Dieses Buch des Kunsthistorikers Volker Herzner erscheint in einer Zeit, in der unsere Gegenwart durch die Vorgänge im Nahen Osten von einem immer stärker werdenden Antisemitismus erfüllt ist. Der schon immer präsente, offene bzw. latente Antisemitismus bricht sich erneut seine folgenreiche, verheerende Bahn, in der nicht zuletzt auch das Christentum auf der angeklagten Seite steht. Seit dem Reformationsjubiläum 2017 ist die Rede von Luthers Antisemitismus zu einer gängigen Ausdrucksform seiner späten Judenfeindschaft geworden und die grundlegende Perspektive tauchte auf, ob das Christentum nicht seit seinem Ursprung von einer als rassistisch zu bezeichnenden Judenfeindschaft geprägt sei.

Andererseits ist besonders in Deutschland angesichts der weltgeschichtlich einmaligen Judenvernichtungspolitik Hitlers das Verhältnis von Judentum und Christentum seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges u.a. in der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit sowie durch zahlreiche Aktivitäten auf verschiedensten Ebenen auf eine grundlegend neue, verheißungsvolle Basis gestellt worden, in der dieses Verhältnis der beiden Religionen als ein geschwisterliches bezeichnet wurde.

Die Fragestellung dieses Buches findet inmitten einer weit verzweigten, kaum mehr zu überblickenden Forschungslandschaft statt, und sie wird von einem Autor erörtert, für den als Kunsthistoriker die sehr reichhaltige Kenntnis und Verarbeitung der historischen, religions- und kulturgeschichtlichen, christlich-theologischen und jüdischen Literatur der älteren, neueren und neuesten Zeit kennzeichnend ist sowie die stets präzisen Nachweise und Belege seiner Argumentationen.

Herzners Forschungsschwerpunkt ist die Altniederländische Malerei und die Kunst der Italienischen Renaissance. Durch die Untersuchung der Decke der Sixtinischen Kapelle von Michelangelo, der er ein gewichtiges Buch gewidmet hat, kam u.a. die Judenthematik dieser Zeit insgesamt in seinen Blick und richtete sich auch auf Martin Luther als Zeitgenossen Michelangelos und sein Verhältnis zu den Juden. Schließlich weitete sich das Thema des Verhältnisses von Judentum und Christentum immer mehr aus, von der Entstehung des Christentums durch die Jahrhunderte bis in unsere Gegenwart. Es ist vor allem ein kunsthistorischer und religionsgeschichtlicher Zugang zu einer hochkomplexen Thematik, bei der der Autor den unbezweifelbaren religiösen Konflikt zwischen Judentum und Christentum in den Mittelpunkt seiner Darlegungen stellt. Das ist eine Ausnahmeerscheinung inmitten der heutigen, vielstimmigen Diskussionslage, in der der Antisemitismus, vor allem der rassistisch bestimmte Antisemitismus, den Ton angibt. Der bekannte Judaist Peter Schäfer hält es für falsch, den europäischen Konflikt zwischen Judentum und Christentum als einen religiösen zu charakterisieren. Mit seiner Identifizierung von Antijudaismus und Antisemitismus wird schließlich der Antisemitismus zum Wesensmerkmal des Christentums insgesamt erklärt.

Demgegenüber zeigt Herzner den unüberwindbaren Unterschied zwischen Judentum und Christentum in der Geschichte sehr eindrücklich auf, der heute weitgehend totgeschwiegen bzw. umgangen wird, um nicht als Antisemit zu gelten. Mentalitätsgeschichtlich ist dieser Vorgang für uns Deutsche nach dem Holocaust durchaus verstehbar, aber so wird aus einer unleugbaren Tatsache eine Unwahrheit, dass das Verhalten der Christen gegenüber den Juden seit dem Urchristentum über die Jahrhunderte hinweg bis zu Hitler rassistisch begründet gewesen sei, unabhängig von den in den unterschiedlichen Epochen dominanten Denkweisen und gesellschaftlich-politischen Umständen.

Seit der Verkündigung des Pauls und der Evangelien, dass Jesus der Sohn Gottes ist, war der unbestreitbare Gegensatz zum Glauben der Juden offenkundig, und Herzner fragt, warum dieser offenbare Konflikt von christlicher Seite gern ausgeblendet wird. Über die Situation der Juden im Römischen Reich, in dem die jüdische Religion als religio licita galt, dem hellenistischen Einfluss und über die Gründe für die Ausbreitung des Christentums werden die mittelalterlichen Vertreibungen der Juden aus vielen Ländern und der christliche Hass auf die Juden im Zuge der Kreuzzüge und Pogrome geschildert. Als Kunsthistoriker geht der Autor auch auf die bekannte „Judensau“ an der Wittenberger Stadtkirche ein. Die infamen und äußerst beleidigenden Darstellungen in Wittenberg und vielen anderen Orten sieht er mit Mario Tietze (Kleine Heft zur Denkmalpflege 15, Halle 2020) als Wirkung der radikalen Predigten der Bettelmönche an, demnach die Juden den Messias nicht in der Heiligen Schrift, sondern „in der Sau“ gesucht hätten.

In zwei Kapiteln stellt Herzner die zunächst freundliche und später judenfeindliche Haltung Luthers dar. Auch dieses viel erörterte Thema erhält durch die Sicht des Autors Akzente, die z.T. gegen die heute übliche Meinung stehen. Die Publikation „Von den Juden und ihren Lügen“ (1543) „markiert mit den angedrohten furchtbaren Konsequenzen gegen die Juden und der erschreckenden Schärfe des Tons einen Höhepunkt in Luthers Auseinandersetzung mit dem christenfeindlichen Judentum. Aber anders als zu erwarten, und anders als heutzutage ohne weiteres unterstellt wird, hatte diese berüchtigte Schrift keine nennenswerten Auswirkungen auf das Verhältnis der Christen zu den Juden und der Juden zu den Christen, auch nicht auf die Judenpolitik der evangelischen Stände.“ (107)

Dagegen erlangte Luthers Schrift „Dass Jesus Christus ein geborener Jude sei“ (1523) die bei weitem größte Bedeutung. Herzner beruft sich auf Johannes Wallmann, der für die Wirkung dieser Schrift im 18. und 19. Jh. feststellt: „In dieser Zeit bildet sich auch im deutschen Judentum eine im globalen Judentum einzigartige Liebe zu Deutschland als dem judenfreundlichsten Land.“ (Martin Luthers Judenschriften, Bielefeld 2019) Philipp Jakob Speners Aufforderung, freundlich zu den Juden zu sein, wurde Gemeingut des von ihm geprägten Pietismus und ein Markstein in der Geschichte der Toleranz.

Über die Zeit der Aufklärung und die Emanzipation der Juden in Deutschland kommt der Autor schließlich auf die Zeiten zu sprechen, die in der heutigen Debatte im besonderen Blickpunkt stehen: auf das Deutsche Kaiserreich und die Weimarer Republik. Der Kontrast in der Sicht auf das deutsche Judentum dieser Zeit ist gewaltig. Spricht Peter Schäfer vom „Kaiserreich als antisemitische Konsensgesellschaft“ und von der Weimarer Republik als „Vorhof zur Hölle“ (Kurze Geschichte des Antisemitismus, München 2020), so stellt die jüdische Historikerin Shulamit Volkov fest, dass die Juden trotz des verbreiteten Antisemitismus das Bewusstsein hatten, ein integraler Teil der deutschen Gesellschaft zu sein und es die meisten Juden als Privileg empfanden, im Deutschen Kaiserreich zu leben. (Deutschland aus jüdischer Sicht, München 2022).

Gegenüber der Sicht von Peter Schäfer und auch der von Peter Longerich (Antisemitismus. Eine deutsche Geschichte von der Aufklärung bis heute, München 2021) macht Herzner vor allem auf die wichtige Publikation von Michael Wolfssohn und Thomas Brechenmacher aufmerksam: Deutschland, jüdisch Heimatland. Die Geschichte der deutschen Juden vom Kaisserreich bis heute, München 2008. Anhand der historischen Demoskopie zeigen beide Autoren eindrücklich, wie stark zwischen 1860 und 1933 der Prozess der Akkulturation der jüdischen Bevölkerung an die deutsche Kultur quer durch alle Schichten gewesen ist. Und schließlich ist der Hinweis auf die beiden Sätze von Nahum Goldmann, des Präsidenten des Jüdischen Weltkongresses, von größter Bedeutung, die er auf der 5. Plenartagung 1966 in Brüssel hielt und die heute kaum mehr wahrgenommen werden: „in keinem anderen Land der Erde haben Juden eine derart wichtige Position im öffentlichen und geistigen Leben eingenommen wie im pränazistischen Deutschland, in der Weimarer Republik“. „Andererseits sind an uns von keinem anderen Volk schrecklichere Verbrechen verübt worden als von den Deutschen während der Epoche der Nazi-Herrschaft.“ (edition suhrkamp, Frankfurt/M. 1967, 9f)

Mit der unvergleichlichen Katastrophe der Naziherrschaft endet das Buch des Kunsthistorikers Volker Herzner, der dem religiösen Konflikt zwischen Judentum und Christentum in der Geschichte die ihm gebührende Aufmerksamkeit widmet und deshalb ein Fragezeichen hinter die behauptete Geschwisterlichkeit der beiden Religionen setzt. Er macht auf unwiderlegbare Tatsachen aufmerksam, die heute oft beschwiegen werden, zum Nachteil des in der Gschichte wahren Verhältnisses des Christentums zum Judentum, das inmitten des nicht zu überwindenden religiösen Konfliktes von historisch und theologisch tief verwurzelten gegenseitigen Verbindungen und Beziehungen geprägt ist. Ein in der gegenwärtigen Diskussion sehr notwendiges Buch.

 

Wolfgang Sommer