Das Interesse an einer erfahrungsbezogenen Naturspiritualität ist zurzeit weit verbreitet. Es ist die Sehnsucht nach authentischen Erfahrungen in möglichst unberührter Natur, nach Schönheit, Wildheit, Kraft, nach dem Berührtwerden von etwas, das größer ist, als man selbst. Oft nehmen diese Sehnsüchte und Suchbewegungen religiöse Dimensionen an. Die Natur erscheint in ihrer Faszination, aber auch in ihrer Verletzlichkeit und Abgründigkeit wie das Heilige, das sich bekanntlich als fascinosum et tremendum in dieser Welt zu erkennen gibt und das herausfordernd aber auch schützenswert erscheint. Da ist auch die Hoffnung, dass Naturspiritualität zu einer neuen Wertschätzung von Natur führen könnte, die in eine neue verantwortliche ökologische Haltung und Praxis mündet und mögliche Katastrophen im Zuge des Klimawandels aufhalten kann. Es ist das Ziel vieler naturspiritueller Ansätze, die Liebe zur Natur zu wecken und zu stärken. Denn nach dem Pädagogen Pestalozzi schützen wir ja vor allem das, was wir lieben.

Das große Interesse an einer naturspirituellen Praxis spiegelt sich in einer Vielzahl von Neuerscheinungen auf dem Büchermarkt und in den digitalen Medien, die vor allem als Praxisberichte oder Ratgeber daherkommen. Die Szene ist unübersichtlich und schillernd wie ja auch der Begriff der „Spiritualität“ selbst. Bei so viel Anregungen und Praxis liegt der Ruf nach Reflexion, Einordnung und Theorie nahe. Weil hier vieles wenig durchdacht und verantwortet, manches sogar heikel erscheint, möchte Detlef Lienau, die reiche Praxis würdigend, mit seinem Buch vor allem eine Praxistheorie vorstellen, die sich auf christliche Naturspiritualität fokussiert. Dieses Feld liegt seit langem brach und wartet darauf, bearbeitet zu werden. Zwar gibt es umfangreiche und kluge Literatur zur Schöpfungstheologie, die aber kaum unmittelbar auf die Praxis und heutige Natursehnsucht anwendbar ist. Lienau entwickelt hier eine Praxistheorie, die die oft unreflektierte emotional aufgeladene Praxis in der Esoterik wie auch in christlichen Zusammenhängen ausleuchtet und theologisch einordnet.

Lienau ist ein Mann der Praxis mit langer Erfahrung im Pilgern und seit einigen Jahren auch in christlicher Naturspiritualität. Er leitet die Evang. Erwachsenenbildung Freiburg und ist im Rahmen dieser Arbeit auf vielen Pilgerwegen und bei naturspirituellen Angeboten inspirierend und begleitend tätig. Darüber hinaus ist er leidenschaftlicher Theologe, dem die Reflexion und Einordnung spiritueller Erfahrungen wichtig ist. Er ist Adjunct Researcher am Institut für Empirische Religionsforschung der Universität Bern und Lehrbeauftragter der Evang. Hochschule Freiburg. In der ersten Hälfte des Buches versucht er das Feld Natur, Spiritualität und Religion zu sichten und abzustecken, um dann theologische Orientierungen zu geben. Hier behandelt er u.a. Fragen im Zusammenhang eines neuen Mensch-Natur-Verhältnisses, aber auch wie Gott in der Natur erkennbar ist. In der zweiten Hälfte zeigt er an verschiedenen Entwürfen (Charles Taylor, Hartmut Rosa, Martin Scheel, Gernot Böhme, Angelika Krebs, Albert Schweitzer, Christina aus der Au) wie aus seiner Sicht gute Naturbegegnung möglich ist. Zahlreiche praktische Anregungen und Übungen für christliche Naturspiritualität aus seiner eigenen Praxis runden das Buch ab.

Detlev Lienau legt hier eine fundierte Praxistheorie christlicher Naturspiritualität vor, die einerseits die Qualität einer christlichen Orientierung hat und andererseits auch den ökologischen, existentiellen, religiösen und gesellschaftlichen Herausforderungen unserer Zeit gerecht wird. Das Buch ist sehr zu empfehlen und uneingeschränkt lesenswert.

 

Manfred Gerland