichem Storytelling. Dafür braucht es keine Kirchenräume. Jede/r kann selbst dazu beitragen, die Geschichten im Buch weiterzutragen und zu zeigen, dass Kirche noch immer zu den Menschen kommt und Arbeit wesentlicher Teil der Lebenswelt ist. Wann sonst wäre das dringender nötig als heute?!

 

Silke Schmidt