Unser Zusammenleben befindet sich im Modus der Polykrise. Wie sollten sich Theologie und Christentum in einem solchen Geflecht verhalten? Herbert Böttcher markiert in seinem Buch, dass Religion im Allgemeinen und Kirche im Speziellen ihr Angebot immer stärker „als Überhöhung und Erweiterung des Glücks ebenso wie als Entlastung und Begleitung von Scheitern und Neuanfang“ verstehen (8). Unmittelbar werde sich an den Bedürfnissen der Individuen orientiert, um gesellschaftlich anschlussfähig zu sein. Das „erschöpfte Selbst“ brauche Entlastung im ständigen Druck der Selbstoptimierung (vgl. 38f). Auf der Strecke bleibe jedoch jeglicher kritische Impuls auf die gegebenen gesellschaftlichen Schieflagen, die insbesondere auf der Todesmaschinerie kapitalistischer Herrschaftsverhältnisse gründe. Optimierungszwang, Konkurrenz, Wachstumswahn beherrsche unser Zusammenleben, doch die Kirche schweige. Und weiter: „Mit dem Verlust des Bezugs auf das Ganze von Gesellschaft und Geschichte verliert die Rede von Gott ihre Plausibilität.“ (34) Das Christentum wird inhaltlich entleert, es stabilisiere und fördere letztendlich die geschlossene Immanenz kapitalistischen Dauerdrucks (vgl. 44f). „Distanz- und reflexionslos gehen sie (= die Menschen) in der geschlossenen Immanenz der Welt, wie sie ist, auf.“ (45)
Viel eher plädiert der Verfasser für eine „doppelte Transzendierung: das Transzendieren der geschlossenen Immanenz gesellschaftlicher Systeme ebenso wie einer in Raum und Zeit geschlossenen Geschichte, in der es keine Hoffnung auf Rettung derer geben kann, die in der vergangenen Geschichte gelitten haben und gestorben sind.“ (52f) Es geht um einen Glauben „als treibende Kraft, sich weder mit geschichtlichen Verhältnissen noch mit der Endgültigkeit des Todes abzufinden.“ (59) „Steh auf“ – dieser Satz war für das ganze Leben Jesu bis hin zu seiner Auferstehung prägend und er soll auch uns Menschen weiter Orientierung geben: Diese Welt ist veränderbar (vgl. 62f). Der Verfasser hat dabei nicht nur die Gestaltbarkeit von Strukturen im Blick, sondern er macht deutlich – inspiriert von der christlichen Apokalyptik –, dass die Zeit der (kapitalistischen) Unrechtsregime beendet sein wird. Apokalyptik markiert „Kritik an und Widerstand gegen die Herrschaftsverhältnisse als Hoffnung auf das Ende der Herrschaft und das Ende der Zeit.“ (69) Sie umfasst den konsequenten Bruch mit dem System – der Bruch mit dem Dauerzustand der (kapitalistischen) Katastrophe.
So relevant und zentral dieser Punkt ist, so ergänzungsbedürftig erscheint er mir. Wie gehen wir mit dem Gesundheitsbereich, der Schule, der Wohlfahrt als Christ*innen usw. um? Überall brechen und sich zurückziehen? Gibt es konkrete Transformationsschritte, die wir gehen können? Gibt es weitere Strategien (jenseits der Konfrontation und des Bruches, die wir brauchen), um an einer gerechteren Welt zu arbeiten (vgl. etwa Eric Olin Wright: Linker Antikapitalismus im 21. Jahrhundert)? Helmut Gollwitzer hat einmal gesagt, dass christliches Handeln von einer „revolutionären Ungeduld“ und einer „reformistischen Geduld“ geprägt sein sollte. Letzterer Aspekt kommt im vorliegenden Buch zu kurz, aber dennoch markiert es in seiner klug durchdachten Argumentation die zentrale Spitze, wofür sich christliches Handeln engagieren sollte: Christentum hat das (kapitalistische) Ganze unseres Zusammenlebens anzufragen und zu kritisieren, denn nichts ist göttlich vom Himmel gefallen – ein Plädoyer, das mehr denn je wichtig für Kirche und Christenmenschen im Zeitalter der Vielfachkrisen ist.
Tobias Foß