Einen leichten Stand hatte der Apostel Paulus noch nie, weder bei den Zeitgenossen, die ihm mit Skepsis, Neid oder offener Anfeindung begegneten, noch bei den Späteren, denen seine Briefe als „schwer verständlich“ erschienen. Bis auf den heutigen Tag neigt das Lesepublikum der paulinischen Texte dazu, lieb gewonnene Missverständnisse zu hegen und zu pflegen. Damit räumt das Buch von Günter Unger auf, zumindest in den fünf dringlichsten Fällen.
Das Redeverbot für Frauen (die „Weiber“ sind zu Recht aus allen jüngeren Revisionen verschwunden) in 1. Kor. 14,34-35 erweist sich nicht nur als ärgerlich, sondern vor allem als widersprüchlich: Die im Gottesdienst öffentlich betenden und prophetisch redenden Frauen in 1. Kor. 11 und die mit Schweigen belegten Frauen in 1. Kor. 14 stehen einander frontal gegenüber – im Zusammenhang ein und desselben Briefes. Diese Aporie löst sich am einfachsten auf, wenn man das Schweigegebot als spätere Korrektur versteht und zwischen beiden Passagen eine Geschichte erkennt, die bei kühnen Aufbrüchen beginnt und wieder zu gewohnten Konventionen zurückkehrt. Noch stärker würde ich an dieser Stelle Gal. 3,28 betonen, denn grundsätzlicher als bei der Taufe kann man nicht ansetzen. Deutlicher würde ich auch den Wechsel der ekklesiologischen Leitbilder markieren: Gemeinde als vitaler Organismus besetzt die Funktionen nach Fähigkeit oder Charisma; Kirche als „Haus Gottes“ folgt einem hierarchischen, patriarchalen Modell.
Den breitesten Raum nimmt Röm. 13,1-7 ein. Kann es sein, dass Paulus dem römischen Imperium eine Art „Gottesgnadentum“ zugesteht? Im Gegenteil: Röm. 13,1 ist nicht Ausdruck einer göttlichen Überhöhung staatlicher Macht, sondern Ausdruck ihrer Depotenzierung. Auch der Kaiser verdankt seine Position nur der Anordnung Gottes. Man muss schon genauer hinschauen, um diese Spitze wahrzunehmen. Aber vermutlich hatte Paulus auch gute Gründe, in einem Brief nach Rom eher „durch die Blume“ zu sprechen als den gerade aufblühenden Kaiserkult frontal anzugreifen. Die Gemeinde wird die figurative Rede des Apostels wohl verstanden haben. Erst die folgenden Generationen, die vom vierten Jahrhundert an unter christlichen Kaisern leben, vermeinen hier die göttliche Autorisierung weltlicher Herrschaft zu finden.
Der dritte Fall schließt mit Röm. 13,8 unmittelbar an den vorherigen Abschnitt an, wobei das Missverständnis allerdings weniger brisant ist. Denn dass man einander gerade die Liebe schuldig bleiben solle, wird kaum jemand aus diesem zugegebenermaßen holprigen Satz schließen wollen: Die Liebe (Agape) als die vom Willen gesteuerte, positive Zuwendung, übertrifft und relativiert alle anderen Verpflichtungen. Darin ist die Erfüllung der Tora beschrieben – und zugleich die polemische Spitze aus Röm. 13,1-7 aufgenommen: Die Agape gilt dem Nächsten unterschiedslos, selbst dem „Feind“, und im Konfliktfall auch der staatlichen Macht. Vorsichtiger wäre ich allerdings mit der „Freiheit vom Gesetz“ und besonders mit der problematischen Wortbildung „gesetzesfrei“: Die Tora bleibt für Paulus die gute Weisung Gottes, von der niemand befreit werden muss; vielmehr befreit Christus von der (berechtigten) Anklage, welche die Tora gegen den Menschen in seiner gestörten Gottesbeziehung erhebt. Deshalb gehört sie auch nach wie vor nicht in die Schublade, sondern auf das Lesepult.
Die Klärung, Paulus rede in 1. Kor. 7,1 nicht einer generellen Enthaltsamkeit das Wort, sondern zitiere eine (abzuweisende) Parole der Korinther, lässt sich gut begründen. Dennoch vertritt der Apostel in 1. Kor. 7 noch mehrfach die Position, Enthaltsamkeit sei besser als sexuelle Gemeinschaft. Diese Position lässt sich nur in ihrem zeitbedingten Kontext und in ihrer begrenzten Reichweite verstehen. In 7,29-31 schlägt das Herz des ganzen Kapitels besonders vernehmbar, denn hier formuliert Paulus seine hoch gespannte Naherwartung, die alles andere zweitrangig macht. Verwerflich ist Sexualität keinesfalls, nur gibt es für Paulus Gründe, unter den gegebenen Umständen auch darauf verzichten zu können. Mit der Parusieverzögerung werden diese Gründe dann wieder hinfällig. Zurück bleibt die Einsicht: Die Paarbeziehung ist der Beziehung zu Christus nachgeordnet.
Dass Paulus nicht meint, die Liebe sei so etwas wie naive Gutgläubigkeit, lässt sich aufgrund seiner scharfsinnigen Argumentationen anderweitig auch schon vermuten. Deshalb hilft in 1. Kor. 13,7 bei dem Wörtchen „panta / alles“ vor allem der Akkusativ der Beziehung weiter, der zu der Übersetzung führt: „Die Liebe … umschließt alles bergend, bringt in jeder Lage Vertrauen auf, hat bei allem (immer noch) Hoffnung, bleibt in jeder Situation mittragend dabei.“ Der Abschnitt und mit ihm das ganze Buch schließt: „Vermutlich würde Paulus dem zustimmen.“ Ich denke, nicht nur Paulus.
Übersetzungsfehler und eingespielte Auslegungsmuster hängen den Texten mitunter derart hartnäckig an, dass sich eine kritische Rückfrage gar nicht erst einstellt. Hier plädiert Günter Unger nachdrücklich für ein neues Problembewusstsein. Es stört vermeintlich feststehende Überzeugungen auf und besichtigt (in großer Breite und Materialfülle) die widersprüchlichen Debatten zur Sache. Über Einzelheiten kann man weiter diskutieren. Aber das gelingt am besten, wenn man zunächst noch einmal einen Schritt zurücktritt und neu ansetzt. Dafür bietet das Buch viele überraschende Beobachtungen und hilfreiche Anregungen.
Christfried Böttrich