„Wie ein schwarzes Loch steht es im Zentrum meines Lebens und schluckt jede Zukunft, bevor sie beginnen kann.“ Ein Satz, mit dem alles gesagt ist. Linda, eine Frau jenseits der 40, führt ein Leben, von dem viele träumen. Liebend gerne arbeitet sie als Kuratorin für eine Kunststiftung. Mit ihrem Mann Richard – er verdient sein Geld als Lehrer, ist aber von Herzen Maler – und der Tochter Sonja wohnt sie in einer großzügigen Altbauwohnung inmitten von Leipzig. „Wir waren gesund, privilegiert, führten ein Leben in Sicherheit und Wohlstand“, so sieht sie ihr Familienleben rückblickend.

In einem Moment fällt das alles in sich zusammen: „Eine Ampel schaltete auf Grün, eine siebzehnjährige Fahrradfahrerin mit blondem Pferdeschwanz und lauter Musik in den Ohren trat in die Pedale ihres Rennrads, ein LKW Fahrer, der vergessen hatte in den Seitenspiegel zu schauen, bog über den Radweg nach rechts ab.“ Alles, was das Leben bisher ausgemacht hat, ist damit aus und vorbei.

Die 49jährige Schriftstellerin Daniela Krien lebt in Leipzig und debütierte 2011 mit dem zunächst wenig beachteten Roman „Später werden wir uns alles erzählen“. Zur Bestseller-Autorin wird sie mit „Die Liebe im Ernstfall“ (2019). Drei Jahre später schreibt sie sich mit „Der Brand“ endgültig in die erste Liga der deutschsprachigen Literatur. Das neu erschienene Buch kreist nun um die Folgen des Verlustes des einzigen Kindes, der gleichzeitig der Beginn eines neuen Lebens ist.

Kriens Romane eint, dass sie sich tief in das Seelenleben moderner Frauenfiguren eingraben, damit gleichzeitig immer auch eine Milieustudie über die gesellschaftliche Mitte darstellen. Große Literatur schafft es, den/die Leser*in dorthin zu locken, wohin sie/er eigentlich gar nicht will. Krien gelingt das mit ihrem Roman virtuos. Der Tod eines Kindes gehört wohl zum Schlimmsten, was einem im Erdenleben widerfahren kann. Es ist wie ein Angriff auf die Grundfeste des Daseins überhaupt. Niemand bleibt da unberührt. Trauerfeiern für verstorbene Kinder erschüttern einen, trotz professioneller Distanz, auch als Pfarrer*in. Etwas Dunkles bleibt in einem zurück.

Der tragische Unfall raubt Lisa nicht nur das Kind. Ein Unglück kommt bekanntermaßen selten allein. Die Eheleute trauern auf verschiedene Weise. Die Wege trennen sich. „Nicht die Liebe ist Richard und mir abhandengekommen, nur die gemeinsame Blickrichtung“, stellt Linda fest. Zu alledem erkrankt sie dann noch an Krebs. Eine Kadenz des Leidens. Hiobesk mutet das alles an. So hören wir dann auch im Buch ihren biblischen Leidensgenossen sagen: „Aber den Elenden wird Gott durch das Elend retten und ihnen das Ohr öffnen durch Trübsal“. Wie ein geheimnisvoller Monolith steht dieses Zitat kommentarlos inmitten des Romans.

Ruhig, aber außerordentlich realistisch, mit großer psychologischer Raffinesse erzählt Krien von dem, was einen heimsucht, wenn das eigene Kind stirbt. Wie ein waidwundes Tier zieht sich Linda auf einen alten Hof in einem vom Auto- und Flugzeuglärm drangsalierten Dorf zurück. Weit weg von ihrem bisherigen Milieu. Weit weg von allem, was sie an die Tochter erinnert. Weit weg von allen, die eine schnelle Heilung erwarten. Mutterseelenallein lebt sie dort, füttert die Hühner, mistet aus, spaltet Holz für den Ofen. Das alles tut sie im Schatten des Todes, dem sie näher als dem Leben ist. Einziges Gegenüber in der Trauer ist anfangs die Hündin Kaja, die manches Mal wie eine Seelsorgerin wirkt.

Krien ist mit ihrer Gabe, das eigentlich Unfassbare in Worte zu kleiden und damit auch fassbar zu machen, eine solitäre Erscheinung innerhalb der Literatur. Die Autorin ist dem Seelensterben ihrer Protagonistin so unheimlich nahe, dass einem unwillkürlich der Gedanke kommt, dass sie in ihrem Schreiben von eigener Erfahrung zehrt. Daniela Krien hat zwei Töchter. Die jüngere Tochter ist durch einen Impfschaden schwer behindert und pflegebedürftig geworden. Damit begann, so erzählt die Schriftstellerin in einem Gespräch, ein neues Leben. Seit 20 Jahren pflegt sie nun ihre Tochter. Die Kraft das alles zu bewältigen, nimmt sie aus dem Glauben: „Ich bin christlich aufgewachsen und in den größten Lebenskrisen war es der Glaube, der mich gehalten und mir geholfen hat und das Gebet tatsächlich. Im Gebet habe ich immer so viel Kraft gefunden, dass es danach weiterging. Ich kann mir kein Leben ohne Glauben vorstellen.“

Für Linda hingegen ist der Glaube keine Hilfe. „Mich interessiert an den Figuren im Roman“, erläutert die Autorin in einem Interview, „wie sie Krisen ohne Gott bewältigen“. Neben einer Unmenge Tabletten sind es Arbeit und Tagesstruktur, die Linda helfen, die Tage irgendwie dem Leben abzutrotzen. „Jede Nacht aber ist ein Schlund, durch den ich gepresst und am Morgen in die Welt geworfen werde“. Dann und wann taucht ihr Mann auf, der aber eher stört. Frisch verliebt bewegt er sich in einer ganz anderen Welt.

Ganz allein bleibt Linda dann aber nicht in dem äußerlich etwas trostlos wirkenden Dorf. Aus zufälligen Begegnungen werden lose Kontakte, entstehen Beziehungen zu Menschen aus einem ihr bisher gänzlich unbekannten, dörflichen Milieu. Menschen, die das Herz am rechten Fleck haben, tauchen auf. Durch den Ortswechsel von der Stadt aufs Land weitet sich für die Autorin auch die thematische Ebene. „Mein drittes Leben“ ist deshalb nicht nur ein Roman über die gewaltige, zerstörerische Kraft der Trauer. Es ist auch ein politischer Roman. Ganz unverblümt gibt da etwa ihr Nachbar seinen bauchigen Kommentar zur gegenwärtigen Politik. Aktualität kommt so ins Buch. Linda nimmt das wahr, aber sie bewertet die Leute nicht danach. Sie sieht immer nur das ganz Menschliche, das Herzhafte in den Leuten, die mit ihr im Dorf leben.

Wie es weitergeht? Vielleicht ist es am besten, trotz aller (vielleicht) innerer Widerstände das Buch in die Hand zu nehmen und sich vom Erzählstrom einfach mitnehmen zu lassen. Das lohnt sich in jedem Fall. Auch und gerade für Menschen, die in der Seelsorge tätig sind, vielleicht sogar Menschen in der Trauer zu begleiten haben. Man lernt mit diesem einen Roman mehr über die Trauer als in einer Vielzahl von Fachbüchern und Ratgebern.

Soviel sei verraten: Irgendwann kommt wieder etwas Bewegung, etwas Hoffnung, etwas Zukunft in Lindas Leben. Es ist und bleibt aber äußerst beschwerlich: „Drei Schritte vor und zwei zurück, so ist es schließlich. An schlechten Tagen sogar umgekehrt“. Sie kehrt in die Stadt zurück, nähert sich dann auch langsam ihrem Mann wieder an.

Daniela Krien erzählt von einem unerträglichen Verlust. Aber sie erzählt auch von einer großen Liebe, die, wie sie im Vorgängerroman konstatiert hat, „keine Romantik“, sondern eine Tat ist. Man muss die Liebe vom Ernstfall betrachten. Nur der Ernstfall bringt das Wahre im Menschen zum Vorschein.

 

Dieter Kümmel