Was bleibt vom Glauben in einer säkularen Gesellschaft? Was bleibt, wenn der Glaube, wie vielerorts zu beobachten, in einzelne Bestandteile zerfällt, derer sich andere bemächtigen? Es lässt aufhorchen, wenn sich für solche Fragen kein Theologe, sondern ein Theatermann und Dramaturg interessiert. Bernd Stegemann, der an der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ lehrt, hat darüber einen anregenden Essay verfasst. „Ein Ungläubiger schreibt über den Glauben“ – mit diesem Bekenntnis beginnt er seine Beobachtungen. Es folgen Sätze voller Respekt und Hochachtung für das, was er an der christlichen Religion – bei allem, was er durchaus auch kritisch vermerkt – schätzt.
Dennoch: nicht nur an sich selbst beobachtet er eine verbreitete „Glaubensuntauglichkeit“. Der Glaube ist herausgetreten aus der reflektierenden Obhut der Religion und wird er zu einem „unordentlichen Gefühl“. Das geht einher mit einer quasi-religiösen Selbstgewissheit auf den säkularen Feldern des Glaubens und Meinens. Jenseits des Wissens um die eigene Fehlbarkeit wird die Welt in manichäischer Weise in hell und dunkel, falsch und richtig, Gute und Böse eingeteilt. „Die Messen des Ichs feiern unablässig den Glauben an sich selbst.“ Was zu einem unversöhnlichen Gegenüber unterschiedlicher Geschmacksrichtungen, Positionen und Gruppierungen führt.
Einerseits hat die säkulare Welt berechtigterweise ein Bewusstsein über die Gefahren des Glaubens ausgebildet. Die Kehrseite liegt aber darin, dass die Entzauberung des religiösen Glaubens zu einer Verzauberung der weltlichen Ansprüche geführt hat. Der Zerstörung der natürlichen Grundlagen unseres Lebens im Äußeren entspreche die seelische Wüste im Inneren. „Doch statt mit allen Kräften eine Metanoia zu vollziehen, trägt unsere Zeit ein Selbstbewusstsein zur Schau, das aus jedem Anspruch des Ichs einen Auftrag für die Welt macht“, schreibt Stegemann.
Die verbleibenden „Glaubenspartikel“ sind von der Religion in die Politik gewandert. Dort amalgieren sie mit allen möglichen Überzeugungen und Weltanschauungen. Es fehlt ihnen aber das, was Theologen den eschatologischen Vorbehalt nennen. Ein Vorbehalt, der sie davor bewahrt, sich selbst mit ihren Meinungen und Erkenntnissen absolut zu setzen.
Im nachreligiösen Weltbild der Moderne steht nicht mehr Gott, sondern das Individuum, das in die Rolle Gottes schlüpft, im Mittelpunkt. Der ungebremste Individualismus wächst sich zu gefährlichen Ideologien aus, wie sie in vielen postchristlichen Gesellschaften zu besichtigen sind.
Was Stegemann den christlichen Kirchen vorwirft, ist, dass sie die Glaubenskrise nicht religiös, sondern nur säkular deuten. In ihrer Klage über Kirchenausstritte schaut die Kirche vor allem auf sich selbst als Institution, „statt dass ihr Blick auf die religiös Ertaubten gerichtet wäre.“ Dabei ginge es darum „der Erlösungssehnsucht eine lebendige Gestalt zu geben“. Denn „als rettende Geste hat der Glaube nur die Scheu vor dem Heiligen, um zu verhindern, dass die weltliche Macht die Erlösung zu ihren Konditionen erzwingt.“
Ich beobachte, dass es heute nicht wenige Menschen gibt, die sich selbst für ungläubig erklären. Die aber dennoch ein tiefes Gefühl dafür haben, was der Glaube im besten Sinne überhaupt ist bzw. sein könnte. Und was ihnen selbst fehlt. Der Autor dieses Buches gehört zu ihnen. Für ihn ist die Sehnsucht nach dem Verlorenen eine passende Art, um mit dem Verlorenen in Verbindung zu bleiben. Und es dadurch lebendig zu erhalten. Und vielleicht deutet sich in seinen Überlegungen bereits an, wie ein Glaube aussehen kann, der Menschen von heute erreicht und anspricht. Es wird ein auf der Höhe der Zeit reflektierender und keineswegs unkritischer Glaube sein. Der aber neugierig genug ist, sich auf die Suche zu machen nach den verschütteten, aber bleibenden Antworten. Und der, wie Stegemann am Ende schreibt, die Kraft hat, „eine Gegenwart zu stiften, in der das Ich sich einem Du gegenübersieht.“
Klaus Nagorni