„Du sollst dir kein Bildnis machen“, heißt es in den 10 Geboten des AT. Kein Bild von dem eigenen Gott, an den man glaubte, noch Bilder von anderen Göttern, die anzubeten das Volk Israel stets in Versuchung stand, man denke an die Geschichte vom goldenen Kalb. Trotz dieses Bilderverbots hat aber die christliche Kultur, die auf dem AT mit seinem Bilderverbot aufbaute, eine reichhaltige Bilderwelt geschaffen, so reichhaltig wie keine andere Religion. Wie ist dieser Widerspruch zu erklären?
Gottes Bilder – eine Geschichte der christlichen Kunst nennt der Theologe Johann Hinrich Claussen, Kulturbeauftragter der EKD sein neues Buch. Es ist nach Gottes Häuser und Gottes Klänge das dritte Buch, das die kulturellen Erscheinungsformen des Christentums – Kirchenbau, Kirchenmusik und christliche Bildkunst – zum Gegenstand einer gut lesbaren und verständlichen Darstellung machte. Claussen ist dabei auf die Idee gekommen, mit den Lesern einen Museumsrundgang in zwölf Sälen zu unternehmen, um die Geschichte der christlichen Kunst von den ersten bildlichen Darstellungen im alten Israel bis zu den Exponaten der unmittelbaren Gegenwart der christlichen Moderne vorzustellen.
Claussen ist bei der Auswahl der Bilder durchaus eigene Wege gegangen, hat auch Unbekannteres in den Vordergrund gestellt. Die Verankerung der Bildwerke im Kult, er nennt es „Kunsthandwerk“, arbeitet er heraus, ohne dem Gedanken der Autonomie des Kunstwerks als Errungenschaft der Moderne besonders viel Bedeutung beizumessen. Dass das Christentum mit seinen biblischen Erzählungen als eineinhalb Jahrtausende im „Abendland“ dominierende Kulturmacht die Darstellungen in der Kunst thematisch beherrschte (neben den von Claussen nicht erwähnten Geschichten und Mythen aus Ovids Metamorphosen und anderen Quellen der Antike) wird vorausgesetzt und nicht problematisiert.
Claussen ist ein kundiger und geschickter Vermittler seines Kunstwissens und seiner Kunstdeutung. Man lässt sich von ihm gern an die Hand nehmen, auch wenn man vielleicht anderen als den von ihm ausgewählten Werken den Vorzug geben würde. Der besondere Vorzug seiner Darstellung ist der sozialgeschichtliche bzw. sozialreligiöse Ansatz, sprich die Einordnung der Kunstwerke in ihren religiösen, sozialen und kulturellen Kontext. Der Leser lernt in diesem gut geschriebenen und reich bebilderten Buch viel über die Einflüsse, die die Entwicklung des Christentums bestimmten, und erhält dabei neue überraschende Einblicke.
Der erste Saal zeigt vor allem Objekte religiöser Kleinkunst aus dem alten Israel, die archäologisch erst in den letzten Jahrzehnten gefunden wurden. Er zeigt also, dass es in Israel Bilder gab, sogar eine Göttin bzw. Ehefrau an der Seite des alleinigen Gottes Jahwe. Und auch das goldene Kalb ist gefunden worden, in Gestalt der 12 cm hohen Plastik eines jungen männlichen Buckelrinds in Samarien aus dem 12. Jh. v. Chr. Die prophetische Bildkritik Deuterojesajas, die die Gottesbilder polemisch lächerlich machte, hatte immerhin die Wirkung, dass das rabbinische Judentum mit dem heiligen Buch der Bibel als einem „portativen Vaterland“ (H. Heine) die Verfolgungen überleben konnte.
Der zweite Saal präsentiert Christusbilder der Anfangszeit des Christentums. Zu den frühesten bildlichen Darstellungen zählt Christus als der gute Hirte, der auf jedes seiner Schafe achtgibt. Erste Darstellungen dieses Motivs finden sich übrigens in ägyptischen Kunstwerken um 2000 v. Chr., zu bewundern im Neuen Museum auf der Berliner Museumsinsel. Dass die erste Darstellung des gekreuzigten Christus seine Verspottung auf dem berühmten Alexamenos-Grafitto mit dem Eselskopf ist, verschweigt Claussen nicht. Im Gegensatz dazu der unangefochtene Christus am Kreuz auf dem Maskell-Elfenbeinkästchen aus den Jahren 420-430.
Mit der Beschreibung antiker Bildwelten in Syrien, Ägypten und Äthiopien erinnert Claussen uns westliche Christen im dritten Saal daran, dass das Christentum im Osten entstanden ist. Claussen geht auf die Knie vor der Farbenpracht der Kirche des Roten Klosters in Oberägypten, die in ihren Wandmalereien ein Abbild des Himmels zeigt, die einzigen aus dieser Zeit des 5. und 6. Jh., die bis heute in Gänze erhalten sind. Die große Attraktion des Säulenheiligen Symeon in Syrien – auf einem Reliquiar aus dem 6. Jh. wird er auf der Säule stehend gezeigt – erklärt Claussen durch den originellen Verweis auf Marina Abramovics Performance „The Artist is present“ im New Yorker MoMA, wo sich 1500 Besucher dem intensiven Blickkontakt der Künstlerin aussetzten, so wie damals die Wallfahrer zu Symeon als einem Bild des Heiligen aufschauten.
Es ist nicht genug Platz in einer Rezension da, um die einzelnen Museumssäle mit dem klugen und elegant formulierenden Kunstführer Claussen genauer abzuschreiten. Unter dem Titel „Das neue Rom und seine Ikonen“ folgt ein Kapitel über den Bilderstreit in Byzanz – mit der überraschenden Auskunft, dass es eigentlich keinen richtigen Bildersturm in Byzanz gab. Die Christus-Ikone bleibt Vermittlung des Heiligen, in der das Göttliche begegnet. Weil Gott in Christus Mensch wurde, kann er wenigstens nach seiner Menschheit dargestellt werden. Doch die am meisten verbreitete Ikone wird die leidende Muttergottes von Andreas Ritzos, viel kopiert bis hin zur ihrer US-japanischen Aneignung von Daniel Mitsui.
Dann geht es weiter zur Bildhauerkunst des westeuropäischen Mittelalters, dessen vollendete Menschendarstellung Claussen vor allem an der Passionsgeschichte an dem Lettner des Westchors des Naumburger Doms zeigt. Auch ich stand kürzlich ergriffen vor dem Gekreuzigten – ein leidender Menschensohn und Bruder hängt dort am Kreuz; Mitleid, Trauer, Liebe werden durch die bildliche Darstellung geweckt, man schreitet durch das Lettner-Tor und steht vor den großartigen Stifterfiguren.
Und dann folgen in Saal sechs die Fresken der Frührenaissance in Florenz, ein Höhepunkt nach dem andern – Giottos Fresko über die Lossagung des Franziskus von seinem Vater, Masaccios Fresken in der Brancacci-Kapelle mit der Entwicklung der Zentralperspektive, Fra Angelicos mystische Geburt Christi an der Wand einer Klosterzelle. Und Saal sieben – nochmals gesteigert die „entfesselte Schönheit“ der Gemälde der Hochrenaissance, gerade auch bei Botticellis Beweinungen Christi – Schönheit und Schmerz, schreibt Claussen, eine Menschenpyramide von Trauernden aufgeschichtet, vereint in ästhetischer Beweinung des toten Christus. Aber eben auch stilisiert. Nun gut, die Auswahl der Gemälde ist immer subjektiv. Ich hätte, um die Verzweiflung angesichts des Todes Christi zu zeigen, eher Sebastiano del Piombos Pieta vorgezogen, ein dunkles Gemälde mit düsterem Hintergrund, eine die Hände ringende Maria, verzweifelt zum Himmel aufblickend und vor ihr liegend, der blasse Leichnam ihres Sohnes, niemand, der ihn stützt oder in den Armen hält. Ausdruck der totalen Verlassenheit des Todes. Für mich fehlt auch der Hinweis auf Holbeins d.J. „Leichnam Christi im Grabe“, der so schrecklich tot ist, dass man angesichts dieses Bildes, heißt es in Dostojewkijs Roman Der Idiot, zum Atheisten werden kann. Allerdings hängt in diesem Saal auch die Kreuzigungsszene aus dem Isenheimer Altar von Matthias Grünewald, ein Schreckensbild, wie Claussen mit Recht sagt, das in eine Zukunft weist wie die des Triptychons von Otto Dix über den 1.Weltkrieg.
Es geht weiter in den Saal acht mit Grafiken der Reformationszeit; Dürers apokalyptische Reiter stürmen Waffen schwingend durch das Buch. Dann wird das geordnete ruhige Leerräumen einer Kirche von Bildern im Auftrag der Obrigkeit gezeigt, kein wildes Zerstören, so ging es wohl häufiger zu. Das Urbild des lutherischen Gesetz-und-Gnade-Bildes, von einem unbekannten Grafiker für den französischen Markt angefertigt, wird gezeigt. Es fand dann in mehreren Versionen Cranachs d.Ä. große Verbreitung. Claussen erwähnt nicht, dass der Kupferstich „Herkules am Scheideweg“ wohl das Vorbild für den vor dem trennenden Baum sitzenden Christenmenschen war, der sich da entscheiden muss zwischen Gesetz und Gnade. Aber er merkt mit Recht an, dass die totale Abwertung des Gesetzes nicht Luthers Vorstellung entsprach – das Gesetz bleibt die Voraussetzung für die Annahme der Gnade. (Werner Hofmanns wichtige Hamburger Ausstellung 1983 „Luther und die Folgen für die Kunst“ wird leider nicht erwähnt).
Es folgt das Kapitel „Barocke Bildmissionen“. Die Gegenreformation kämpft gegen den Teufel des Protestantismus, Rubens malt den Triumph der katholischen Asien-Mission des Jesuitenpaters Franz Xaver. Aufschlussreich auch die große Wirkung des auf einem anonymen Gemälde von Gott selbst gemalten Gnadenbildes der Jungfrau von Guadeloupe. Ihre Sakralisierung soll sagen, das wahre Bild der Gottesmutter ist nicht in Europa, sondern in der Neuen Welt zu finden! Und – für mich eine Überraschung: Das „Erstlingsbild“ von J.V. Haidt aus dem Jahr 1747 der missionierenden Herrnhuter Brüdergemeinde. Es zeigt eine größere Anzahl von Menschen, die, inzwischen schon verstorben, als Erstlinge aus verschiedenen Weltgegenden bekehrt und als Zeugen der erfolgreichen Mission nach Deutschland geholt wurden. Einundzwanzig Personen sind es, eine „christliche Internationale“ bildend, in der Indigene und Sklaven gemeinsam mit Christus und seinen Engeln zum Gruppenporträt eingeladen sind. In der „postmortalen Idylle“ dieses Gemäldes, schreibt Claussen kritisch, gibt es keine Spuren von Kolonialismus, Sklaverei und Rassismus mehr, die das Schicksal dieser Menschen und ihren frühen Tod bestimmten.
Claussen geht im elften Saal auf Monumente christlicher Erbauung im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit, auf die frommen Bilder in der Moderne ein. Da ist Thorvaldsens segnender, den Menschen zugewandter Christus, ursprünglich für die Liebfrauenkirche in Kopenhagen geschaffen, dann aber auch in mehreren Kopien über Europa verstreut, so vor der Friedenskirche in Potsdam. Er weist auf Christusmonumente in Lateinamerika hin, den Christus Redemptor von Rio des Janeiro und den Monumentalchristus im kommunistisch gewordenen Havanna. Er geht auch auf die seltsame Herz Jesu-Frömmigkeit ein, versucht ihren Erfolg zu verstehen, bis hin zur Kirche Sacré Coeur in Paris. Weiter auf das ungeheuer populäre Jesusbild der polnischen Nonne Faustina und auf die Stalingrad-Madonna des Truppenarztes Reuber von 1942. Ich muss ehrlich gestehen, dass für mich als Protestanten da manchmal etwas zu viel Verständnis für die katholischen Exponate mitschwingt. „Es war erst Kunst, dann wurde es Kitsch.“ Nein, vieles war von Beginn an Kitsch bzw. wunderselige Gläubigkeit. Da hätte ich mir den wunderkritischen Blick von Gustave Flauberts „Bouvard und Pecuchet“ oder das „ungläubige Staunen“ gewünscht, das Navid Kermani angesichts vieler katholischer Kunstwerke ergriff. Nicht so Claussen – er ist ökumenisch-gnädig und sieht die Herzensanliegen leidender Menschen hinter der Verehrung gerade auch zum Kitsch tendierender religiöser Symbole und Bilder wie der Herz Jesu-Verehrung.
Unstrittig hingegen ist der zehnte Saal mit seinen Sehnsuchtsbildern der Romantik, sprich Runges geheimnisvoller Zeiten-Zyklus und C.D. Friedrichs Tetschener Altar. Das Arrangement eines übergroßen Kreuzes auf einem Felsen, umgeben von Tannen und darüber ein dramatisch rot leuchtender Himmel, „Christus, wie er als Bildwerk am Kreuz hängend zwischen Himmel und Erde zu schweben scheint.“ (W. Hofmann) Eine von Friedrich gemalte Landschaft kann religiöse Gefühle erzeugen. „Das Göttliche lässt sich nicht abbilden, aber in einer poetischen Anschauung der Welt kann das Gefühl für seine Präsenz erwachen“, kommentiert Claussen. Daher kommt der Besuch von Friedrich-Ausstellungen heute einer Wallfahrt gleich.
Damit sind wir beim Schlusskapitel, der „christlichen Kunst in der Moderne“, angelangt, Saal zwölf. Der kunstsinnige Theologe müsse ein interesseloses Interesse an der Kunst seiner Epoche haben. Es gebe Künstler, die in ihrer Kunst eine eigene Art von Glauben gestaltet haben, keine Kunstreligion, aber eine „zeitgenössische Christlichkeit in säkularer Kultur“ präsentieren. Als mir bis dato nicht bekannte Beispiele dafür nennt er Harriet Powers’, 1837 in Georgia geboren und als Sklavin aufgewachsen, textile Bilderbibel. Ihr Pictorial Quilt gilt heute als Ikone der afro-amerikanischen Kunst. Dann den englischen Maler Stanley Spencer, der in The resurrection Cockham realistisch-kubistisch dargestellt hat, wie in seinem eigenen Dorf Cockham die Toten auferstehen: er selbst ist in der Mitte in paradiesischer Nacktheit dabei. Ein Gemälde, das 1927 große Aufmerksamkeit fand. Bekannter sind Alexis von Jawlenskis abstrakte christusförmige Gesichter, an die Tradition der Ikonen anknüpfend, die der Künstler trotz massiver Schmerzen seiner einsamen Existenz abgerungen hatte. Schließlich Chagalls jüdische und christliche Geschichte trotz der Shoah bunt versöhnende Kirchenfenster. Besonders mit den Fenstern im Zürcher Frauenmünster zeigte Chagall „der christlichen Gemeinde einen Christus, dessen Leben, Sterben und Auferstehung aus einer jüdischen Wurzel stammte und der ohne die großen Gestalten des Alten Testaments nicht zu denken war.“
Was wird aus der christlichen Kunst, fragt Claussen zum Schluss? Sie war eurozentriert. 1970 stammten erst 41% aller Christen aus Afrika, Asien Lateinamerika, doch heute sind es schon 65%. Welche Gottesbilder haben sie entwickelt? Im säkularisierten Westen bekommen zumeist renommierte Künstler Aufträge für die Gestaltung von Kirchenfenstern, man denke an Gerhard Richter. Das sieht Claussen kritisch. Angemessener wäre es, wenn Kirche einem autonom-säkularen Kunstwerk Gastfreundschaft gewährt und dadurch ein tieferes Verständnis ihrer eigenen Glaubensgeschichte gewinnt. So etwa in Micha Ullmanns Bodenskulptur „Stufen“ in der Berliner St. Matthäuskirche, die in die Tiefe führen und dort nach sieben Stufen rätselhaft enden.
Claussen hat eine äußerst anregende Geschichte der christlichen Kunst verfasst, die spannend zu lesen und zu betrachten ist. Er ist nicht nur die gebahnten Wege gegangen, sondern hat Nebenwege entdeckt und wichtige kunstwissenschaftliche Literatur für die Theologie erschlossen. Und uns kenntnisreich durch die zwölf Säle geführt! Ich kann Claussens Buch unbedingt zur Lektüre empfehlen. Was mir allerdings fehlt, ist die kritische Erörterung der Frage: Gibt es „Bilder Gottes“? Denn der von Claussen gewählte Titel ist ja doppeldeutig. Es können Bilder von Gott gemeint sein, aber auch von Gott inspirierte Bilder. Lässt sich das Göttliche denn nun darstellen? „Einen Gott, den es gibt, gibt es nicht“, sagt Bonhoeffer. Die traditionellen Bilder von Gottvater, etwa in den Gnadenstuhl-Bildern: der alte Mann mit Bart, der seinen toten Sohn in den Armen hält oder der seinen heiligen Geist in Gestalt einer Taube zu Maria oder zur Taufe Jesu ausschickt, sind längst als überholte zeitgebundene Darstellungen erkannt, begegnen allenfalls noch in Karikaturen. (Etwa bei Frans Masereel, wo Gott sich angesichts der auf ihn eindringenden Gebete der Kriegsgegner des 1.Weltkriegs: Gib unseren Waffen Sieg, give victory to our arms u.ä., verzweifelt die Haare rauft.) Der Thron, auf dem Gott als Vaterfigur sitzt, ist leer.
Man kann von Gott nur in Vergleichen reden – er ist wie ein Vater, wie ein guter Hirte, wie ein Richter, wie eine feste Burg, wie die Sonne, wie ein Sturm u.ä. Das Göttliche kann in der Natur begegnen, siehe Friedrichs Landschaften, die religiöse Gefühle beim Betrachter erzeugen. Natürlich auch in der Liebe. Und in der Musik. Aber es begegnet vor allem im menschlichen Leiden, man denke an das sich zum Betrachter wendende Gesicht des Schmerzensmanns in der Passion Dürers, der uns anblickt und fragt: Wieso lasst ihr das zu? In Francis Bacons deformierten Körpern, in den Fotos hungernder Kinder, den Bildern von auf dem Mittelmeer kenternden Flüchtlingen, die immer wieder schockieren. Es begegnet im anonymen Christus, der der Hungernde, Dürstende, Gefangene neben mir ist. Das Christentum ist Gedächtnis des Leidens, memoria passionis. Insofern bleiben die Kreuzesdarstellungen aktuell: der Christus mit der Gasmaske am Kreuz von George Grosz. Der Gekreuzigte von Oskar Kokoschka, der den hungernden Kindern der Nachkriegszeit vom Kreuz herab eine hilfreiche Hand reicht, und andere mehr. Aber vielleicht ist diese ethische Deutung der Anwesenheit Gottes im leidenden Nächsten zu direkt und plakativ?!
Der norwegische Literaturnobelpreisträger von 2023, Jon Fosse, hat in dem Roman Ich ist ein anderer die Schwierigkeiten umkreist, ein abstraktes Bild des Gottes, der sich entzieht und sich gerade darin zeigt, zu schaffen. Der Maler Asle denkt: „Und ich sehe mich dastehen und das Bild mit den beiden sich ungefähr in der Mitte kreuzenden Strichen anschauen, einer ist lila, einer braun, und ich sehe, dass ich die Striche langsam und mit viel dicker Ölfarbe gemalt habe, und sie hat getropft, wo die braune und die lila Linie sich kreuzen und ich denke, ich muss das Bild loswerden, aber ich wollte es doch behalten?“ Als er es herunternehmen will, hat er den Eindruck, als ob Gott ihn aus der Staffelei anschauen würde. Ja, Gott schaut ihn aus allen Dingen an, dem runden Tisch, dem Sessel. Er denkt, er habe sich wie ein Mönch in die wortlose Malerei zurückgezogen, in ihren Frieden, aber das klingt falsch. Und er denkt weiter über Gott nach und kommt dabei wieder zu den Bonhoefferschen paradoxen Formulierungen: „Gott verbirgt sich die ganze Zeit (…) und vielleicht zeigt er sich umso mehr, je mehr er sich verbirgt, und umgekehrt.“ Gott ist stumm, sein Schweigen wurde erst durchbrochen, als sein Wort, Christus, in die Welt kam, aber auch daran zweifelt Asle. Befindet sich nicht auch Christus in Gottes großem Schweigen? Gott ist „ungeschaffenes Licht, die schwarze Dunkelheit ist Gottes Licht.“ Derart in meditativen Paradoxen fließen Asles Gedanken dahin und kommen zu keinem Abschluss.
Hans-Jürgen Benedict