60 Jahre nach dem Deutschlandbesuch Martin Luther Kings legt Michael Haspel, apl. Prof für Systematische Theologie an den Universitäten Erfurt und Jena, eine „Biografie“ Kings vor. Er zeichnet auf verschiedenen Ebenen die theologische Fundierung und Entwicklung Kings nach, verbindet diese mit historischen und soziologischen Analysen, beschreibt politische Strukturen, die Kings Leben, Handeln und Denken beeinflusst und geprägt haben. Er will King nicht „als unfehlbaren Helden erinnern …, sondern als einen mutigen Menschen, der viel für die Gesellschaft bewirkt hat, auch wenn er fehlbar und nicht perfekt war“ (221).
Haspel beschreibt detailliert die theologischen Linien, die sich durch Kings Ansprachen, Predigten ziehen: „Gerechtigkeit als Folge der Liebe. Alle Menschen als Gottes Kinder sind gleich. Deshalb steht allen Freiheit und Gerechtigkeit zu … (Verweise auf Am. 5,24: Gerechtigkeit soll das Land erfüllen…, und Lk. 10: Barmherziger Samaritaner… – JLB). Und das unerschütterliche Vertrauen, dass Gott Gerechtigkeit für alle schaffen wird.“ (218) Damit wird deutlich, dass „Kings Kampf … für politische Freiheit und soziale Gerechtigkeit in seiner religiösen und spirituellen Haltung verwurzelt (ist).“ (11)
In vierzehn Kapiteln, die den vierzehn Kalenderjahren der öffentlichen Wirksamkeit Kings entsprechen, entfaltet und bilanziert Haspel fundiert und belesen Kings Lebenswerk, seine privaten Tragödien, seine charismatische Persönlichkeit, seine spirituelle Prägung (Kap. 3: Nomen est omen? Spirituelle Herkunft und theologische Prägung), theologische Wurzeln (Kap. 6: Rassismus als Sünde. Gottebenbildlichkeit und Gotteskindschaft als Begründungen der Gleichheit aller Menschen, und Kap 10: Erlösende Liebe und befreiendes Leiden). Dabei werden Entwicklungen ebenso wie durchgehende Motive erkennbar. Martin Luther King, der ausgehend von einer Protestaktion (Busboykott in Montgomery) über Mobilisierungsaktionen zum „Organizing“ (67) kam, hat immer mit den Konzepten der Gotteskindschaft und der Gottesebenbildlichkeit argumentiert – um zunehmend die wirtschaftlichen Ursachen (und Folgen) der Segregation und Armut eines großen Teils der amerikanischen Bevölkerung bei gleichzeitigem Reichtum einiger weniger anzuprangern. Die theologische Fundierung bleibt gleich, wenn „sich auch die Ziele und Methoden (ändern). Das Fortschreiten seines Engagements für die Bürgerrechte hin zu den Menschenrechten ist bei King konsequent auf einer Denk- und Argumentationslinie angelegt“ (224). Seine Argumentation gegen den Vietnamkrieg verbindet eine pazifistische Grundhaltung mit einer Analyse der Folgen einer Kriegsbeteiligung für die sowieso Benachteiligten (die Argumentation dafür zeichnet Haspel in Kap. 12 differenziert nach).
Nicht nur hier sehe ich eine Stärke des Buches: differenzierte Analyse von Originaltexten, die systematisch die Kernpunkte der Argumentation Kings darstellt und mit kritischen Anmerkungen nicht spart. Und – für eine wissenschaftlich angelegte Untersuchung durchaus bemerkenswert – die Person Haspel ist in seinen Texten erkennbar, er kann „ich“ schreiben, versteckt sich nicht in wissenschaftlichen „Man-Formulierungen“.
Zurück zum Inhalt: Haspel legt überzeugend dar, dass für King Liebe und Gerechtigkeit zusammengehören. Dass die ihn tragende christliche Botschaft nicht individualistisch verkürzt werden kann und auch nicht als Vertröstung zu verstehen ist: „die spirituelle und sozialethische Dimension des Evangeliums (sind) untrennbar verbunden“, „leibliche … und geistliche Dimension … gehören zusammen“ (19). In beiden Dimensionen geht es um die Liebe (agape), „welche eine verändernde Kraft zum Positiven hat“ (37).
Kap. 10 (Erlösende Liebe und befreiendes Leiden) greift eine „zentrale wie umstrittene Kategorie in Kings Theologie“ (153) auf. Kennzeichnend bei King ist, dass Leiden nicht gerechtfertigt wird, dass der gewaltlose Widerstand gegen Unterdrückung und Erniedrigung der Schwarzen/People of Colour (zunehmend nimmt King auch die Weißen Armen in den Blick) gerechtfertigt und notwendig ist. Aber: Leiden kann „durch an Agape orientiertes, gewaltfreies, auf Gerechtigkeit gerichtetes Handeln verursacht werden“ (154). Solches Leiden ist „redemptive suffering“ – nicht intendiert, aber zu akzeptieren (vgl. 156ff), und kann transformativ wirken. Differenziert zeigt Haspel die unterschiedlichen Bedeutungsnuancen von „redemptive“ auf, die mit „erlösend“ nur teilweise wiedergegeben werden. In diesem Kapitel findet sich auch die Auseinandersetzung mit der Theodizeefrage, die „nicht im Mittelpunkt“ (154) von Kings Denken steht.
Im vorangestellten Motto von Ira Berlin wird Haspels Interesse an Kings Denken, Leben und Handeln erkennbar: „In der Geschichtsschreibung … geht es letztlich um uns.“ (Deckblatt). Kap. 14 beschreibt „Das Vermächtnis Martin Luther Kings als Zumutung und Herausforderung“. Verzerrungen im „ikonischen“ Bild von King verkürzen, so Haspel, die Zumutung: Rassismus und soziale Ungerechtigkeit sind nicht Probleme der (ausschließlich amerikanischen) Vergangenheit, die Kings heroischer Einsatz überwunden hat. „Teilhabegerechtigkeit“ ist noch lange nicht erreicht. Umso wichtiger ist, die von King in seiner letzten Phase „zunehmend verzweifelt (bekämpfte) strukturelle, vor allem ökonomische Benachteiligung … und die soziale Segregation“ (223) zu benennen und auch in der bundesrepublikanischen Wirklichkeit zu identifizieren. Dazu gehört auch zu „sensibilisieren für die zusammenhängenden Übel von Rassismus, Armut und Krieg“ (229) und die Ermutigung „in den Konflikten unserer Gegenwart der Versuchung zu Anpassung oder Schweigen zu widerstehen und stattdessen schöpferische Unangepassheit zu wagen und Zivilcourage zu zeigen“ (229 – Zitat von Grosse). Evangelium nicht individuell zu verengen, sondern auch als gesellschaftspolitische Orientierung an der Liebe, die Folge der Gottebenbildlichkeit ist, dazu ruft Haspel mit seinem Buch über King auf.
Ich habe das Buch im September 2024 gelesen: 2½ Jahre nach dem Beginn des Krieges gegen die Ukraine, ein knappes Jahr nach dem Überfall der Hamas auf Israel, kurz nach den Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg mit den Gewinnen der AFD und des BSW, während der Eskalation des Nahostkonflikts (Bombardierung und Bodeninvasion des Libanon, Zerstörungen in Gaza, Selbstmordattentate in aller Welt, Raketenangriffe des Iran).
Kings Überlegungen zu Pazifismus sind ein wichtiger Impuls, ebenso sein Insistieren auf die Gottebenbildlichkeit allerMenschen. Allerdings können Kings Theologie und seine Handlungen nicht eins zu eins auf Herausforderungen im Jahr 2024 übertragen werden. Wir können uns aber „von seiner Spiritualität, seiner Theologie und seinen politischen Analysen inspirieren lassen, Rassismus und Ungerechtigkeit in unserem eigenen Kontext zu analysieren, unsere eigene Verstricktheit anzuerkennen und gegen Rassismus und Ungerechtigkeit aktiv zu werden“ (227), dazu und dabei die eigene geistige, geistliche und soziale Wohlfühlzone verlassen – auch wenn das nicht leichtfällt (228).
Michael Haspel legt ein gut lesbares Buch vor, das durch Quellenstudium und systematische Darstellung ebenso wie theologischen und (gesellschafts-)politischen Analysen gleichzeitig überzeugt. Martin Luther King wird weder als Held noch als Loser dargestellt, seine Erfahrungen mit den „dunklen Seiten“ (Depression, Alkohol, Affären) sind benannt; seine Suche nach redemption/salvation/deliverance (religiöse Erlösung und physische bzw. politische Befreiung) ist darin eingewoben.
Joachim L. Beck